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1 Modellvorstellung von menschlichem Handeln – welche Bedingungen unser Handeln beeinflussen

Der folgende Fall kann helfen, Bedingungen zu erkennen, die Einfluss auf menschliches Handeln nehmen:

Herr Weifel hat in seiner Mittagspause in einem Restaurant ein Menü zu sich genommen. Seine Rechnung beläuft sich auf 27,50 Euro. Da seine Pause schon fast zu Ende ist, ruft er die Kellnerin zu sich, um zu zahlen. In Eile reicht er ihr einen Geldschein und sagt, dass sie ihm auf 30 Euro rausgeben könne. Gleichzeitig wird die Kellnerin zu einem anderen Tisch gerufen. Sie gibt Herrn Weifel schnell 20 Euro zurück und begibt sich zum nächsten Tisch.

Auf dem Rückweg zur Arbeit kommt Herrn Weifel der Gedanke, dass er möglicherweise einen 50-Euro-Schein mit einem 10-Euro-Schein verwechselt haben könnte. Er schaut in sein Portemonnaie und sieht, dass sich darin – außer dem zurückerhaltenen Geld – zwei 50- Euro-Scheine befinden, wobei er sicher ist, dass er vorher auch einen 10-Euro-Schein im Portemonnaie hatte. Er muss deshalb annehmen, dass er in der Eile den 10-Euro-Schein mit einem 50-Euro-Schein verwechselt und die Kellnerin das ebenfalls übersehen hat, weil sie schon „auf dem Sprung“ zum nächsten Tisch war.

Es stellt sich die Frage, von welchen Bedingungen es abhängt, ob er noch einmal zurückkehrt oder wenigsten bei der nächsten Gelegenheit den Irrtum aufklärt, um den Schaden, der für die der Kellnerin entstanden ist, wieder auszugleichen.

Bedingungen des Handelns4

Zunächst verweist das Beispiel darauf, dass beim Handeln in der Regel eine Wechselbeziehung zwischen situativen Gegebenheiten und Bedürfnissen gegeben ist. Beispielsweise könnte Herr Weifel in der gegebenen Situation Unsicherheit darüber empfinden, was er tun sollte, sodass sein Sicherheitsbedürfnis tangiert wäre. Vielleicht möchte er auch in Zukunft in dem Restaurant freundlich bedient werden und dabei nicht befürchten müssen, dass er verdächtigt wird, die Kellnerin betrogen zu haben. Insofern käme sein Zugehörigkeitsbedürfnis ins Spiel. Des Weiteren ist es denkbar, dass er den Vorfall als Chance sieht, sich als ehrlicher Mensch zu präsentieren, sodass sein Bedürfnis nach Anerkennung befriedigt werden könnte. Welche Bedürfnisse auch immer angeregt werden – die Aktivierung von Bedürfnissen führt zu Emotionen, die angenehm sind (wenn eine Befriedigung des Bedürfnisses in Aussicht steht und/oder im Laufe des Handelns eintritt) oder unangenehm (wenn eine Befriedigung gefährdet erscheint und/oder im Folgenden eine Bedürfnisfrustration eintritt). Insofern begleiten und beeinflussen entsprechende Emotionen den gesamten Prozess des Handelns.

Für die Anregung von Bedürfnissen und Emotionen sind in der Regel situative Gegebenheiten oder Anforderungen bedeutsam. So ist der Irrtum von Herrn Weifel Anlass für die Aktivierung seiner Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit oder Anerkennung. Dabei hängt die auslösende situative Gegebenheit damit zusammen, dass er mittags zum Essen gegangen ist, dass angesichts der zu Ende gehenden Mittagspause Zeitdruck aufkam, dass in dem Restaurant zur Mittagszeit eine gewisse Betriebsamkeit herrschte, dass sich 10- und 50-Euro-Scheine zwar in Farbe und Größe prinzipiell unterscheiden, dabei aber in der Farbe nicht sehr weit auseinander liegen, und dass in dem Restaurant Barzahlung möglich war.

