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Der berühmteste Penis der Kunstgeschichte

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Der Penis hat, in der Art des altrömischen Gottes Janus, zwei Gesichter: ein langweiliges, weil schlaff hängendes, und ein aufregendes, weil markant aufragendes. Dieses Vermögen, sein Gesicht – und damit seinen Charakter – von Grund auf und je nach Bedarf zu wechseln, verleiht ihm nicht nur Charisma, sondern auch einen Hauch von Geheimnis. Denn jedes Geheimnis ist janusköpfig.

Umso erstaunlicher, dass der Penis es allein in Gestalt des schlaffen Würstchens zu ästhetischem Ruhm gebracht hat. Phalli kommen, zumindest seit der griechischen und römischen Antike, in der abendländischen Bildenden Kunst nicht vor. Selbst der patriarchalische Wahn der alten Griechen ging nicht so weit, den idealen nackten Männerkörper, der für sie ohnehin ein Knabenkörper war, mit erigiertem Penis darzustellen. Zumindest sind solche Werke nicht überliefert. Hingegen gibt es unzählige antike Darstellungen von Phalli, mit denen göttliche oder halbgöttliche Gestalten im Gefolge des Weingottes Dionysos ausgestattet sind, voran der bocksfüßige Hirtengott Pan oder die Fruchtbarkeitsgötter Priapos, Satyr und Silen.

Die klassischen griechischen Darstellungen von nackten Göttern und Heroen, etwa eines Ares, Herakles, Theseus oder Achilles, zeigen nicht nur keinen Phallus, sondern lassen den Heldenpenis knabenhaft klein, ja geradezu winzig erscheinen. Dem Heroismus des Helden tut das keinen Abbruch. Der Held selbst ist die Erektion; er verkörpert das Phallische in Gestalt des Kämpfers und Kriegers. Das ist auch der Grund, wieso der antike griechische Heros fast ausnahmslos nackt dargestellt wird: Man erkennt ihn an seinen typischen Waffen-Insignien und an seiner Nacktheit. Das ist insofern verwunderlich, als der nackte Körper so gar nicht zum Krieger passt; diesen verlangt es nach einer schützenden Rüstung.

Die Darstellung eines nackten Mannes mit erigiertem Penis verbietet sich in der Kunst, und dies gewiss nicht nur aus Gründen der Scham, sondern ebenso aus Gründen der Ästhetik. Nicht, dass der Phallus an sich hässlich wäre, nein, er kann sogar schön oder zumindest wohlgestaltet sein. Doch selbst der schönste und stolzeste Phallus würde die nackte männliche Gestalt, gerade wo sie als Skulptur ein klassisches Ideal verkörpern soll, ins Lächerliche ziehen. Nicht nur, dass der Anblick Anstoß erregte – der harmonische Gesamteindruck der Figur wäre auf groteske Weise gestört. Denn das Groteske ist letztlich nichts anderes als entstellte Harmonie. Diesen verzerrenden, die Harmonie störenden Effekt kennt man auch von stark abstehenden Ohren, zu Berge stehenden Haaren oder extrem großen Nasen. An einem Körper darf nichts übermäßig abstehen, wenn er dem herrschenden Schönheitsideal entsprechen soll.

Das Groteske ruft im Betrachter drei grundlegende Reaktionen hervor, die sich mit unserem ästhetischen Empfinden nur schwer vereinbaren lassen: Zuerst ein Erstaunen, das sich bis zum Erschrecken steigern kann, dann ein Gelächter, das sich mit Hohn und Spott vermischt, und schließlich ein Abscheu, der im Ekel endet. Gewiss, das Groteske im Allgemeinen und die Groteske im Besonderen sind der Kunst nicht fremd, doch ein Künstler, der mit seinem Werk weder Erschrecken, noch Gelächter und vor allem keinen Ekel erzeugen will, wird das Groteske meiden.

