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Оглавление2 Bedürfnisse, Emotionen und Handeln – welche Motive und Gefühle unserem Handeln zugrunde liegen
Das folgende Beispiel mag als Ausgangspunkt für Überlegungen zum Zusammenhang von Bedürfnissen, Emotionen und Handeln dienen:
Frau Sang und Frau Rutig haben sich in ihren Berufen sehr bewährt. Beide verfügen über vergleichbare Kompetenzen und einen sicheren Arbeitsplatz. Sie fühlen sich dort wohl, sind in gleicher Weise der Firma verpflichtet und leben zudem in ähnlichen Familienverhältnissen. Frau Sang hat diese Lebenssituation allerdings erst nach vielen Unsicherheiten auf ihrem Lebensweg erreicht, während Frau Rutig mehr oder weniger wie selbstverständlich zu ihren jetzigen Lebensverhältnissen gekommen ist. Nun sucht eine – vor Kurzem gegründete – Firma in der Nähe eine qualifizierte Mitarbeiterin und fragt zunächst bei Frau Sang an, ob sie zu verbessertem Gehalt dort anfangen möchte. Diese lehnt jedoch nach einigen Überlegungen ab. Daraufhin wendet sich die Firma an Frau Rutig und diese sagt zu, obwohl sie zunächst ebenfalls einzelne Bedenken hatte.
Nehmen wir an, dass eine weitergehende Analyse des Handelns von Frau Sang und Frau Rutig zu ähnlichen Einschätzungen bezüglich der gegenwärtigen Lebenssituation, der gegebenen situativen Anforderung, des Wissensstandes und der intellektuellen Denkmuster sowie der sozial-moralischen Orientierungen bzw. Wertvorstellungen führt. In diesem Fall kann man annehmen, dass der bisherige Lebensweg und die damit verbundene Bedürfnislage eine besondere Bedeutung für das unterschiedliche Handeln der beiden Frauen haben: Die Unsicherheiten auf dem Lebensweg von Frau Sang lassen vermuten, dass bei ihr das Sicherheitsbedürfnis besonders ausgeprägt ist, während es für Frau Rutig weniger bedeutsam erscheint, und dass Letztere deshalb eher geneigt ist, eine neue Herausforderung anzunehmen. Zusätzlich mögen bei ihr die Bedürfnisse nach Kompetenzerweiterung und Anerkennung bei der Bewältigung einer herausfordernden Aufgabe ins Spiel kommen. Wie dem auch sei – der Schlüssel für ein Verständnis des unterschiedlichen Handelns liegt in diesem Fall vor allem in den unterschiedlichen Bedürfnislagen und damit verbundenen Gefühlen, die sich im Zusammenhang mit den jeweiligen Erfahrungen herausgebildet haben. Damit verweist das Beispiel noch einmal auf die Bedeutung von Bedürfnissen für menschliches Handeln und wirft die Frage nach ihrem spezifischen Stellenwert auf.
Bedürfnisse und Handeln
Bedürfnisse sind für viele Zusammenhänge bedeutsam: In der Erziehung ergibt sich die Frage, welche Bedürfnisse Kinder und Jugendliche haben und wie sie sich im Erziehungsprozess berücksichtigen lassen. Die Wirtschaft versucht herauszufinden, welche Bedürfnisse bei potenziellen Kunden vorliegen und welche Waren demgemäß produziert und angeboten werden sollten. In der Werbung wird überlegt, welche Bedürfnisse wie geweckt werden können, um neue Kaufanreize zu schaffen. Für Nachhaltigkeit und umweltfreundliches Handeln ist die Frage relevant, ob diese mit menschlichen Bedürfnissen in Einklang zu bringen sind. Im Medienbereich spielt der Gedanke eine große Rolle, wie man durch ein bedürfnisgerechtes Angebot hohe Nutzungszahlen bewirken kann. Mit Bezug auf die Gesundheit gilt es zu klären, ob sich ein gesundheitsförderliches Handeln auf menschliche Bedürfnisse gründen lässt. In der Politik stehen insbesondere für Parteien in Wahlkampfzeiten Entscheidungen an, welche Bedürfnisse in Wahlkampagnen angesprochen werden sollen, um möglichst hohe Stimmanteile zu erzielen.
In Korrespondenz zu solchen praktischen Anliegen geht es in der Wissenschaft um die Frage, welche Antriebe für menschliches Handeln allgemein angenommen werden können und welche Bedeutung ihnen zukommt oder zukommen sollte. Diese Frage spielt zum einen in der Philosophie mit Blick auf das Menschsein generell eine Rolle und stellt zum anderen bei der Suche nach Motiven für das Verhalten und Handeln von Menschen ein wichtiges Thema der Psychologie dar.