Solche spezifischen situativen Bedingungen sind ihrerseits mit allgemeineren Merkmalen der Lebenssituation verbunden. Diese ist bei Herrn Weifel beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass es entweder die Entfernung der Arbeitsstelle von seiner Wohnung nicht zulässt, zu Hause zu essen, oder dass er es generell oder mindestens an bestimmten Tagen vorzieht, seine Mittagspause im Restaurant zu verbringen, dass es dafür im Umfeld ein hinreichendes Angebot gibt, dass er eine Mittagspause hat, die möglichst nicht überzogen werden sollte, und dass er sich finanziell ein Mittagessen im Restaurant leisten kann.

Durch die angesprochene Wechselbeziehung zwischen situativen Bedingungen und Bedürfnissen entsteht ein Spannungszustand, der eine Entscheidung notwendig macht. Dabei spielt unter anderem eine Rolle, welche Erfahrungen mit vergleichbaren Anforderungen vorliegen. So könnte sich Herr Weifel zum Beispiel daran erinnern, dass er in einer ähnlichen Situation schon einmal irrtümlich erhaltenes Geld behalten hat und nichts weiter geschehen ist oder dass er anschließend „Gewissensbisse“ bekommen hat oder später darauf angesprochen wurde und damit in eine peinliche Situation geraten ist.

Mit solchen Erfahrungen hat sich ein bestimmtes Wissen zu entsprechenden Situationen herausgebildet. Dazu wird gegebenenfalls weiteres Wissen aktiviert, das ebenfalls anfallende Entscheidungen und Handlungen beeinflussen kann. In unserem Fall könnte es beispielsweise wichtig sein, ob Herr Weifel weiß, inwieweit Bedienstete im Gastronomiebereich für Abrechnungsfehler selbst aufkommen müssen bzw. welche Folgen es für die Kellnerin hat, wenn ihr bei der Abrechnung plötzlich Geld fehlt. Weiteres Wissen könnte sich darauf beziehen, wie die rechtliche Lage in solchen Fällen ist, ob er selbst Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn er irrtümlich herausgegebenes Geld einfach behalten würde.

Für die Frage, welche Entscheidung letztlich gefällt wird, sind über Erfahrungen und Wissen hinaus die intellektuellen Fähigkeiten bzw. die Komplexität des Denkens bedeutsam. Demgemäß könnte die Entscheidung von Herrn Weifel dadurch beeinflusst werden, ob er bereit und in der Lage ist, verschiedene Handlungsmöglichkeiten und ihre möglichen Folgen zu erwägen, oder eher dazu neigt, für jedes Problem nur eine Lösung in den Blick zu nehmen und diese schnell anzugehen. So könnte er sich z. B. entweder ohne weitere Überlegung direkt für eine der folgenden Handlungsmöglichkeiten entscheiden oder aber zwei oder mehr von ihnen bedenken: sofort bzw. ohne Rücksicht auf das Ende seiner Mittagspause zurückgehen und den Irrtum aufklären, dies bei der nächsten Gelegenheit tun (falls er an seinem Arbeitsplatz unmittelbar nach der Mittagspause benötigt wird) oder in dem Restaurant schnell telefonisch Bescheid geben, sodass die Kellnerin nicht in Schwierigkeiten gerät, oder gar nichts tun und die Sache auf sich beruhen lassen.

Neben intellektuellen Fähigkeiten und der Komplexität des Denkens spielen für solche Entscheidungen sozial-moralische Orientierungen oder Wertvorstellungen eine wichtige Rolle. Falls Herr Weifel beispielsweise nur seine eigenen Bedürfnisse und seinen Vorteil im Auge hat, wird er vermutlich anders entscheiden, als wenn er bereit ist, sich in die Lage anderer zu versetzen und deren Situation zu berücksichtigen. Außerdem könnte Ehrlichkeit ein wichtiges Prinzip seines Handelns sein. In diesem Fall würde er voraussichtlich anders vorgehen, als wenn ihm Ehrlichkeit nichts oder nur wenig bedeutete und es ihm wichtiger wäre, aus jeder Situation einen möglichst großen Nutzen für sich selbst zu ziehen.