Der steife, grotesk abstehende Penis störte aber nicht nur das äußere Gleichmaß der Figur, sondern er zerstörte über die männliche Geilheit, für die er steht, auch ihr inneres Gleichgewicht. Dem Bild oder der Skulptur eines nackten erigierenden Mannes fehlte jedes Geheimnis. Vom Geheimnis aber lebt alle zählende Kunst. Kunst ist Illusion – und das Geheimnis ist die höchste Form der Illusion. Eine Erektion jedoch ist die Desillusionierung schlechthin. Bei der künstlerischen Darstellung eines nackten Mannes mit erigiertem Penis wüsste man sofort alles über den momentanen inneren Zustand des Dargestellten: Der Mann ist geil, und sonst nichts. Da ist kein Platz mehr für Geheimnis und Illusion.

Daraus folgt mit zwingender Notwendigkeit, dass eine künstlerisch ernstzunehmende Darstellung des nackten männlichen Körpers keine Erektion erlaubt. Das Männlichste am Mann wird von den Musen, den Hüterinnen einer harmonischen Ordnung, entschieden zurückgewiesen. Vom Phallus wenden sie sich ab mit Grausen. Hinzu kommt, dass der öffentliche Raum, zu dem auch die Räume der Museen zu zählen sind, den Phallus trotz allgemeiner Sexualisierung unseres Alltags nicht duldet. Ein erigierter Penis hat noch immer das Potential, zu erregen – voran das öffentliche Ärgernis.

Selbst ein großer schlaffer Penis ist aus ästhetischen Gründen in der Kunst problematisch; auch er stört die Harmonie des nackten Männerkörpers, wenn auch weniger massiv als ein erigierter. Dies mag auch der Grund sein, wieso man es in der Kunstgeschichte bei Darstellungen nackter Männer fast ausnahmslos mit bescheidenen Knabenpenissen zu tun hat. Eine berühmte Ausnahme stellt Albrecht Dürer (1471 – 1528) mit seinem kleinformatig gezeichneten Selbstporträt als Akt dar, von ihm selbst als »nackett pild« bezeichnet. Das zweifellos sehr intime Selbstbildnis zeigt uns das beachtliche Gemächt des genialen Künstlers – in schlaffem Zustand, versteht sich. Das Kunstwerk besticht durch seine natürliche, völlig unverkrampfte Schamlosigkeit. Man fragt sich, ob diese zu halten gewesen wäre, wenn Dürer sich mit erigiertem Penis gezeichnet hätte. Ein Tabubruch war es so oder so. Das wusste auch Dürer, weshalb er dieses kleine, aber ausdrucksstarke Werk nie aus den Händen gab.

An Dürers Tabubruch wagte sich die bildende Kunst erst wieder an der Wende zum 20. Jahrhundert heran, allerdings mehr von der weiblichen Seite her, wenngleich ein Maler wie Egon Schiele (1890 – 1918) immerhin einige Selbstbildnisse als nackter Mann mit schlaffem Penis geschaffen hat. Hingegen zeigt Schiele – wie auch sein Lehrer Gustav Klimt (1862 – 1918) – in meisterhaften Zeichnungen und Skizzen masturbierende Frauen in Serie, doch niemals sexuell erregte Männer! Denn anders als beim Mann, bleibt der Körper einer sexuell erregten Frau äußerlich weitgehend unverändert, weshalb es, die Ästhetik des nackten Frauenkörpers betreffend, vollkommen unerheblich ist, ob ein Künstler eine sexuell erregte oder sexuell unerregte nackte Frau darstellt. Ihre Nacktheit ist in beiden Fällen die gleiche. Beim Mann hingegen stört auf einmal ein sperrig sich ins Blickfeld drängender, den Blick absorbierender Gegenstand.

Von den großen Malern der jüngsten Moderne hätte man am ehesten einem Lucian Freud (1922 – 2011) zugetraut, dass er in der einen oder anderen seiner zahlreichen Darstellungen nackter Männer einen zumindest halbwegs erigierten Penis zeigt. Doch auch der malende Enkel Sigmund Freuds ging dieses Wagnis nicht ein; zumindest ist ein solches Werk bislang nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Sein Oeuvre zeigt in schamloser Draufsicht zwar jede Menge Penisse, aber keinen einzigen in phallischer Hochform, ja nicht mal auf dem Weg dorthin.