Zur Bedeutung von Bedürfnissen aus philosophischer Sicht
Immanuel Kant (1724–1804) geht als Philosoph der Aufklärung in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“7 davon aus, dass wir uns von Einflüssen der Sinnenwelt und subjektiven Bedürfnissen sowie Neigungen lösen müssen, um ein allgemeingültiges Prinzip für das Handeln bestimmen zu können. Nur wenn wir unabhängig von allen subjektiven Erfahrungen der reinen Vernunft folgen – so seine Auffassung –, gelangen wir zu einem objektiven Moralgesetz, das unser praktisches Handeln leiten soll: „Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Gleichzeitig nimmt er an, dass eine vollkommene Verwirklichung dieses kategorischen Imperativs zwar die beste aller Welten und Glückseligkeit beim Menschen hervorbrächte, dass dies im endlichen Leben aber wegen der Beeinflussung des Handelns durch subjektive Bedürfnisse und Neigungen sowie menschliches Begehren nicht erreicht werden kann. Menschliche Bedürfnisse verhindern – gemäß dieser Auffassung – den Weg zur Glückseligkeit im irdischen Leben.
Demgegenüber wendet sich Friedrich Nietzsche (1844–1900) als Wegbereiter postmoderner philosophischer Ansätze vehement dagegen, das eigentlich Menschliche vorwiegend oder gar ausschließlich von der Vernunft her zu konstruieren. Für ihn gehören Körper und Leidenschaft, Rausch und Lust (mindestens) ebenso zum Menschen wie Rationalität. Mit dem „Willen zur Macht“ als entscheidendem Antrieb sollen vernunftbasierte Prinzipien von Moral sowie Genügsamkeit und herkömmliche Tugend ebenso wie religiöse Gebote als orientierende Wertvorstellungen des „Durchschnittsmenschen“ überwunden und der neue „Übermensch“ geschaffen werden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Nietzsches Philosophie unter anderem zur Rechtfertigung der Nazi-Ideologie vom „Herrenmenschen“ herangezogen wurde – wenn eine solche Funktionalisierung auch gewiss nicht im Sinne Nietzsches war. Mit Blick auf Bedürfnisfragen kann man die Auffassung von Nietzsche in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“8 auch so ausdrücken: Nicht durch Unterdrückung von menschlichen Bedürfnissen, sondern (nur) durch deren Zulassung und Ausleben lässt sich Verlogenheit und Durchschnittlichkeit vermeiden, kann Altes überwunden sowie Neues geschaffen und ein besseres Leben erreicht werden.
Mit seinen Überlegungen repräsentiert Nietzsche das dionysische Prinzip, das neben dem apollinischen als ein Grundzug abendländischer Kultur gelten kann. Das dionysische Prinzip ist mit Bezug auf Dionysos, den griechischen Gott des Weines, der Fruchtbarkeit, der Freude und der Ekstase, durch Streben nach Lust, Sinnlichkeit und Rausch gekennzeichnet. Demgegenüber verweist das apollinische Prinzip mit Blick auf Apollon, den griechischen Gott des Lichts, der Heilung, der Reinheit und der Mäßigung, auf das Streben nach Einfachheit, Klarheit und Ordnung. In der europäischen Philosophie zeigt sich dieses Streben vor allem in idealistischen und rationalistischen Ansätzen – unter anderem bei Kant.
Das Begriffspaar „apollinisch – dionysisch“ wird zudem benutzt, um auf zwei gegensätzliche „Charakterzüge“ des Menschen zu verweisen, die sein Handeln in unterschiedlicher Weise beeinflussen können. Mit Bezug auf diese beiden „Charakterzüge“ kommen im Folgenden zunächst die „dionysischen“ Eigenschaften des Menschen in den Blick, wobei sich im weiteren Verlauf auch Bezüge zu „apollinischen“ Merkmalen ergeben.
Bedürfnisse aus psychologischer Sicht
Mit den oben skizzierten Gedanken nimmt Nietzsche manche Überlegungen von Sigmund Freud (1856–1939) vorweg, der als Begründer der Psychoanalyse bzw. psychodynamischer Persönlichkeitstheorien gilt. Freud geht von einer biologischen Basis für menschliche Verhaltensmuster aus und nimmt an, dass jeder Mensch Instinkte und Triebe besitzt, die Spannungen erzeugen und menschliches Handeln motivieren. Dabei unterscheidet er ursprünglich zwei grundlegende Triebe: den Drang zur Selbsterhaltung, der mit Bedürfnissen wie Hunger und Durst verbunden ist, sowie den Eros als treibende Kraft für Sexualität und Erhaltung der Art. In diesem Zusammenhang widmet er seine Überlegungen vor allem dem Sexualtrieb, den er allerdings auf alles Streben des Menschen nach Lust erweitert, wobei er auch von der Libido spricht und damit die psychische Energie meint, die Menschen dazu bringt, sinnliche Freuden verschiedener Art anzustreben. Der Eros als breit definierter Sexualtrieb wird dabei als wichtige Determinante für menschliches Handeln angesehen und zum Teil auch als Lebenstrieb bezeichnet. In manchen Schriften werden dem Eros als Lebenstrieb auch Todestriebe gegenübergestellt, die auf Selbstzerstörung und damit zusammenhängend auf Aggression und Destruktion gerichtet sind.9 Allerdings heißt dies keineswegs, dass die verschiedenen Triebdeterminanten dem Menschen bei seinem Verhalten und Handeln auch bewusst sind. Möchte man etwas über Ursachen für das Verhalten und Handeln von Menschen erfahren, sollte man sowohl nach bewussten als auch unbewussten Prozessen fragen. Das Handeln einer reifen Persönlichkeit setzt nach Freud letztlich eine Balance zwischen den Impulsen grundlegender Triebe und den moralischen Einstellungen bzw. Werten des Individuums voraus, sodass der Drang nach schnellem Lustgewinn in dem aufgehoben werden kann, was aus realistischer Sicht erreichbar, aus sozialer Sicht wünschenswert und aus moralischer Sicht akzeptabel ist.