Zudem gilt: Eine durchgeführte Handlung hat bestimmte Folgen, die anschließend psychisch verarbeitet werden. Entscheidet sich Herr Weifel beispielsweise dafür, den Irrtum aufzuklären und das irrtümlich erhaltene Geld zurückzugeben – und bringt ihm dies die Sympathie und Anerkennung der Kellnerin ein –, so entstehen positive Emotionen, welche unter anderem dazu führen können, dass er in späteren Fällen ähnlich handelt. Unter Umständen fühlt er sich aber auch bestätigt, wenn er das Geld für sich behält und später nicht mit unangenehmen Nachfragen konfrontiert wird. Verursacht dies bei ihm jedoch ein schlechtes Gewissen oder kommt es doch zu einer konflikthaften Erkundung vonseiten der Kellnerin, kann es sein, dass er bei späteren vergleichbaren Situationen anders entscheidet.

Modellvorstellung von menschlichem Handeln

Die obigen Überlegungen zeigen verschiedene Bedingungen auf, die für Handeln generell wichtig sind:

• Situative Gegebenheiten und die allgemeine Lebenssituation

• Bedürfnisse und damit verbundene Emotionen

• Erfahrungen und Wissen

• Intellektuelle Fähigkeiten bzw. die Komplexität des Denkens

• Sozial-moralische Orientierungen bzw. Wertvorstellungen

Für den Prozess des Handelns gilt in der Regel Folgendes: Im Rahmen der Lebenssituation werden bestimmte Bedürfnisse durch situative Anforderung angeregt. In der Wechselbeziehung von Situation und Bedürfnislage und damit verbundenen Emotionen entsteht ein Spannungszustand, der Entscheidungen verlangt. Dabei kommen zunächst Erfahrungen und Wissen ins Bewusstsein, die üblicherweise auf verschiedene Handlungsmöglichkeiten und ihre potenziellen Folgen verweisen. Wie viele davon in eine Erwägung einbezogen werden, ist von den intellektuellen Fähigkeiten bzw. der Komplexität des Denkens abhängig. Für die Entscheidung und die gewählte Handlungsmöglichkeit selbst spielen dann sozial-moralische Orientierungen bzw. Wertvorstellungen eine wichtige Rolle. Zudem gilt: Eine gewählte Handlungsmöglichkeit kann zu positiven Konsequenzen führen, z. B. zur Befriedigung angeregter Bedürfnisse bzw. zum Erreichen wünschenswerter Zustände; sie kann aber auch Enttäuschungen, Frustrationen oder Konflikte mit anderen oder mit eigenen sozialen bzw. wertbezogenen Orientierungen zur Folge haben. Die jeweiligen Konsequenzen und ihre Verarbeitung sind bedeutsam für die Wahrscheinlichkeit, mit der zukünftig in vergleichbaren Situationen gehandelt wird.

Diese allgemeine Charakterisierung des Handelns trifft in der Regel zu. Ausnahmen können unter anderem darin liegen, dass der Spannungszustand und die dadurch verursachte Motivation zum Handeln weniger durch eine Wechselbeziehung zwischen situativen Anforderungen und Bedürfnissen entsteht, sondern durch ein Bedürfnis, das sich im menschlichen Organismus vor allem durch interne physiologische Vorgänge entwickelt. Ein Beispiel dafür ist das Hungergefühl, von dem man annehmen kann, dass es sich auch ohne äußere Anreize einstellt und zu der Suche nach Nahrung (als Handeln) führt. Eine weitere Ausnahme kann sich dadurch ergeben, dass in bestimmten Situationen nur eine Handlungsmöglichkeit ins Bewusstsein kommt und diese auch als angemessen bewertet und ausgeführt wird. Beispielsweise könnte jemand bei Langeweile sofort an sein Smartphone denken und die mögliche Kontaktaufnahme mit anderen zugleich als passend und unterhaltsam einschätzen. Außerdem kann eine Ausnahme darin liegen, dass einem Akteur zwar mehrere Handlungsmöglichkeiten bewusst sind, es jedoch nicht zu einer expliziten Bewertung kommt, weil er üblicherweise eine Handlungsmöglichkeit vorzieht. Wenn jemand z. B. beim Bäcker einkauft, wird er sich zwar einmal mit den verschiedenen Zahlungsarten auseinandergesetzt haben, er wird in einer gegebenen Situation jedoch nicht immer wieder die verschiedenen Möglichkeiten abwägen, sondern einfach die gewählte Zahlungsart nutzen.