Immerhin gelang es im Jahre 1963 dem deutschen Maler Georg Baselitz mit zwei Gemälden (Die große Nacht im Eimer und Nackter Mann) ein öffentliches Ärgernis zu erregen, weil auf ihnen masturbierende Männer zu sehen waren. Die Werke wurden von der Polizei aus einer Galerie heraus beschlagnahmt. Es kam zur Gerichtsverhandlung, doch das Verfahren wurde schließlich eingestellt, da man dem Künstler nichts »Böswilliges« nachweisen konnte.

Michelangelos David

Die berühmteste künstlerische Darstellung eines nackten Mannes ist gewiss Michelangelos Marmorstatue des biblischen David, die der Künstler zwischen 1501 und 1504 geschaffen hat. Zu bestaunen ist sie in der Galleria dell’Accademia in Florenz. Bis zum Jahre 1873 stand sie auf dem Platz vor dem Palazzo Vecchio. Ihren Ruhm verdankt die Skulptur nicht zuletzt ihrer monumentalen Größe: Sie ist, ohne den Sockel, auf dem sie steht, über vier Meter hoch! Dargestellt ist David in jenem Moment, da er sich dem Riesen Goliath zum Zweikampf stellt. Darüber berichtet die Bibel im Ersten Buch Samuel. Michelangelo, und das ist das Verblüffende, gestaltet David selbst als Riesen mit ungefähr jener Körpergröße, die die Bibel für Goliath nennt: »sechs Ellen und eine Handbreit«, was ungefähr vier Meter sind. Dieser riesenhafte David oder David-Riese erscheint als Inbegriff männlicher Schönheit, männlicher Kraft, männlichen Willens und männlichen Zorns. Als stünde er mit der geballten Kraft seiner phallischen Existenz im Zentrum der Welt. Seine männlichen Eigenschaften stehen allerdings in einem krassen Gegensatz zum biblischen David, wie er uns im heiligen Buch als halbwüchsiger Schafhirte ohne alle Potenzattribute vorgestellt wird. Dort heißt es lapidar, er sei »bräunlich, mit schönen Augen und guter Gestalt«. (Samuel, Kap. 16, Vers 12)

Dass Michelangelo die biblische Figur eines Hirtenknaben in einen erwachsenen Mann im Zenit seiner Virilität verwandelt, muss verwundern. Knabenhaft ist an seinem David nur der Lockenkopf, der in der antiken griechischen Männerskulptur als Symbol jugendlicher Tatkraft dient. Die Steinschleuder, die er sich lässig über die linke Schulter gelegt hat, passt nicht zum dargestellten Typus des heroischen Mannes, sie wirkt als Davids einziges Erkennungszeichen weit hergeholt und irgendwie aufgesetzt in der Art eines Hinweisschilds: Hier sehen Sie, wegen der Schleuder, keinen Anderen als David! Ohne dieses Symbol käme wohl niemand auf den Gedanken, im Dargestellten den biblischen David zu vermuten.

Dabei stört die Steinschleuder massiv die Heroen-Aura. Denn zum Heros antiker Prägung gehört entweder das gezogene Schwert oder der in den Boden gepflanzte Speer oder, im Falle des Herakles, die geschwungene Keule: alles phallische Symbole einer aggressiven männlichen Potenz, wie sie in den antiken Heroen-Darstellungen ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Die Schleuder ist alles andere als phallisch; sie mutet in ihrer rundlich-weichen Form eher weiblich an. Davon abgesehen ist sie aus Heroensicht absolut inakzeptabel: die typische Distanzwaffe für Halbwüchsige und Feiglinge. Ein Heros wirft nicht mit Kieselsteinen; er stellt sich dem Kampf Mann gegen Mann. Und wenn er schon meint, etwas werfen zu müssen, dann ist es der Speer. Von daher erscheint die Steinschleuder auf Davids Schulter geradezu als Persiflage der klassischen griechischen Ikonographie des Helden.