Neben psychodynamischen Theorien der Persönlichkeit sind für Motiv- und Bedürfnisfragen vor allem humanistisch orientierte psychologische Theorien bedeutsam. Ein wichtiger Ansatz dazu geht auf den US-amerikanischen Psychologen Abraham H. Maslow (1908–1970) zurück.10 Maslow nimmt an, dass das Handeln des Menschen nicht durch einen – von vornherein als vorrangig eingeschätzten – Trieb erklärt werden kann und sollte, sondern durch den Blick auf mehrere Grundbedürfnisse, deren angemessene Befriedigung zu psychischem Wachstum führt. Mit dem Wachstum kann sich beim Menschen das Streben nach Selbsterfüllung immer stärker durchsetzen, wobei dies als konstruktiv-lenkende Kraft mit positiven Verhaltensweisen verbunden ist,
Maslow betont in seiner Arbeit „Motivation und Persönlichkeit“ zunächst, dass die bewusst wahrgenommenen Bedürfnisse des täglichen Lebens nicht selbst schon die eigentlichen Motive des Handelns sind, sondern Mittel zum Zweck der Befriedigung tiefer liegender Bedürfnisse. So entspricht zum Beispiel der Wunsch, über Geld zu verfügen, keinem originären Bedürfnis, sondern ist nur ein Ausdruck dafür, dass man beispielsweise sicher sein möchte, dass der eigene Lebensunterhalt garantiert ist oder dass man sich im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gruppe etwas kaufen kann, was andere auch besitzen, oder dass man gern die Möglichkeit hätte, sich etwas zu leisten, was anderen imponiert bzw. was einem Geltung und Anerkennung verschafft. So unterscheidet Maslow auf der Grundlage einer Differenzierung von Mittel und Zweck in der oben genannten Schrift folgende Grundbedürfnisse des Menschen:
(a) physiologische Bedürfnisse, z. B. die „klassischen“ Bedürfnisse Hunger, Durst und Sexualität sowie die Bedürfnisse nach Erregung und Aktivität sowie nach Ruhe und Schlaf;
(b) Sicherheitsbedürfnisse, z. B. die Bedürfnisse nach Stabilität und Geborgenheit, nach Schutz und Angstfreiheit, nach Ordnung und Struktur sowie nach Gesetz und Grenzen;
(c) Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe, z. B. die Bedürfnisse nach Kontakt und Verwurzelung in einer Gemeinschaft, nach Freundschaft und Zuneigung sowie nach engen und intimen Beziehungen;
(d) Bedürfnisse nach Achtung, z. B. die Bedürfnisse nach Anerkennung und Geltung, nach Kompetenz und Leistung, nach Stärke und besonderem Status sowie nach Dominanz und Ruhm;
(e) Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung, z. B. das Verlangen nach Aktualisierung der Möglichkeiten, die der Einzelne besitzt – sei es im sozialen, im sportlichen, im künstlerischen oder im wissenschaftlichen Bereich.
In sekundären Darstellungen des Maslow’schen Bedürfnismodells werden die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe auch unter dem Begriff der sozialen Bedürfnisse und die Achtungsbedürfnisse unter dem Begriff der Individualbedürfnisse zusammengefasst.
Außer diesen Bedürfnissen spricht Maslow noch das Verlangen nach Wissen und Verstehen sowie ästhetische Bedürfnisse an, bringt sie zunächst aber nicht direkt in die Struktur der Grundbedürfnisse ein, sondern sieht sie in Verbindung mit diesen. Dabei misst er ihnen eine große Bedeutung zu. Kognitive Antriebe, z. B. nach Erklärung, Wissen und Verstehen, sowie ästhetische Bedürfnisse, z. B. nach Ordnung, Symmetrie und Struktur, können zunächst zwar als Mittel verstanden werden, um Grundbedürfnisse, z. B. Sicherheits- oder Selbstverwirklichungsbedürfnisse, zu befriedigen; mit dieser Deutung ergeben sich jedoch noch keine zufriedenstellenden Erklärungen zum Stellenwert von Neugier, Lernen, Philosophieren oder Experimentieren. Vieles scheint für die Annahme zu sprechen, dass den kognitiven und ästhetischen Bedürfnissen – auch ohne ihre funktionale Bedeutung für die Befriedigung von Grundbedürfnissen – ein eigener Stellenwert zukommt, z. B. die Tatsache, dass die Bedürfnisse nach Sinneserregung und nach Erkundung der Umwelt auch ohne Bindung an physiologisch nachweisbare Überlebensbedürfnisse auftauchen und dass hässliche Umgebungen krank und schöne Umgebungen gesund machen können. Aus diesem Grunde nimmt Maslow eigenständige kognitive und ästhetische Antriebe beim Menschen an: Sie lassen sich selbst als Persönlichkeitsbedürfnisse wie die Grundbedürfnisse auffassen. Im Rahmen der Selbstverwirklichungsbedürfnisse kommen sie zu ihrer eigentlichen Entfaltung.
