Читать книгу Von Hunden, Katzen und anderen Menschen - Gerhardt Staufenbiel - Страница 8

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Großvaters Dackel


Eigentlich habe ich immer mit Hunden zusammen gelebt. Als Kind war es der Dackel meines Großvaters. Mein letzter Hundefreund und Kamerad hat mich erst vor kurzer Zeit verlassen. Wenn ich im Abendlicht auf der Gartenbank sitze und die Stille genieße, blicke ich direkt auf sein kleines Grab. Gestern habe ich ein Vergissmeinnicht darauf gepflanzt.

Der erste Hund an den ich mich erinnern kann, gehörte meinem Großvater. Es war ein Rauhaardackel oder so etwas Ähnliches. Eigentlich war er kein Dackel, sondern eine richtige Dorfdackelmischung, in der wohl der Dackel die Oberhand hatte. Und wie es sich für einen richtigen Dorfdackel gehört, hieß er Waldi.

Vielleicht waren es auch wohl zwei oder drei Generationen von Waldi’s. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Aber nachdem Waldi viele Jahre bei meinem Großvater gelebt hat, müssen es mindestens zwei, eher drei Generationen gewesen sein. Auf jeden Fall hießen die Dackel von Großvater immer Waldi. Eine dunkle Erinnerung habe ich daran, dass Waldi eines Tages verschwunden war. Mit großer Sorge wurde nach ihm gesucht. Schließlich hörte Großvater ein leises Winseln im Stroh draußen in der Scheune. Waldi hatte ein ganzes Nest voll mit jungen Waldis geboren. Mindestens einer davon sollte dann Waldi 2 werden.

Mein Großvater war ein einfacher Bauer aus dem armen thüringischen Eichsfeld. Schon immer hatten die Eichsfelder ihr Land verlassen müssen, denn das karge Land konnte seine Bewohner nicht ernähren. Industrie oder andere Arbeitsplätze gab es dort in der abgelegenen Gegend nur in der Kreisstadt. Aber die war für die Menschen vom Land nahezu unerreichbar. Es gab keine öffentlichen Verkehrsmittel und ein Auto hatte ohnehin niemand.

Viele Dörfler sind in das Ruhrgebiet gezogen, denn dort gab es reichlich Arbeit in den Zechen und Stahlwerken. Deshalb gab es im Ruhrgebiet viele Eichsfelder Heimatvereine, denn die Eichsfelder sind ihrer Heimat tief verbunden. Ein Onkel hatte später einen Handwerksbetrieb im Ruhrgebiet, einer in Berlin. Ein anderer Onkel wurde Offizier und kämpfte mit Rommel in Afrika. Dort holte er sich die Malaria, an der er viele Jahre später schmerzhaft gestorben ist.

Großvaters Eltern hatten schon früh die Welt verlassen, als er noch ein Kind war. Sein Bruder wanderte nach Amerika aus und war seither verschollen. Vielleicht hatte er ja als Goldgräber sein Glück gefunden? Oder war er bei einer Schießerei im Wilden Westen ums Leben gekommen? Man hat nie wieder etwas von ihm gehört.

Großvater wuchs bei einem Onkel in einer kleinen Mühle am Waldrand auf. Als er vierzehn Jahre alt war, nagelte Onkel ein paar Riemen an ein Nachtkastl. Darein packt er ein paar nötige Utensilien und schulterte Großvater den Kasten auf den Rücken. „Hier hast du das Notwendigste zum Leben. Geh und such Dein Glück. Ich kann dich nicht weiter durchfüttern!“ Später hat Großvater viele Märchen von armen Müllerburschen erzählt, die hinausgezogen sind in die Welt und dort ihr Glück gemacht haben. Fast hätte er ein dritter Grimm werden können. Aber er wurde im Ersten Weltkrieg nur der Bursche eines Offiziers. Wenigstens kam er so in der vornehmen Welt herum.

Mit achtzehn lernte er dann meine Großmutter kennen und heiratete. Später sagte er immer:

„Wan ich gewusst hät, dass frye so schenn wärr, hätt ich zenn Johr err gefryet.“

Vielleicht hätte Großmutter den anderen Bewerber heiraten sollen. Der war immerhin der Erbe eines Hauses. Großvater dagegen war ein Niemand. Aber offenbar war die Liebe stärker als die Vernunft. Großvaters Konkurrent hat ein Leben lang nicht mehr mit ihm gesprochen. Und das war sehr schwierig, denn sie saßen in der Kirchenbank sechzig Jahre lang nebeneinander. Man konnte den Sitz nicht tauschen, denn die Plätze in der Kirche gehörten seit Generationen zu einem bestimmten Haus. Wer kein Haus hatte, musste ganz hinten in der letzten Reihe stehen. So sah man immer, wer nicht dazu gehörte. Das waren dann die ganz armen Leute, die zur Miete in einem von der Gemeinde zur Verfügung gestellten Armenhaus leben mussten. Denn Hausbesitzer, die ihre Häuser oder Wohnungen vermieteten, gab es dort nicht. Wer ein Haus besaß, lebte darin.