Dabei erkennt der unbedarfte Betrachter die leicht zu übersehende Schleuder gar nicht als solche. Er sieht in dem schlaff hängenden Gebilde eher ein übergeworfenes Tuch. Dieser nackte junge Mann könnte, das Handtuch lässig über die Schulter gelegt, geradewegs aus einer Sauna kommen. Die typischen Utensilien eines Schafhirten, die in der Bibel auch eigens benannt werden, lässt Michelangelo weg: die Hirtentasche, in der David »fünf glatte Steine aus dem Bach« verstaut hat, und den Hirtenstab. Und was er vor allem weg lässt: die Bekleidung. Natürlich wusste Michelangelo, dass Hirtenjungen auch in biblischen Zeiten nicht splitternackt durch die Gegend gelaufen sind. Und erst recht gilt das für einen Schafhirten, der sich anschickt, einen Riesen von Mann und gefährlichen Krieger zum Zweikampf herauszufordern, zu dem es, durch die tödliche List des Knaben, nicht kommen wird.

Damit ist eines klar: Michelangelo geht es gar nicht um die Darstellung des biblischen David. Er benutzt ihn nur als literarisches Vehikel. In Wahrheit geht es ihm um nichts anderes als um die Darstellung nackter männlicher Schönheit – und dies in der Tradition der klassischen Antike. Diese Schönheit repräsentierte, neben dem Knabenkörper, vor allem der athletische Körper des gottgleichen Heros. Einen solchen haben wir in Michelangelos David vor Augen, freilich um den Preis einer absichtlichen Verfehlung des Themas durch den genialen Künstler. Der Dargestellte ist zweifellos ein schöner, kraftvoller junger Mann, aber nie und nimmer ist er der biblische David. Das, so ist zu vermuten, war auch Michelangelo klar.

Das Rätsel um Davids Vorhaut

Michelangelos Verfehlung des Themas war pure Absicht, und diese erweist sich vor allem an Davids Penis. Das setzt allerdings voraus, dass man diesen sehr genau betrachtet, mehr noch: ihn buchstäblich unter die Lupe nimmt. Zu diesem Penis (samt Skrotum) kehrt der schweifende Blick des Betrachters, wie magnetisch angezogen, immer wieder zurück. Er ist das heraus- und hervorragende energetische Zentrum der Figur, eben weil es das sexualenergetische Zentrum des Mannseins ist.

An Davids Penis bestätigt sich die These, dass mit dem Dargestellten, Schleuder hin oder her, nicht der biblische Hirtenjunge und spätere König der Juden gemeint sein kann. Denn die fotografische Vergrößerung offenbart, dass dieser Penis unbeschnitten ist und somit nicht der Penis eines Juden sein kann. Oder anders gesagt: Michelangelos David ist ein Jude mit Vorhaut – und damit eine paradoxe Figur. Was sich Michelangelo dabei gedacht hat, wissen wir nicht. Es kann gut sein, dass er sich gar nichts gedacht hat. Vielleicht, dass ihm die Vorhaut einfach so von der Hand gegangen ist, weil ihm die Jüdischheit Davids nicht bewusst oder einfach nicht so wichtig war – der klassische Fall einer verdrängenden Fehlleistung. Vorstellbar wäre immerhin, dass das Christentum der Hochrenaissance, nach Jahrhunderten der Feindschaft zu den Juden, zumindest auf der religiösen Ebene verdrängend vergessen hatte, dass die großen Identifikationsfiguren der Bibel, Jesus inbegriffen, Juden waren, mehr noch: dass die Bibel, mitsamt dem Neuen Testament, ein jüdisches Buch ist.