So verwundert es auch nicht, dass Maslow in einer letzten Arbeit, die er kurz vor seinem Tod verfasst hat, kognitive und ästhetische Bedürfnisse ausdrücklich in sein Modell einfügt, wobei er sie zwischen den Achtungsbedürfnissen und den Selbstverwirklichungsbedürfnissen ansiedelt. Außerdem nennt er als oberste Stufe noch das Bedürfnis nach Transzendenz, womit ein Bedürfnis nach Überschreitung des Selbst in Sphären gemeint ist, die über sinnlich Beobachtbares hinausgehen.11
Auch andere bedürfnistheoretische Ansätze mit humanistischer Grundhaltung gehen von Bedürfnissen aus, wie sie in ähnlicher Weise bei Maslow genannt werden. Dies gilt z. B. für Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Edward L. Deci (geb. 1942) und Richard M. Ryan (geb. 1953).12 Die Autoren unterscheiden bezüglich der Herkunft motivationaler Handlungsenergie beim Menschen physiologische Bedürfnisse, Emotionen und psychologische Bedürfnisse. Dabei sind die physiologischen Bedürfnisse vergleichbar mit natürlichen Trieben in anderen Motivationskonzepten oder mit den physiologischen Grundbedürfnissen bei Maslow. Mit dem Hinweis auf Emotionen wird zudem eine wichtige Komponente des Handelns ins Bewusstsein gehoben, wie sie auch bei Maslow – dort als zusammenhängend mit Bedürfnisbefriedigung oder Bedürfnisfrustration – zu finden ist.
Deci und Ryan widmen sich in ihrem Ansatz besonders den psychologischen Bedürfnissen. Diese unterteilen sie in
(a) Bedürfnisse nach Kompetenz oder Wirksamkeit,
(b) Bedürfnisse nach Autonomie oder Selbstbestimmung und
(c) Bedürfnisse nach sozialer Eingebundenheit bzw. sozialer Zugehörigkeit.
Bei allen Affinitäten zu den Maslow’schen Bedürfnisgruppen, erhält so das Bestreben des Menschen um Kompetenz oder Wirksamkeit sowie nach Autonomie oder Selbstbestimmung einen eigenen Stellenwert – und wird nicht mit den Bedürfnissen nach Achtung oder Selbstverwirklichung vermischt. Vor diesem Hintergrund unterscheide ich für die Überlegungen in diesem Buch insgesamt folgende Bedürfnisgruppen:
(1) Grundlegende physische und psychische Bedürfnisse: Hier sind zunächst die oben – mit Bezug auf Maslow – angesprochenen physiologischen Bedürfnisse relevant. Allerdings stellt sich die Frage, ob bestimmte grundlegende psychische Eigenschaften des Menschen, z. B. Neugier sowie Beachtung von und Reaktion auf Sinneserregung, die ursprünglich notwendig für das Überleben waren, nur als funktional für dieses zu betrachten sind oder auf eigenständigen Triebkräften beruhen. Für Letzteres spricht, dass Kinder verkümmern, wenn ihnen – obwohl es für ihr physisches Überleben nicht notwendig wäre – Sinnesreize und Möglichkeiten der Umwelterkundung vorenthalten bleiben. Aus diesem Grund zähle ich auch grundlegende psychische Antriebe zur ersten Bedürfnisgruppe.
(2) Bedürfnisse nach Sicherheit und Orientierung: Bei dieser Bedürfnisgruppe sind erneut zunächst die von Maslow angesprochenen Antriebe zu nennen: Wenn erst einmal die unmittelbar für das Überleben notwendigen Bedürfnisse befriedigt sind, möchte der Mensch sich hinsichtlich weiterer Bedürfnisbefriedigung auch sicher fühlen. Zugleich erscheint eine Ergänzung durch das kognitive Bedürfnis nach Orientierung sinnvoll: Zum einen setzt Sicherheit Orientierung voraus, zum anderen ist das Streben nach Erkundung der Umwelt so tief in der menschlichen Motivstruktur verankert, dass ihm auch ohne direkten Bezug zum Sicherheitsbedürfnis ein eigener Stellenwert zugewiesen werden kann.
(3) Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe: Diese Bedürfnisgruppe lässt sich mit den – oben bei Maslow genannten – Beispielen treffend beschreiben. Dabei spielt für die menschliche Entwicklung eine besondere Rolle, dass man sich in der Familie sowie im Kreis von Freunden und Bekannten nicht nur sicher, sondern auch angenommen fühlen möchte. In diesem Zusammenhang kommt dem Umstand, dass man als Mitglied einer Gruppe den Blick von sich selbst auf andere richten muss, eine besondere Bedeutung für die soziale Entwicklung zu.