Ein Sonderfall liegt vor, wenn vom Individuum keine Handlungsalternativen bedacht werden und spontan eine Handlungsmöglichkeit ohne Bewertung realisiert wird. Dies kann z. B. bei Gewohnheiten oder bei einem instinktgesteuerten Vorgehen der Fall sein. Ob man dies jedoch noch als Sonderfall von Handeln betrachtet oder nur unter dem Begriff des Verhaltens fasst, ist letztlich eine definitorische Entscheidung. Allerdings – auch wenn man eine begriffliche Differenzierung von Handeln und Verhalten einführt, bleiben Übergänge. Wenn beispielsweise jemand Lust auf einen Kaffee hat und dann „automatisch“ die Kaffeemaschine einschaltet, kann es sein, dass er vorher doch kurz an andere Möglichkeiten gedacht hat, an einen Kaffee zu kommen (womit eine gewisse Nähe zum obigen Bäckerbeispiel gegeben wäre).

Außerdem lässt sich auch bei der Verwendung des Verhaltensbegriffs noch ein Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Verhalten feststellen. Menschen können über ihre Gewohnheiten oder instinktgesteuertes Verhalten nachdenken und gegebenenfalls auch nachträglich dafür Gründe finden oder ihr Verhalten in der Zukunft verändern.

Mit den obigen Überlegungen ist zugleich erläutert, welcher Begriff von Handeln den Überlegungen in diesem Buch zugrunde liegt: Mit Handeln ist eine situations- und/oder bedürfnisbezogene Aktivität gemeint, die willentlich bzw. bewusst durchgeführt wird, um einen als bedeutsam empfundenen Zustand zu erreichen. Dabei verweist der Situationsbezug auf soziale bzw. umweltbezogene Komponenten und der Bedürfnisbezug auf affektiv-motivationale bzw. emotionale Aspekte des Handelns. Mit dem Merkmal der willentlichen bzw. bewussten Durchführung werden – auf das Wollen bezogene – kognitive Prozesse beim Handeln angesprochen und mit dem Hinweis, dass ein als bedeutsam empfundener Zustand angestrebt wird, kommt in den Blick, dass dem Handeln bestimmte Absichten, Ziele oder Wünsche zugrunde liegen können.5 Dabei sind die Handlungsbedingungen nicht als isolierte Einflussfaktoren zu betrachten, sondern als Aspekte, die miteinander in einer Wechselbeziehung stehen.

Zur Analyse und Bewertung von Handeln

Die oben aufgezeigten handlungsrelevanten Bedingungen oder Faktoren und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen gelten grundsätzlich sowohl für das Handeln in Alltagssituationen als auch für Entscheidungen und Handlungen in verschiedenen Lebensbereichen, z. B. in der Familie wie im Freundes- und Bekanntenkreis, in der Freizeit wie im Beruf, in der Wirtschaft wie im Gesundheitswesen, im Sport wie im Kulturbereich, in der sozialen wie in der natürlichen und technischen Umwelt, im Rechtswesen wie in der Politik. Beispiele für menschliches Handeln reichen demnach von Handlungen in Alltagssituationen bis zu gesellschaftlich weitreichenden und politisch relevanten Handlungen und Entscheidungen. Zu letzteren gehören z. B.: die Beschlüsse der Corona-Runden von Bundeskanzleramt und Ministerpräsidenten, die Verlängerung der EU-Sanktionen gegen Russland, der Ausstieg aus dem Pariser Klimavertrag und aus dem Atomabkommen mit dem Iran unter dem US-Präsidenten Donald Trump, das Eingreifen des türkischen Präsidenten Recep T. Erdogan in den Syrien-Krieg, die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge durch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Annexion der Krim gemäß der Anweisung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Abwurf der Atombombe über Hiroshima unter dem US-Präsidenten Harry S. Truman, der Einmarsch deutscher Truppen in Polen als Auslösung des zweiten Weltkrieges durch Adolf Hitler oder der Gewaltverzicht von Mohandas K. Gandhi bei der indischen Unabhängigkeitsbewegung.