Selbstverständlich wusste Michelangelo, dass David als bedeutende Figur des Alten Testaments ein Jude war, aber seine David-Skulptur zeigt, dass auch er es nicht glauben wollte. Oder war Davids Vorhaut am Ende nur eine (unausgesprochene, aber selbstverständliche) Forderung der christlichen Auftraggeber, die Michelangelo zu erfüllen hatte? Streng genommen ist diese Vorhaut, wie Michelangelo sie zeigt, ein fauler Kompromiss: Sie bedeckt die Peniseichel nicht vollständig, sondern lässt deren Spitze hervorlugen. Aus der Distanz könnte man meinen, es mit einem beschnittenen Penis zu tun zu haben. Selbst bei Fotos in Großaufnahme muss man schon sehr genau hinsehen, um den fein herausgearbeiteten Vorhautrand zu erkennen. Irgendwie macht diese Vorhaut den Eindruck, als wäre sie halb beschnitten. Als Arzt würde man vielleicht sogar eine Vorhautverengung (Phimose) diagnostizieren, die aus medizinischen, nicht aus religiösen Gründen eine Beschneidung nötig machen würde.

Michelangelos David – um die Paradoxie des Dargestellten weiterzuspinnen – ist der Jude, der keiner sein darf. Sonst könnte sich ja kein Christ mit der Figur identifizieren. Er wird von Michelangelo mittels der dargestellten Vorhaut nachträglich christianisiert, freilich nur halbherzig in Gestalt einer ›halbherzigen‹ Vorhaut. Wenn man so will, dann hat Michelangelo seinen David gezwungen, zum Christentum überzutreten. Er lässt an seinem David jenes Wunder geschehen, das einem wirklichen Juden, der zum Christentum konvertierte, versagt bliebe: dass ihm die Vorhaut wieder nachwächst. Dieser von Michelangelo als nackter Riese gestaltete Hirtenknabe tritt uns als ›der Unbeschnittene‹ gegenüber. Exakt als solchen schmäht der biblische David mehrmals seinen gefährlichen Feind. Der David Michelangelos hat sich, im Sinne Nietzsches, selbst in einen unbeschnittenen Goliath verwandelt: Wer gegen Riesen kämpft – bei Nietzsche sind es Drachen –, wird selbst zum Riesen.

Unabhängig von dieser religiösen Paradoxie der Davidfigur, die sich buchstäblich in ihrer Penisvorhaut zuspitzt, zeigt die gesamte David’sche Geschlechtspartie eine weitere, nämlich biologische Paradoxie: in Gestalt eines Knabenpenis über dem respektablen Skrotum eines erwachsenen Mannes. Dieses Mischensemble wird überdacht von einem regelrechten Gebüsch aus idealisiertem Schamhaar, das züngelnden Flammen ähnelt. Es wirkt wie aufgeklebt und dadurch irgendwie komisch. Es hat etwas von einer übertrieben gelockten Perücke am falschen Platz. Zusammen ergibt das ein ›Gemächt‹, bei dem man nicht so recht weiß, ob man es bewundern oder belächeln soll.

Und wie steht dieser David überhaupt da! Nun, er steht klassisch-griechisch da: im kokett-femininen Kontrapost, womit der harmonische Ausgleich zwischen Ruhe (des Standbeins) und Bewegung (des Spielbeins) gemeint ist – exakt jene Haltung, die für die griechischen und römischen Heroen-Statuen typisch ist. Doch in einer realen Kampfsituation wird sich kein Mensch so hinstellen.

Mit seinem David distanziert sich Michelangelo vom päderastischen Körperideal der alten Griechen, obwohl es vortrefflich zu einem Hirtenknaben passen würde. Doch er distanziert sich nicht mit letzter Konsequenz, eben weil er dem Knabenpenis treu bleibt und nur dem Skrotum und dem Schamhaar eine erwachsene Männlichkeit zugesteht. Nun kann man einwenden, dass auch so mancher erwachsene Mann einen knabenhaften Penis haben kann, der sich erst im Erigieren zu einem respektablen Mannsphallus auswächst. Dieser Einwand ist überzeugend, bekräftigt aber letztlich nur die These, dass wir es hier nicht mit dem biblischen Schafhirten David zu tun haben, sondern mit dem Mann an sich, und zwar in der vollen Blüte seiner Männlichkeit. Michelangelo hat sich für den kleinen Penis aus Gründen der klassisch-griechischen Ästhetik entschieden, vielleicht aber auch aus Gründen des christlichen Schamgebots. Immerhin sollte die Monumentalplastik auf dem belebten und repräsentativen Hauptplatz der Stadt Florenz aufgestellt werden. Seit dem Ende der Antike, das heißt seit über 1000 Jahren, wurde damit zum ersten Mal wieder eine monumentale Statue eines nackten Mannes auf einem öffentlichen Platz gezeigt – ein gewiss sehr heikles Unterfangen. Es heißt, dass es über die Jahrhunderte immer wieder zu Anschlägen, etwa Steinwürfen, gegen das Kunstwerk gekommen ist.