(4) Bedürfnisse nach Anregung der Fantasie und Erprobung von Handlungsmöglichkeiten: Menschen möchten sich nicht nur sicher und in einer Gemeinschaft angenommen und aufgehoben fühlen, sie möchten auch neue Handlungsmöglichkeiten erkunden. Dazu ist es wichtig, dass die Fantasie angeregt sowie Handlungsmöglichkeiten ausgedacht und erprobt werden können. Zur Erkundung von Handlungsmöglichkeiten bietet unter anderem die Simulation unterschiedlicher Situationen, z. B. im Rollenspiel oder in Computerspielen, einen Raum mit dem Vorzug, dass die Erprobung sanktionsfrei erfolgen kann.
(5) Bedürfnisse nach Wertschätzung: Für die menschliche Entwicklung ist es nicht nur wichtig, dass man sich in einer Gemeinschaft geborgen fühlen und neue Handlungsmöglichkeiten erproben kann, man möchte auch Wertschätzung erfahren. Die entsprechende Bedürfnisgruppe bezieht sich auf die Bedürfnisse, die bei Maslow auf die Achtung der individuellen Person zielen – bei Maslow allerdings mit den Bedürfnissen nach Kompetenz und Leistung verbunden sind. Die Bedürfnisse nach Wertschätzung als Individuum können jedoch als eigenständige Bedürfnisgruppe angesehen werden, weil sie auch unabhängig vom Streben nach besonderen Leistungen existent sind: Möchte der Mensch zunächst vor allem „dazugehören“ und Spielraum für sein Verhalten und Handeln haben, so entwickelt sich mit der Zeit in der Regel das Bestreben innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft – sei es in der Familie, sei es in der Freundes- und Bekanntengruppe oder in größerem sozialem Zusammenhang – als individuelle Person geachtet und geschätzt zu werden.
(6) Bedürfnisse nach Wissen, Können und Kompetenz: Diese Bedürfnisgruppe sollte ebenfalls als eigenständige Bedürfnisgruppe gelten und damit nicht nur als funktional für das Streben nach Achtung aufgefasst werden. Zugleich lässt sich so besser den kognitiven Bedürfnissen des Menschen Rechnung tragen und der Wachstumsgedanke betonen: Ist der Erwerb von Wissen und Können in einem frühen Alter häufig mit dem Bestreben nach Sicherheit und Orientierung sowie nach Zugehörigkeit und Achtung verknüpft, ist eine Ablösung von entsprechenden Motiven ein wichtiger Schritt für das Lernen nach eigenen Interessen und Zielsetzungen. Ein entsprechendes Lernen kann so in das Streben nach Bewältigung verschiedener Anforderungen im Sinne von Kompetenz einmünden.
(7) Bedürfnisse nach Mit- oder Selbstbestimmung und Autonomie: Menschen sind zwar grundsätzlich bereit sinnvolle Regeln zu beachten, sie möchten aber auch Freiräume zur Selbstbestimmung haben oder bei der Festlegung oder Vereinbarung von Regeln mitbestimmen. Letztlich wollen sie in ihrem Handeln – bei aller Einsicht in die Notwendigkeit von Normen oder Regeln für ein förderliches Zusammenleben – autonom sein und selbstständig entscheiden können, was zu tun ist.
(8) Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Transzendenz: In Anlehnung an Maslow lassen sich hier zunächst die Bedürfnisse nennen, die über die bisherigen Bedürfnisgruppen hinausweisen und mit dem Antrieb verbunden sind, die Möglichkeiten, die grundsätzlich im Menschen angelegt sind, z. B. das Streben nach Erkenntnis, nach kreativer Gestaltung, nach Verbundenheit mit anderen Menschen oder mit der menschlichen Gemeinschaft und dem Kosmos insgesamt, zu immer höheren Formen zu entwickeln. Dabei kann dann auch das Bedürfnis entstehen, wirklichkeitsbezogene Erfahrungsmöglichkeiten – in Gedanken, Ideen und Visionen – zu überschreiten.
Die genannten Bedürfnisgruppen sind insgesamt nicht als isolierte und scharf abgegrenzte Bereiche zu verstehen; sie beschreiben vielmehr analytische Akzentuierungen, die zum Teil ineinander übergehen und sich überschneiden können.
Annahmen zum Wirksamwerden von Bedürfnissen
Mit den oben aufgeführten Bedürfnisgruppen lassen sich – in Anlehnung an Maslow – verschiedene Annahmen verbinden:13
Die Grundbedürfnisse stellen Antriebskräfte dar, die beim Handeln integriert erscheinen. Das bedeutet, dass ein Mensch bei einem Mangel jeweils als Ganzer motiviert ist. Wenn z. B. jemand Hunger hat, so ist dies sein Bedürfnis, nicht nur das Bedürfnis seines Magens. Verschiedene Funktionen werden gleichzeitig verändert: Die Wahrnehmung richtet sich stärker auf Nahrung als auf andere Dinge, emotional ist der Mensch angespannter und nervöser als sonst, sein Denken ist vor allem darauf gerichtet, wie er sich Nahrung beschaffen kann.