Zunächst waren die Eltern meiner Großmutter so empört über die Heirat mit dem Niemand, der in der Kirche in der letzten Reihe stehen musste, dass sie Großmutter des Hauses verwiesen. Die beiden lebten dann in einem Zimmer direkt an der Straße im nächsten größeren Ort, der schon fast wie eine kleine Stadt war. Dort zogen sie dann ihre ersten Kinder auf.

Um ein wenig Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, wusch Großmutter die Wäsche für die „reichen“ Leute. Das Zimmer war mit aufgehängten Betttüchern aufgeteilt. Vorne zur Straße hin, stand der Waschkessel. Dort wurde die Wäsche gewaschen und gebügelt. Hinter dem Vorhang fand das Familienleben statt. Aber das alles habe ich natürlich nicht selbst erlebt. Ich weiß es nur aus Erzählungen meiner älteren Tanten, den ersten Kindern der Großeltern. Meine Mutter kannte das auch nicht mehr. Sie war das Nesthäkchen, das im Familienhaus geboren wurde.

Später bekam Großmutter das Haus, in dem Beide dann bis zu ihrem Tod leben sollten. Dort zogen sie noch sieben Kinder groß, das achte ist früh gestorben. Das war so recht ein Unglück. Alle Nachbarn bemitleideten sie, weil sie nur so wenige Kinder hatten. Alle anderen zogen mindestens zwölf bis dreizehn oder sogar noch mehr Kinder groß. Wie sollte man denn mit so wenigen Kindern sein Alter sichern? Aber bald änderten sich die Zeiten und die Kinder flogen aus, sobald sie flügge waren.

Die Großeltern waren arme Bauern, aber sie gehörten zu den „sieben Gerechtigkeiten“. Das war ein altes, in den Kirchenbüchern verbuchtes Recht, das bis ins 13. Jahrhundert zurückreichte. Es war zwar ein verbuchtes Recht, aber nirgendwo gab es geschriebene Regeln. Die wurden als überlieferte Tradition von Generation zu Generation weiter gegeben. Damals - wohl im dreizehnten Jahrhundert - war ein adeliger Herr Namens Dieter mit sieben Familien in die Gegend gezogen und hatte die Wälder gerodet. Darum hieß der Ort Dieter-rode. Aus jener Zeit stammen uralte Ruinen, die der Legende nach zu einer Kaiserpfalz gehörten. Der Kaiser war niemals dort, aber er hatte das Recht, wenn er über das Land zog, in einer solchen Pfalz für die Zeit seines Besuches zu wohnen. Die adeligen Herren mussten eine solche Pfalz für ihn bereit halten.

Seit jener Zeit hatten die Nachkommen dieser sieben Familien besondere Rechte. Ihnen gehörten gemeinsam genutzter Wald und neben den eigenen Äckern ausgewählte Felder, die sie wie ihr Eigentum bearbeiten konnten. Einige der Familien bildeten kleine Gruppen, die sich gegenseitig halfen. Der größte Bauer stellte den kleineren Pferde und Wagen für die Ernte zur Verfügung. Dafür halfen die anderen ihm bei seiner Ernte. Aber alle waren freie Bauern. Nirgendwo war die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe verbrieft. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, das niemals gebrochen wurde. Erst mit der zwangsweisen Einführung der sozialistischen LPG - der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften - wurde dieses uralte System der gegenseitigen Hilfe freier Bauern abgeschafft. Aus den freien Bauern wurden Landarbeiter, die nie mehr ihren eigenen Boden bearbeiten durften. Sie arbeiteten im Lohnverhältnis für die Genossenschaften. So macht man aus freien Bauern lohnabhängige Arbeiter.

Die Bauern im Dorf waren arm, denn der Boden war karg und warf gerade so viel ab, dass man nicht an Hunger starb. Nur wenige Bauern hatten ein Pferd oder eine Kuh im Stall. Die anderen begnügten sich mit Ziegen. Großvater hatte ein Dutzend Ziegen im Stall, die jeden Tag in den Wald geführt werden mussten, denn Futter war teuer. Und da war Waldi ein unentbehrlicher Helfer. Wenn Großvater seine alte Ziegenjoppe anzog, sprang Waldi vom Sofa und war bereit zum Ziegenhüten. Die Ziegenjoppe war schon uralt und vielfach geflickt. Außerdem stank sie so erbärmlich nach Ziege, dass sie in den Stall verbannt war. Großvater durfte das Haus niemals mit der Jacke betreten.