Zur Analyse und Bewertung von Beispielen aus Politik, Freizeit oder Beruf können grundsätzlich die jeweilige allgemeine Situation, Bedürfnislagen und damit verbundene Emotionen, spezifische situative Anforderungen, vorliegende Erfahrungen und Wissen sowie intellektuelle Aspekte und sozial-moralische Orientierungen bzw. Wertvorstellungen in die Betrachtung einbezogen werden. Dabei ist allerdings wichtig, dass je nach Fall nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Prozesse Berücksichtigung finden. Dies gilt insbesondere bei politischen Entscheidungen, die in der Regel mit Beratungen verschiedener Art verbunden sind.

So könnte man beispielsweise Äußerungen von Donald Trump zum Ausstieg aus dem Atomabkommen mit dem Iran und gegebenenfalls zugängliche Beratungsunterlagen daraufhin analysieren, (a) welche Deutung der allgemeinen Rüstungssituation und welche generellen weltpolitischen Einschätzungen zugrunde lagen, (b) welche Bedürfnisse und Interessen seitens des Präsidenten und seiner Berater bestanden, (c) welche konkreten Anlässe für den Ausstieg eine Rolle spielten, (d) welche Erfahrungen mit dem Iran und welches Wissen zur Bedeutung des Atomabkommens, zu seinem Zustandekommen und zu etwaigen Vertragsverletzungen einbezogen oder negiert bzw. ignoriert wurden, (e) welche Handlungsalternativen und möglichen Folgen im Blick waren, (f) wie sich der Umgang mit ihnen in intellektueller Hinsicht darstellte und (g) nach welchen sozial-moralischen Orientierungen oder Wertvorstellungen eine Beurteilung verschiedener Handlungsmöglichkeiten – soweit sie überhaupt ernsthaft in die Erwägung einflossen – erfolgte und welche Wertvorstellungen keine Bedeutung hatten.

Eine entsprechende Analyse würde facettenreiche Einsichten in Entscheidungsprozesse im Weißen Haus unter der Präsidentschaft Trumps ermöglichen und gleichzeitig eine differenzierte kritische Stellungnahme dazu ermöglichen. Bei anderen Analysen und Bewertungen müssen allerdings nicht immer alle Bedingungen und Faktoren bedeutsam sein. Es ist möglich, dass sich bestimmte Faktoren oder Bedingungen als besonders relevant erweisen und andere weniger wichtig erscheinen. Denkt man beispielsweise an einen Polizisten, der bei einem Polizeieinsatz in eine lebensgefährliche Situation gerät und dabei in Notwehr handelt, so wird der Fokus einer Analyse und Bewertung auf situativen Bedingungen und auf dem Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit oder Überleben gegenüber dem Blick auf kognitive Prozesse dominieren.