Des Weiteren stehen die Grundbedürfnisse in einem Wechselverhältnis zueinander: Das motivationale Erscheinungsbild eines Menschen ist durch den Zustand der Befriedigung oder Nicht-Befriedigung aller Bedürfnisse bestimmt, die im Organismus zu einem bestimmten Zeitpunkt wirksam sind. Dabei können sich die Bedürfnisse hinsichtlich des Grades ihrer Befriedigung unterscheiden, sodass wirksame Grundbedürfnisse in Relation zueinander entweder stärker oder gleich oder schwächer ausgeprägt sind, wobei auch einzelne Bedürfnisse gegenüber anderen übermächtig werden können. Wenn sich jemand zum Beispiel ständig bedroht fühlt, wird sein Sicherheitsbedürfnis auf Dauer immer stärker werden und schließlich im Vergleich zu anderen Bedürfnissen vollständig dominant sein.
Außerdem ist die Fähigkeit, die Nicht-Befriedigung eines Bedürfnisses zu tolerieren, von der bisherigen Bedürfnisbefriedigung abhängig: Menschen, bei denen ein bestimmtes Bedürfnis in der Vergangenheit ständig befriedigt wurde, können eine aktuelle Frustration dieses Bedürfnisses leichter ertragen als Menschen, die mit einer dauernden Nicht-Befriedigung dieses Bedürfnisses leben mussten. Wer beispielsweise immer Zuneigung und Liebe gespürt hat, ist eher in der Lage, auf diese zeitweilig zu verzichten, als jemand, der sich häufig vergeblich um Zuneigung und Liebe bemüht hat.
Darüber hinaus kann eine bestimmte Handlung bzw. ein bestimmtes Verhalten durch mehrere Grundbedürfnisse bedingt sein. So mag z. B. jemand Sport treiben, um sein physiologisches Bedürfnis nach Bewegung zu befriedigen, um die Zustimmung seiner Partnerin oder seines Partners zu erhalten und um in seinem Bekanntenkreis besonders anerkannt zu sein.
Zudem müssen für die Befriedigung der Grundbedürfnisse bestimmte Bedingungen erfüllt sein. So erfordern die Bedürfnisse nach Sicherheit und nach Selbstverwirklichung z. B. Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Ehrlichkeit, Fairness und Gerechtigkeit. Eine Gefährdung solcher Bedingungen löst ähnliche Frustrationen oder Ängste und gegebenenfalls auch Reaktionen aus, wie eine direkte oder unmittelbare Bedrohung der Bedürfnisbefriedigung. Würde z. B. in einem Zeitungsverlag angekündigt, dass alle Beiträge einer strengen internen Prüfung mit Änderungsmöglichkeiten von dritter Seite unterzogen werden, so könnte diese Ankündigung als veränderte Arbeitsbedingung bei den Mitarbeitenden ähnliche Reaktionen auslösen wie bei einem Einzelnen, der in einem konkreten Fall als ein unmittelbares Opfer von Zensur frustriert ist.
Eine weitere Annahme, die im Anschluss an Maslow besonders häufig kritisiert und diskutiert wurde, zielt darauf, dass die Grundbedürfnisse hierarchisch organisiert sind – wobei Maslow diese Annahme auch selbst relativiert. Allgemein und zunächst kann man annehmen, dass das Auftauchen höherer Bedürfnisse die Befriedigung der darunter liegenden Bedürfnisse voraussetzt. So würde sich kaum jemand vorrangig um die Ausstattung seiner Wohnung mit schönen Bildern bemühen, wenn er ständig unter Hunger und Durst leiden müsste oder von einer gefährlichen Krankheit bedroht wäre. Mit der Annahme einer (relativ) hierarchischen Organisation der Bedürfnisse ist der Gedanke verbunden, dass sich in der Regel ein neues Bedürfnis zeigt, sobald ein zunächst vorrangiges Bedürfnis befriedigt ist. Insofern wäre ein Zustand vollständiger Befriedigung für längere Zeit praktisch nicht zu erreichen, wobei hinzukommt, dass ein zunächst befriedigtes Bedürfnis nach kürzerer oder längerer Zeit wieder wirksam werden kann. Dies gilt insbesondere für die so genannten Mangel- oder Defizitbedürfnisse, wozu die grundlegenden physischen und psychischen Bedürfnisse, die Sicherheits- und Zugehörigkeitsbedürfnisse sowie die Wertschätzungsbedürfnisse zu zählen sind. Außerdem scheint es möglich, dass nach der Befriedigung eines Bedürfnisses nicht unbedingt ein „höherrangiges“ Bedürfnis wirksam wird. Beispielsweise könnte jemand – trotz Befriedigung der Wertschätzungs- und Selbstbestimmungsbedürfnisse – diesen Bedürfnisgruppen verhaftet bleiben, indem er nach immer mehr Anerkennung und Ruhm, Einflussmöglichkeiten oder Macht verlangt – wie es unter anderem bei manchen Führungskräften in der Wirtschaft oder im Bereich der Politik beobachtet werden kann. In solchen Fällen kommen keine „höherrangigen“ Bedürfnisse ins Spiel, sondern nur ein erhöhtes Anspruchsniveau im Hinblick auf Bedürfnisse, die eigentlich schon als befriedigt gelten müssten. Solche Zustände entsprechen in gewisser Weise dem, was man umgangssprachlich auch mit Verwöhnung bezeichnet.