Ich weiß nicht, ob die Ziegen meinem Großvater in den Wald folgten oder ob sie seiner alten Joppe hinterherliefen. Auf jeden Fall musste jeder, der Großvater beim Ziegenhüten vertrat, die Joppe tragen. Sie war der Ausweis für die Ziegen, dass man dieser Person vertrauen konnte. Eigentlich war Waldi nicht nötig, um beim Ziegenhüten zu helfen, denn die Ziegen folgten getreulich der alten, stinkenden Joppe. Aber er war immer mit dabei.

Einmal durfte ich die Ziegen hüten. Also wurde mir die Joppe übergezogen. Aber ich war noch so klein, dass die Jacke am Boden schleifte und mir die Ärmel mit einer Schnur hochgebunden wurden. Dann ging es los in den Gerechtigkeitswald. Ich voran, die Ziegen hinterher. Und Waldi zeigte mir den Weg. Aber eigentlich waren es die Ziegen, die ihren Weg kannten. Manchmal hetzte ich hinterher, denn die Ziegen waren oft sehr schnell und rannten gierig nach Futter voran.

Waldi tat immer sehr wichtig, so als würde er die Herde zusammenhalten. Aber nur manchmal, wenn eine der Ziegen sich seitwärts in die Büsche schlug, trieb er sie bellend wieder zurück. Meine Aufgabe bestand darin, den Ziegen ein paar Zweige mit Großvaters Gehstock herunterzuziehen. Ich kannte die Lieblingsbüsche der Ziegen nicht, aber sie führten mich von alleine dorthin, wo sie am liebsten fraßen. Damit die Ziegen den Baum nicht völlig kahl fraßen, wurden sie immer in Bewegung gehalten und weitergetrieben. Denn am nächsten Tag sollte ja auch noch Futter da sein. Deshalb wechselte Großvater seine tägliche Route damit sich die Bäume und Büsche vom Ziegenfraß erholten.

Im Sommer, wenn die Walderdbeeren reif waren, hatte Großvater immer ein kleines Schraubglas dabei. Gespannt warteten wir schon auf die Ernte. Die Beeren wurden gezuckert und in Milch eingelegt. Einfach köstlich. Einmal war ich mit unterwegs im Wald und fand ein paar Erdbeeren, die aber noch nicht ganz vollreif waren. „Nein, die darf man noch nicht ernten! Lass sie noch wachsen, denn auch morgen willst du ja auch noch Erdbeeren haben. Wenn du alle pflückst, gibt es morgen keine mehr!“

An einer anderen Ecke des Waldes standen wilde Kirschbäume. Zur Kirschenzeit gab es dort die leckersten Kirschen. Im Gesträuch am Feldrand unter den Kirschbäumen wohnte die Zwergenkönigin mit ihrem Volk. So erzählte Großvater und ich war fest davon überzeugt, dass er recht hatte. Denn nur unter ihrem Schutz reiften die Kirschen so köstlich.

Früher einmal führte eine kleine Eisenbahnlinie durch den Gerechtigkeitswald Hier verkehrten nur wenige Personenzüge. Sie führen von der Kreisstadt Heiligenstadt bis ins hessische Dorf Frieda. Dort änderte sich die Spurweite und man stieg in einen hessischen Zug um. Von Heiligenstadt aus führte die Bahn steil die Berge hinauf. In der Anfangszeit der Bahn stiegen die Passagiere an der Steigung aus und gingen zu Fuß, denn die voll besetzte Bahn schafft es nicht den Berg hinauf. Oben angelangt stiegen die Passagiere wieder zu und der Zug fuhr weiter bis nach Kalteneber oben auf der Höhe. Die Leute sagen, dass der Ort – eigentlich nur ein Bahnhof – so hieß, weil es dort so kalt war, dass der Eber auf der Sau einfror. Danach führte die Linie wieder hinunter durch den Wald zum nächsten Bahnhof.