Zudem ist zu bedenken, dass eine Antwort auf die Frage, welche Handlungsbedingungen bei Analysen und Bewertungen besonders hervorgehoben oder vernachlässigt werden, nicht nur vom jeweiligen Fall, sondern auch von der Perspektive des Betrachters abhängt. So werden sich beispielsweise Stellungnahmen zu gegebenen Handlungen danach unterscheiden, welcher Perspektive und welchem Interesse sie folgen und von welcher grundsätzlichen Position aus sie geschrieben werden. In diesem Zusammenhang muss man sich nur die Stellungnahmen zur Schließung von Restaurants und Gaststätten im Kontext der Corona-Krise vergegenwärtigen. Dazu gab es sehr unterschiedliche Positionen, die z. B. damit zusammenhingen, ob sie aus der Perspektive von Virologen oder Politikern, von Vertretern des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes oder der Krankenkassen, von Mitgliedern der jüngeren oder der älteren Generation abgegeben wurden. Dabei konnten sie unter anderem von medizinischen oder politischen, von wirtschaftlichen oder rechtlichen, von freiheitlichen oder schutzorientierten Interessen geleitet sein. Die Positionsgebundenheit von Stellungnahmen gilt nicht nur für jeweils aktuelle, sondern auch für historische Ereignisse. Dazu sei als Beispiel noch kurz an ein – für die damalige Entwicklung der Studentenbewegung in Deutschland außerordentlich wichtiges – Ereignis erinnert: an den Tod des Studenten Benno Ohnesorg im Jahr 1967. Benno Ohnesorg hatte an einer Demonstration gegen den Schah von Persien teilgenommen, der in dem besagten Jahr mit seinem Gefolge Deutschland besuchte. Der Schah war ein starker Verbündeter des Westens und garantierte den Zugang zu wichtigen Ölquellen; gleichzeitig war er für die Unterdrückung der Opposition in Persien durch seinen Geheimdienst mit Folterungen unter Missachtung der Menschenrechte bekannt. Vor diesem Hintergrund war besonders in Berlin mit Demonstrationen vonseiten der Studentenbewegung zu rechnen. Deshalb wurden umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen eingeleitet, mit denen das persische Kaiserpaar geschützt werden sollte. Während sich am Abend des Besuchs in Berlin in der Deutschen Oper der Vorhang für eine Sonderaufführung von Mozarts „Zauberflöte“ für die persischen Gäste hob, ging die Polizei – nachdem es zuvor bereits aggressive Auseinandersetzungen am Rathaus Schöneberg gegeben hatte – mit Knüppeln, Wasserwerfern und Reizgas gegen die Demonstranten vor. In einem Hof, in den einige Demonstranten flüchteten, fielen zwei Schüsse. Der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras schoss dabei dem Studenten Benno Ohnesorg aus kurzer Distanz eine tödliche Kugel in den Hinterkopf. Im Anschluss an dieses Ereignis gab es sofort und dann auch bei dem Prozess gegen den Todesschützen Kurras und später noch bei der Revision des Verfahrens sehr unterschiedliche Kommentare und Stellungnahmen zu dem Todesfall – je nach vorliegenden Interessen, eingenommener Perspektive oder grundsätzlicher Position die damalige Thematik betreffend. Das Interesse der Kommentatoren konnte dabei z. B. auf die Aufklärung des Tathergangs oder seine Vertuschung, auf die Nutzung des Ereignisses für eigene Intentionen oder auf eine Mahnung für die Zukunft gerichtet sein, die eingenommene Perspektive z. B. auf juristische, psychologische oder politische Fragen, und die grundsätzliche Position auf die jeweiligen Einstellungen zur Studentenbewegung, zu Demonstrationen generell, zum polizeilichen Vorgehen oder zu Menschenrechtsverletzungen.6

Zusammenfassende Bemerkung

Blickt man auf die Ausführungen in diesem Kapitel zurück, lässt sich zunächst festhalten, dass Handeln als ein Prozess zu verstehen ist, der in der Regel mit einer Wechselwirkung von situativen Anforderungen und Bedürfnissen des Handelnden beginnt, auf der Grundlage von Erfahrung und Wissen sowie intellektuellen und sozial-moralischen Denkmustern zu einer Abwägung und Bewertung von Handlungsmöglichkeiten führt und in eine Entscheidung und Handlung einmündet, die ihrerseits bestimmte Folgen hat, welche gedanklich verarbeitet werden und für zukünftiges Handeln bedeutsam sind. Dies besagt, dass für die Analyse und Bewertung von Handeln und Handlungen verschiedene Bedingungen in den Blick genommen werden können und sollen: die jeweilige allgemeine Situation, Bedürfnislagen und damit verbundene Emotionen, spezifische situative Anforderungen, vorliegende Erfahrungen und Wissen sowie intellektuelle Aspekte und sozial-moralische Orientierungen mit daran gekoppelten Wertvorstellungen. Bezogen auf konkrete Analysen und Bewertungen sind zugleich Interessen, Perspektiven und Positionen zu bedenken, die bei dem Einschätzenden gegebenenfalls eine Rolle spielen.

Um bei Analysen und Bewertungen eigenen und fremden Handelns zu einer differenzierten Sichtweise zu gelangen, sollen die oben entwickelten handlungsrelevanten Bedingungen und Faktoren in den folgenden Kapiteln weitergehend betrachtet und diskutiert werden.

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