Außerdem lässt sich die Hierarchie-Annahme dadurch infrage stellen, dass bei einzelnen Menschen das Streben nach kreativen Leistungen oder nach der Umsetzung hoher Ideale bzw. Werte trotz mangelnder Befriedigung niedriger einzustufender Bedürfnisse übermächtig sein kann. So zeigt z. B. die Erfahrung, dass auch bei großen Entbehrungen bezüglich physiologischer Grundbedürfnisse hervorragende wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen möglich sind. Insofern würden mit einer strengen Hierarchie-Annahme situationsbezogene Bedingungen des Handelns und Denkens, individuelle Umstände der Entwicklung, Gewöhnungsaspekte sowie kognitive und ästhetische Bedürfnisse des Menschen vernachlässigt. Insgesamt kann man dennoch – wenn auch mit den genannten Relativierungen – von einer (gewissen) Hierarchie der Grundbedürfnisse ausgehen. Diese sollte allerdings nicht als starre und feste Ordnung aufgefasst werden, sondern nur als ein – bei vielen Menschen beobachtbares – Muster, zu dem es viele Ausnahmen gibt.
Generell lässt sich im Hinblick auf die obige Einteilung der Grundbedürfnisse und die damit verbundenen Annahmen kritisch anmerken, dass sie im strengen Sinne nicht empirisch geprüft worden sind.14 Dies hängt unter anderem mit der Annahme zusammen, dass die Grundbedürfnisse weitgehend unbewusst das konkrete Handeln steuern. So weist auch Maslow darauf hin, dass sein Ansatz nicht in experimentellen Laborstudien überprüft worden sei. Die Rechtfertigung für seine Annahmen leitet er vielmehr aus seinen umfangreichen Erfahrungen in der Therapie sowie aus unterstützenden Feldbeobachtungen ab. Allerdings ist auch festzustellen, dass bei dem oben angesprochenen Ansatz von Deci und Ryan vielfältige empirische Studien zu Einzelfragen einbezogen wurden.15
Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt könnte sich darauf beziehen, dass schon das Bedürfnismodell von Maslow mit den Bedingungen westlicher Kulturen und ihrer individualistischen Prägung verbunden sei, die grundsätzlich die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Rahmen demokratischer Strukturen ermöglichen. Dieser Kritikpunkt ist insofern berechtigt, als unbestritten ist, dass bezüglich der Erscheinungsformen der Grundbedürfnisse die jeweiligen Lebensbedingungen eine wichtige Rolle spielen.
Schließlich könnte der Ansatz bezüglich des zugrunde liegenden Menschenbildes als zu optimistisch eingeschätzt werden, weil er z. B. der Aggression und der Boshaftigkeit, der Destruktivität und Grausamkeit des Menschen bis zum Sadismus zu wenig Bedeutung beimesse. Zweifellos können entsprechende Verhaltens- und Handlungsweisen nicht geleugnet werden, sie erhalten im Kontext obiger Überlegungen jedoch nicht den Status von Grundbedürfnissen oder von eigenständigen Trieben, sondern gelten als Folge der Frustration der eigentlichen Grundbedürfnisse.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die obigen Überlegungen – wenn auch einzelne Kritikpunkte im Bewusstsein bleiben sollten – durchaus geeignet, um wichtige Anregungen zur Analyse und Bewertung von menschlichem Handeln zu geben. Gerade im Hinblick auf alltägliches Handeln und das übliche Handeln von psychisch gesunden Menschen dürften sie hilfreich sein. Dies schließt allerdings nicht aus, dass es für spezifische Rahmenbedingungen oder pathologische Zusammenhänge angemessener sein kann, andere Ansätze – gegebenenfalls auch ergänzend – heranzuziehen. Beispielsweise ist es für spezifische Leistungssituationen zweckmäßig, differenzierte Ansätze zur Leistungsmotivation in den Blick zu nehmen, und für die Auseinandersetzung mit Neurosen kann es sinnvoll sein, auf psychodynamische bzw. psychoanalytische Methoden zurückzugreifen.