So unscheinbar die Bahnlinie wirkte, so wichtig war sie offenbar im Krieg. Denn die Brücken waren so ausgebaut, dass dort schweres Kriegsgerät transportiert werden konnte. So waren denn auch viele Schwerlasttransporte auf der Strecke bis nach Frieda unterwegs. Dort verschwanden die Züge in einem Tunnel und kamen erst am nächsten Tag wieder zum Vorschein. Aber vorher erschienen Schwerlastzüge aus dem Tunnel und verschwanden auf der hessischen Seite. Auch umgekehrt gab es solche Transporte von West nach Ost. Wilde Geschichten rankten sich um diesen Tunnel. Lange Zeit munkelte man, dass auch das berühmte Bernsteinzimmer in diesem Tunnel umgeladen wurde und dann verschwand. Nach dem Krieg wurden dort geheimnisvolle Experimente gemacht, zu denen Niemand aus der Gegend Zugang hatte. Heute ist der Tunnel verschüttet. Niemand kann mehr sein Geheimnis erforschen.

Einmal mitten im Krieg waren wir zu Besuch bei meinen Großeltern. Meine Mutter wollte unbedingt mit dem Zug wieder nach Hause. Aber meine Tante schrie und weinte und holte uns endlich aus dem Zug, der fast schon wieder anfuhr. Auf dieser Fahrt nach Frieda wurde der Zug auf offener Strecke von Tieffliegern beschossen. Der Lokführer und viele Passagiere starben. Hatte meine Tante das dritte Gesicht?

Nach der Trennung Deutschlands in zwei Teile wurde das Eichsfeld russisches Gebiet. Schon bald nach Kriegsende wurde die Bahnlinie demontiert. Die Gleise verschwanden irgendwo in Russland. Seit der Zeit führt das Schotterbett bis heute wie ein breiter Wanderweg durch den Wald. Großvater hütete seine Ziegen immer entlang der alten Bahnstrecke. Dort rannte Waldi weit voraus. Eines Tages tauchte vor ihm ein Hase auf. Erschrocken sah er den Hund und erstarrte zum Männchen. Die Ohren waren hoch aufgestellt und der Hase stand bewegungslos vor Schreck. Aber auch Waldi blieb mitten auf dem Weg bewegungslos stehen, die Nackenhaare gesträubt. Mit einem Hasen als Gegenüber hatte er nicht gerechnet. Verdutzt stieg er auf seine Hinterbeine und so starrten sich Hase und Hund bewegungslos an bis Großvater in lautes Lachen ausbrach. Blitzartig drehten sich die beiden Kontrahenten um und rannten wie vom Teufel gehetzt in entgegengesetzte Richtung auf der alten Bahntrasse davon. Aber keiner von beiden kam auf die Idee, einfach im Wald zu verschwinden.

Die Großeltern hatten selbstverständlich nicht nur einen Hund, sondern auch eine Katze. Die beiden mochten sich sehr. Wenn sie nicht gerade Ziegen hüteten oder Mäuse fingen, lagen sie einträchtig auf dem Sofa, die Pfoten um den anderen gelegt und schliefen. Manchmal konnte man kaum erkennen, wo in dem Knäuel der Hund und wo die Katze war. Beim Füttern wurde ganz gerecht das Futter auf zwei Näpfe verteilt. Die Katze sprang sofort vom Sofa herunter und fraß gierig ihren Napf leer. Waldi stand mit hängenden Ohren daneben und betrachte verwundert die Gier, mit der die Katze fraß. Aber wenn ihr Napf leer war, wendete sie sich sofort dem Hundenapf zu. Das gefiel Waldi so überhaupt nicht und er protestierte. Dann bekam er die Katzenkrallen um die Ohren und die Zuständigkeiten waren geregelt.

In den Anfangsjahren nach dem Kriegsende durften wir noch die Großeltern und nach deren Tod meine Tante besuchen. Später war das dann nicht mehr möglich, denn das Dorf wurde zum grenznahen Sperrgebiet. Nichteinmal die Dorfbewohner konnten ohne polizeiliche Erlaubnis das Nachbardorf betreten. Wenn ich zu Besuch kam, wusste Waldi schon lange vorher, dass ich kommen würde. Offenbar hatte er es schon längst gerochen.

Auch früher hatte Großmutter schon lange voraus gehört, wenn ihr Sohn Karl aus Berlin zu Besuch kam. Das Dorf lag an einem Abhang auf halber Höhe zwischen der Hochebene und dem Tal. Von der Hochebene von Kalteneber aus führte eine steile kurvenreiche Straße durch den Wald nach unten. Wenn oben ein Auto fuhr, war es unten im Dorf zu hören. Dann verschwanden das Auto und mit ihm das Motorengeräusch auf der Straße im Wald. Es dauerte fast fünfzehn Minuten, bis es unten ankam. Manchmal hielt Großmutter kurz inne: „Karl kimmt!“ Sie hatte das Auto von Karl oben auf der Hochebene gehört. Niemand sonst fuhr einen PKW. Nur der Lastwagen der Molkerei aus der Stadt kam regelmäßig, um die Milchkannen abzuholen. Wenn da ein Auto zu hören war, konnte das nur Karl aus Berlin sein.