Tatsächlich verschwindet der ohnehin klein geratene Penis fast vollständig hinter dem Skrotum, sobald man als Betrachter direkt vor der Statue steht und von schräg unten, buchstäblich aus der Froschperspektive, auf sie blickt. In direkter Anschauung der David-Figur wird deren Männlichkeit weitaus stärker vom Skrotum und vom Schamhaar als vom Penis repräsentiert. Das Skrotum erscheint nicht als beutelartige, runzelige Hauttasche, sondern die Hoden sind von einer glatten, transparent wirkenden Haut überzogen, sodass sie fast wie bloßgelegt wirken und dadurch stärkste Präsenz erlangen. Davids ganzer Sexus steckt in diesen Hoden, während sich der zierliche Knabenpenis schamvoll dahinter versteckt.

Die Hoden, griechisch didimoi (Zwillinge), kokkoi (Beeren), kyamoi (Bohnen), orches (Oliven) oder sphairidia (Kügelchen), galten schon den alten Griechen als der eigentliche Sitz einer potenten erwachsenen Männlichkeit. Das bevorzugte Wort für ›männlich‹ war enorcha (hodig). »Der Same«, so meinte der antike, aus Griechenland stammende römische Arzt Galenos (129 – 199), »macht die Männer warm, gelenkig, haarig, tiefstimmig, hochgemut, stark im Denken und Handeln.« Das sind exakt die Eigenschaften, die Michelangelos David ausstrahlt – neben einigen anderen mehr. Davids Skrotum, nicht sein Penis, weisen ihn als ›ganzen Mann‹, als enorches aner, aus, wie die Griechen zu sagen pflegten: als ›Hodenmann‹. Und ein besonders potenter Mann wurde lapidorchas genannt: ›Hodenkönig‹. Einen solchen haben wir wahrhaftig in Michelangelos David vor Augen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Michelangelos David gleich in mehrfacher Hinsicht in sich widersprüchlich ist: Der Dargestellte ist ein Knabe (Lockenkopf, knabenhafter Penis), aber gleichzeitig ein erwachsener Mann (Schamhaar, Skrotum). Er ist ein antiker Heros (Nacktheit), aber ohne Heroen-Waffe; vielmehr trägt er die hinterhältige Waffe des Feiglings. Gleichzeitig ist er ein biblischer Schafhirte, aber ohne die typischen Attribute eines solchen. Der Dargestellte ist Jude (biblischer David), aber ebenso kein Jude (vorhandene Vorhaut). Das will alles nicht so recht zusammenpassen.

Ob Michelangelo mit seiner Skulptur wirklich den biblischen David gemeint hat, ist letztlich zweitrangig. Denkt man sich die überflüssige, weil antiheroische Schleuder weg, dann ist keine bestimmte Person mehr gemeint, sondern, wie schon gesagt, das Ideal der Männlichkeit. Das gilt nicht nur in körperlicher, sondern ebenso in geistiger Hinsicht. In Davids Gesicht spiegeln sich Mut, Willenskraft und Entschlossenheit; sie formen jene markanten Gesichtszüge, wie wir sie, grotesk überzeichnet und zur Maske erstarrt, in den faschistischen Kolossalplastiken wiederfinden. Dort verkehren sie sich in ihr Gegenteil und verweisen auf nichts anderes als männliche Impotenz, die kriegerisch kompensiert werden muss. Durch diesen leeren NS-Klassizismus, ja durch alle klassizistischen Nachahmungen, ist uns die Freude an Michelangelos monumentalem Meisterwerk tatsächlich ein wenig vergällt.