Zum Verhältnis von Bedürfnissen, Emotionen und Handeln16
Während die Befriedigung eines Bedürfnisses mit angenehmen Emotionen oder Lustempfinden einhergeht, führt dessen Nicht-Befriedigung oder Frustration zu unangenehmen Gefühlen und Unlustempfinden. Positive oder negative Gefühle entstehen aber nicht erst, wenn ein Bedürfnis befriedigt oder frustriert wird, sondern bereits dann, wenn eine Situation intuitiv so eingeschätzt wird, dass Hoffnung auf oder Bedrohung von Bedürfnisbefriedigung besteht, z. B. als Vorfreude oder als Furcht und Angst. Insofern können Emotionen neben einem Gegenwarts- auch einen Zukunftsbezug haben. Außerdem lassen sie sich auf vergangene Ereignisse beziehen, wie es z. B. bei Stolz auf erbrachte Leistungen oder bei Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen der Fall ist. Damit sind bereits zwei wichtige Dimensionen von Emotionen angesprochen: ihre Wertigkeit bzw. Valenz mit Ausprägungen auf einer Skala von Lust bis Unlust bzw. von positiven bis zu negativen Gefühlen sowie ihr Zeitbezug, der von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft reichen kann. Darüber hinaus können Emotionen durch eine Erregungsdimension gekennzeichnet werden. Diese zeigt sich zum einen als Aktivierungsgrad, der mit einer Emotion verbunden ist: von desaktivierenden Tendenzen, z. B. bei Resignation, bis zu einem enormen Handlungsdruck, der sich z. B. in einer aggressiven Handlung entladen kann. Zum anderen lässt sich die Erregungsdimension auf die Stärke einer Emotion beziehen: von schwach, z. B. bei Enttäuschung, bis stark, z. B. bei Wut.
Insgesamt gibt es vielfältige Möglichkeiten, Emotionen begrifflich zu charakterisieren und zu kategorisieren. Zusammenfassend lassen sie sich als mentale Zustände verstehen, die sich aus einer Wechselwirkung von Person und Umwelt ergeben und die mit der vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Befriedigung oder Frustration von Bedürfnissen zusammenhängen. Dabei können einzelne oder mehrere Emotionen generell die Bereitschaft zum Handeln begünstigen oder behindern. Wenn z. B. jemandem der Gedanke, mit Freunden zusammen zu sein, Spaß macht, wird dies Ansporn sein, ein Treffen mit Freunden in die Wege zu leiten; oder „umgekehrt“: Wenn man bei dem Gedanken, in einer Fitnesseinrichtung Sport zu treiben, Unlustgefühle entwickelt, kann einen das abhalten, dorthin zu gehen. Gegebenenfalls lassen Emotionen in Verbindung mit ihnen zugrunde liegenden Bedürfnissen einzelne Handlungen auch als besonders dringlich erscheinen. So wird z. B. ein Schauspieler, bei dem der Applaus und die Anerkennung des Publikums immer wieder Glücksgefühle hervorgerufen haben, seinen zukünftigen Auftritten nach einer krankheitsbedingten längeren Pause besonders entgegenfiebern. Zudem können Emotionen mentale Prozesse befördern, aber auch zurückdrängen oder ganz unterbinden. Wenn z. B. jemand mit Blick auf eine Prüfungssituation Sorgen – im Sinne geringerer Ängste – hat, diese letztlich aber noch als Herausforderung erlebt, dann kann das seine kognitiven Anstrengungen bei der Prüfungsvorbereitung begünstigen; empfindet er Prüfungssituationen jedoch als Bedrohung – im Sinne großer Angst – dann wird dies kognitive Prozesse bei der Prüfungsvorbereitung stören, wenn nicht gar in Form von Panikattacken ganz verhindern.
Zusammenfassende Bemerkung
Die Überlegungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass Fragen nach Trieben, Motiven oder Bedürfnissen des Menschen in Philosophie und Psychologie eine wichtige Rolle spielen. Dabei gibt es unterschiedliche Positionen zu ihrer Bedeutung und ihrer Beschreibung. Für das hier zugrunde liegende Verständnis von Handeln lag insbesondere eine Orientierung an Bedürfnisüberlegungen aus der humanistischen Psychologie nahe. Demnach nehmen verschiedene Grundbedürfnisse Einfluss auf menschliches Handeln: grundlegende physische und psychische Bedürfnisse, Sicherheits- und Orientierungs-, Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse sowie Bedürfnisse nach Anregung der Fantasie und Erprobung von Handlungsmöglichkeiten, nach Wertschätzung, nach Wissen, Können und Kompetenz, nach Mit- oder Selbstbestimmung und Autonomie sowie nach Selbstverwirklichung und Transzendenz. Die Befriedigung solcher Bedürfnisse ist mit angenehmen Emotionen verbunden, während Bedürfnisfrustration zu Unlustgefühlen führt. Da Bedürfnisse für den gesamten Prozess des Handelns bedeutsam sind, umfasst dieser auch stets eine emotionale Komponente, wobei der Prozess – gemäß der skizzierten Modellvorstellung im Kapitel 1 – in der Regel mit einer Wechselwirkung von situativen Anforderungen und Bedürfnissen beginnt, zu einem Spannungszustand führt, sich mit einer Abwägung und Bewertung von Handlungsmöglichkeiten fortsetzt, dann in eine Entscheidung und Handlung einmündet und schließlich mit der mentalen Verarbeitung von Handlungsfolgen endet.
Von den damit verbundenen Handlungsaspekten werden in den nächsten beiden Kapiteln schwerpunktmäßig die situativen Bedingungen in den Blick genommen.