Wir kamen nicht mit dem PKW, sondern mit dem Bus, der oben auf der Höhe oberhalb des Dorfes kurz anhielt. Dann fuhr er weiter hinunter ins Tal in einer anderen Richtung, die nicht durchs Dorf führte. Wir waren dann von der Bushaltestelle noch mehr als zehn Minuten unterwegs bis zum Haus der Großeltern. Wir mussten dann am nächsten Tag zur Volkspolizeistation, die einige Dörfer weiter stationiert war und uns offiziell anmelden. Es war nicht ganz einfach, dorthin zu kommen, denn niemand hatte ein Auto oder sonst eine Beförderungsmöglichkeit. Einmal gab mit meine Tante ihr Fahrrad, damit ich mich bei der Volkspolizei melden konnte. Es war schon eine ziemliche Quälerei, das Rad bis nach oben auf die Höhe zu schieben. Aber dann ging es endlich steil bergab ins Tal bis zum nächsten Dorf. Das Fahrrad wurde immer schneller, aber die Bremsen funktionierten nicht. Es gab keinen Rücktritt und die Handbremse zeigt keinerlei Wirkung. Die Fahrt wurde immer schneller und irgendwann würde ich abheben zu einem Rundflug über das Eichsfeld. In einer Kurve stürzte ich dann kopfüber in eine weiche Wiese. In der Handbremse war kein Bremsgummi mehr, und die Halterung hatte schon tiefe Rillen in den Reifen geschnitten. Nur noch einen kurzen Augenblick und die aufgeschnittenen Reifen wären wie bei einem Jongleur durch die Luft gewirbelt.

Später dann, als das Dorf in der Sperrzone lag, bekam Besuch aus dem Westen keine Besuchserlaubnis mehr. Wir stiegen in den Bus und gaben dem Fahrer Bescheid, wohin wir wollten. Er verstand sofort, dass wir nicht ganz legal ins Dorf kamen. Oben auf der Hochebene hielt er dann in einer Kurve kurz vor dem Wald an und wir stiegen aus. Direkt hinter der Kurve lag der Kontrollposten der Volkspolizei, der mit einem Schlagbaum gesichert war. Alle Insassen des Busses wurden kontrolliert und zeigten ihre Besuchserlaubnis. Wir aber liefen ungesehen durch den Wald hinunter ins Dorf. Im Dorf gab es damals noch keine Polizeistation. Nur manchmal kam die Volkspolizei zu Kontrollen. Sie besuchten dann den Bürgermeister in seinem Haus hoch oberhalb des Dorfes. Die Bürgermeisterfrau, die wusste, dass wir zu Besuch waren, hängte dann Bettwäsche auf. Das war für uns ein Signal, im Wald zu verschwinden. Erst wenn die Bettwäsche wieder abgenommen wurde, konnten wir zurück ins Haus.

Als Waldi noch lebte, konnten wir ganz offiziell bis zur Bushaltestelle oberhalb des Dorfes fahren und von dort zu Fuß laufen. In der reinen und klaren Luft, die durch keinerlei Autoabgase verunreinigt war, roch Waldi offenbar schon lange vor unserer Ankunft, wer da zu Besuch kam. Aufgeregt und freudig bellend kam er uns schon weit auf der Straße entgegen. Später dann war auch das dünn besiedelte Eichsfeld vom typischen DDR – Geruch erfüllt. Selbst der Wald und die Höhe von Kalteneber stank nach dem DDRSprit. Waldi hätte uns sicher nicht mehr riechen können.

Als er dann älter wurde, kam er nur noch bis zum Hoftor, dann nur noch bis zur Haustür. Zuletzt sprang er nur noch vom Sofa herunter, aber auch dazu war er zuletzt zu schwach. Er hob nur ein wenig die Augenlider, und die Schwanzspitze wackelte fast unsichtbar.

Eines Tages kam ich zu Besuch und Großvater weinte bitterlich. „Heute war ich beim Tierarzt und habe Waldi eine Spritze geben lassen. Ich habe seinen letzten Atemzug auf meiner Hand gespürt. Hätte ich ihn doch einfach auf dem Sofa liegen lassen. Er wäre ganz einfach eingeschlafen!“

Danach hatte Großvater nie mehr einen Hund.

Schließlich war er selbst alt geworden und hütete keine Ziegen mehr.

Von Hunden, Katzen und anderen Menschen

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