Nicht zuletzt gibt es noch ein Drittes, das, neben Gesicht und Skrotum, in besonderem Maß die Virilität der David-Figur bekundet und den Blick des Betrachters immer wieder auf sich zieht: die rechte Hand. Sie springt nicht nur wegen ihrer fast schon expressionistisch überzeichneten Größe ins Auge, sondern ebenso durch ihre eigenartig gekrümmte, dadurch einerseits gespannte, gleichzeitig aber auch lässige Haltung. Diese Hand ist auf fast schon magische Weise präsent: eine Hand, die ohne Geste auf eindringliche Weise gestisch wirkt. Als meisterhaft durchgearbeiteter Ausdrucksträger der Figur übertrifft sie in ihrer Intensität fast noch das Gesicht und tritt nicht nur in eine spannungsreiche Beziehung zu diesem, sondern viel mehr noch zum Penis. Dieser erscheint im Verhältnis zur Hand noch kleiner, als er eh schon ist. Man stelle sich nur vor, David würde mit dieser Riesenhand sein kleines Ding ergreifen! Es würde zwischen den großen Fingern nahezu verschwinden. Das Spannungsverhältnis zwischen Hand und Geschlecht wäre allerdings auch bei einer normal großen Hand gegeben, insofern die Hand als wichtiges ›Vollzugsorgan der Sexualität‹ eine besondere Beziehung zu den Genitalien hat: jene der Masturbation.

Doch um Masturbation geht es hier nicht. Vielmehr scheint sich die Libido, die Davids Knabenpenis entbehrt, in die Hand verschoben zu haben. Davids ganzer Eros steckt in dieser überdimensionierten rechten Hand; sie ist sein erotischster Körperteil. Sie verkörpert den männlichen Eros, den Davids enterotisierter und dadurch gelähmter Penis nicht haben darf. In dem Maße, wie sich der dem Penis abhanden gekommene Eros auf Davids rechte Hand verschoben hat, verschiebt sich auch das erotische Interesse des Betrachters auf diese Hand, die in ihrer Übergröße und Angespanntheit tatsächlich etwas Erigierendes an sich hat. Die Hand, so könnte man sagen, erigiert stellvertretend für den Penis, der nicht erigieren darf, vielleicht auch gar nicht dazu fähig ist. In dieser Hand konzentriert sich alle sublimierte Libido. Sie ist die schöpferisch erregte Hand des Künstlers, konkret: die Hand Michelangelos, die auf geniale Weise befähigt ist, den Trieb zu sublimieren und in unsterbliche Kunst zu verwandeln.

Und nun stelle man sich, um zum Anfang dieses Kapitels zurückzukehren, das Unvorstellbare vor: Dieser David präsentierte uns eine formvollendete, von Michelangelo meisterhaft ausgearbeitete Erektion! Von einer Sekunde zur nächsten würde die Statue den Schritt vom Erhabenen ins Lächerliche vollziehen – und das, obwohl der ideal gestaltete Phallus, für sich genommen, nichts Lächerliches an sich hätte. Doch es bliebe nicht bei der Komik, die genau genommen eine Situationskomik wäre. In diese mischte sich ein Erschrecken über die rohe Triebseite des Mannes, die sich mit der idealisierten, triebfernen Schönheit des Dargestellten nicht in Einklang bringen ließe. Der Phallus machte auf drastische Weise das Tier sichtbar, das der Mensch, bei aller Ebenbildlichkeit mit Gott, eben auch ist – aber nicht sein will.

Und so kommt endlich die These, die längst im Raum steht: Michelangelos David ist gar nicht David. Aber wer ist er dann? Der soeben verwendete Begriff der ›Ebenbildlichkeit‹ liefert uns eine mögliche Antwort: Vor uns steht Adam, der Ur-Mensch in seiner gottgleichen Riesenhaftigkeit. (Zu diesem passte, nebenbei bemerkt, auch der Stein als Waffe; er war die Distanzwaffe des Urzeit-Menschen.) Vor uns steht der gottgleiche Adam vor dem Sündenfall, der noch keine Eva hat und noch ganz dem Schöpfer gehört, dessen erster Sohn und Geliebter er ist.

Aber er ist noch mehr. Er ist auch Michelangelos Sohn und Geliebter. In seinem David, diesem Adam ohne Eva, kommt Michelangelos eigene Homosexualität zum Tragen, nicht anders als in seinem berühmten Sixtinischen Bildnis von der Erschaffung Adams mit den symbolträchtig sich berührenden Fingern, mit denen symbolhaft die Penisse gemeint sind. Mit seinem David schlägt Michelangelo, über die formale, klassisch-antike Ästhetik der Figur hinaus, den Bogen zur päderastischen Homosexualität der Griechen, die deren plastische Kunst so stark geprägt hat. In der antiken griechischen Homosexualität, so meinte der Psychoanalytiker Otto Rank (1884 – 1939), kommt »die Hochschätzung nicht so sehr der Sexualität, als ihres Produkts, des Sohnes, zum Ausdruck, in dem das eigene Ich und die eigene Seele weiterlebte […] das lebendige Abbild seiner eigenen Seele, die in einem möglichst körpergleichen (oder idealisierten) Ich materialisiert erscheint«. Auch Gott schuf sich in Adam kein rein geistiges Ebenbild. Vielmehr stellt Adam, dieser leibliche Sohn Gottes, eine ebenbildliche Widergeburt Gottes als rein ›körperliches Ich‹ dar. Und dieses ist ausschließlich im gleichen Geschlecht zu finden, das bei einem männlichen Gott nun mal das männliche ist.

Wenn Michelangelos David in Wirklichkeit Adam ist, dann schlüpft der geniale Künstler wie von selbst in die Rolle des Schöpfergottes. Der künstlerische ›Schöpfer-Gott‹ Michelangelo hat sich in der Kolossalstatue des David ein vollkommenes, individualisiertes Unsterblichkeitssymbol geschaffen. Für einen göttlich-genialen Künstler wie ihn ist die Homosexualität, wie bei den antiken Griechen auch, keine bloße Sache der Geschlechtlichkeit, sondern ein Bemühen um die Schaffung der eigenen Wiedergeburt als idealisiertes menschliches Ich. Und dieses Ideal ist der Sohn als Geliebter. Diesen geliebten ebenbildlichen Sohn, und niemand anderen, suchten die Griechen unbewusst in ihrer Knabenliebe. Der biblische David, »bräunlich, mit schönen Augen und guter Gestalt« ist dieser Sohn und Geliebte, den Michelangelo eigentlich meint. Aber er muss ihn, wie Gott, als ganzen Mann, als Adam gestalten, genauer: als heroischen Adam und Ebenbild Gottes. Hierfür hatten die Griechen die Bezeichnung Heros theos (Gottheros). Adam ist nicht nur der gottgleiche erste Mensch, sondern ebenso der erste Held – freilich ein tragischer, wie alle echten Helden. Denn Adam, und darin liegt seine Tragik, ist nicht nur idealer Gottheros, sondern ebenso das triebhafte Menschtier. Aus diesem Gegensatz erwächst das ganze Heroismusproblem des menschlichen Daseins: dieses ewige Scheitern an der Welt und an sich selber.

Um am Ende auf die oben imaginierte Erektion des David/Adam zurückzukommen: Wer genau hinsieht, wird mit etwas Fantasie zu Füßen der Figur eine Art von stellvertretender Erektion entdecken, jenen phallisch aufragenden, die Figur abstützenden Baumstrunk hinter Davids Standbein. Diese symbolische Erektion steht in einem deutlichen homosexuellen Bezug zu David/Adam, indem sie ganz unverhohlen auf sein Gesäß gerichtet ist. David/Adam müsste nur in die Hocke gehen – und schon wär’s passiert!

Und wer sehr genau hinsieht, wird in diesem Stellvertreter-Phallus sogar eine kleine, gleichsam aus der homosexuellen Verdrängung zurückkehrende Vulva entdecken.

Der Penis-Komplex

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