Читать книгу Von Hunden, Katzen und anderen Menschen - Gerhardt Staufenbiel - Страница 9
ОглавлениеWaldi der Eisenbahner
Mein erster eigener Hund war ein reinrassiger Mischling.
Ein wenig sah er aus wie ein kleiner Border Collie. Sein langes glattes Fell war schwarz - weiß. Die Brust rein weiß, die Ohren weiß und schwarz und der Kopf glänzte in einem schönen Schwarz. Der lange gefiederte Schwanz ragte stolz in die Höhe und die sanften braunen Augen blickten treu und liebevoll, sodass bei seinem Blick jedes Herz schmolz.
Eigentlich war es nicht mein Hund, er war nur für ein paar Jahre „ausgeliehen“. Aber ich habe ihn so geliebt, dass ich später in meinem Leben - mit einer Ausnahme - immer langhaarige schwarz - weiße Hunde hatte. Waldi war der Hund meines Onkels, der aus dem Eichsfeld in das Ruhrgebiet „ausgewandert“ war. Dort gehörte ihm ein Dachdeckerbetrieb.
Onkels Sohn, mein Cousin Edmund war immer noch in Kriegsgefangenschaft verschwunden. Er gehörte zu den „Zehntausend“, die in russischen Lagern schmorten. Unmittelbar vor dem Abitur wurde er aus der Schule geholt und nach einer kurzen Ausbildung auf die Krim in den Krieg geschickt. Später erzählte er einmal - wenn er überhaupt jemals von seinen Kriegserlebnissen sprach - wie er auf der Krim mit aufgepflanztem Bajonett durch ein Gebüsch schlich. Plötzlich tauche ihm gegenüber ein blutjunger russischer Soldat auf, ebenfalls mit aufgepflanztem Bajonett. Beide schrien entsetzt auf, warfen die Waffe ins Gebüsch und rannten in entgegengesetzter Richtung davon. Der Krieg war da schon an sein Ende gekommen. Andernfalls wäre mein Cousin wohl wegen Feigheit vor dem Feind erschossen worden.
Irgendwie gelang es ihm, sich bis an die Elbe durchzuschlagen. Er hat nie davon erzählt. Aber eine russische Jüdin, die wegen ihrer deutschen Abstammung nach Deutschland ausreisen durfte, schrieb mir einmal die Geschichte eines jungen deutschen Soldaten, dem sie begegnet war. Sie war damals sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie war allein zu Hause in der kleinen Bauernkate und kochte Kartoffeln. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein deutsches Sturmgewehr erschien in der Tür. Dann sprang ein blutjunger deutscher Soldat mit vor Angst weit aufgerissenen Augen in den Raum. Die beiden starrten sich eine Weile bewegungslos an. Dann aber sah meine Russin, dass der junge Deutsche mit gierigem Blick auf die Kartoffeln schaute. Spontan nahm sie eine heiße Kartoffel und gab sie ihm in die Hand. Er stopfte sich die kochend heiße Kartoffel gierig in den Mund und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Wer weiß, vielleicht war das mein Cousin Edmund?
Edmund kam bis ans Ostufer der Elbe. Aber die Grenze zwischen der amerikanischen und der russischen Zone war strengstens bewacht. Nachts leuchteten Suchscheinwerfer die Elbe ab und immer wieder tönten Maschinengewehrsalven. Dann, in einer Nacht nahm Edmund seinen ganzen Mut zusammen und schwamm mit Büschen getarnt durch den Fluss. Aber kurz bevor er die amerikanische Zone erreichte, flammten Suchscheinwerfer auf und Gewehrsalven wurden auf ihn abgefeuert. Zwar antworteten die Amerikaner auf der westlichen Seite mit einem gewaltigen Gegenfeuer, aber Edmund wurde gefangen genommen und verschwand für viele Jahre in sibirischen Lagern. Erst 1955 gelang es Adenauer bei einem Besuch in Moskau, die letzten Kriegsgefangenen auszulösen. Am 7. Oktober 1955 kamen die ersten westdeutschen 600 Heimkehrer der „Zehntausend“ im Grenzdurchgangslager Friedland an. Unter ihnen auch mein Cousin Edmund. Bundespräsident Theodor Heuss besuchte sie dort wenige Tage später und hieß sie willkommen. Er vertrat dabei den an Grippe erkrankten Kanzler Adenauer.
Edmund hätte so gerne studiert, aber er kam als gebrochener Mann zurück. Zu seinem Glück hatte seine Freundin die ganzen Jahre auf ihn gewartet. Hin und wieder war sie mit einem kleinen Handwagen nach Thüringen zu meinen Großeltern gepilgert und hatte Lebensmittel quer durch das zerbombte Deutschland nach Westfalen zu meinem Onkel gebracht. Später lebten beide vorübergehend in einem kleinen Zimmer, das mein Onkel neben dem Lagerschuppen einrichtete.
In diesem Schuppen hatte auch Waldi seine Hütte. Er durfte nicht in die Wohnung, denn - wie jeder weiß - Hunde gehören nicht in die Wohnung. Nur nach Feierabend holte mein Onkel den Hund in die Wohnstube und versuchte, ihm Kunststücke beizubringen. Sitz, Platz, gib Pfötchen. Das ging ja alles noch. Mit traurigem Blick versuchte Waldi alle Befehle meines Onkels auszuführen. Aber als er dann zu allem Überfluss auch noch auf den Hinterbeinen stehen und tanzen sollte, konnte er einfach nicht mehr. Tief traurig und flehend blickte er meinen Onkel aus seinen schönen dunklen Augen an: „Ich kann doch nicht auf den Hinterbeinen tanzen!“ „Der Hund taugt nichts! Er ist zu blöd zum Tanzen!“
Bei mir musste er nicht tanzen. Wir trieben uns den ganzen Tag im Schuppen herum und trieben lauter Unfug. Manchmal stieg ich in den gewaltigen Kirschbaum und stopfte mich voll mit Kirschen. Waldi stand dann unten und hielt Wache. Aufmerksam beobachtete er mich. Wenn aber meine Klettermanöver zu waghalsig wurden, bellte er laut: „Pass doch auf! Das ist gefährlich!“
Einmal waren wir beiden im Werkschuppen, als ich eine halb vertrocknete Dose mit roter Farbe entdeckte. Ich malte die alten Dachziegel an, aber irgendwie war das nicht befriedigend. Waldi saß da und beobachtete mich aufmerksam. Und da ritt mich wohl der Teufel. Ich hob ihn auf die Werkbank und begann, seine schöne weiße Brust rot anzumalen. Das war sehr mühsam, denn die Farbe wollte nicht mehr so recht haften. Geduldig saß Waldi da und ließ alles mit sich geschehen. Dann waren alle weißen Stellen rot angemalt. Oh Schreck, wie bekomme ich die Farbe wieder ab? Die Farbe haftete fest am Fell. Meine Tante und die spätere Frau meine Cousins waren so recht erfreut, als sie den armen Hund sahen. Die Farbe war weder durch waschen noch irgend eine andere Maßnahme zu entfernen. Man musste dem armen Hund das Fell abschneiden. Aber es ist ja wieder nachgewachsen.
Erbost sagte mein Onkel: „Der Hund taugt nichts. Aber offenbar lässt er sich von dir alles gefallen. Du kannst ihn haben!“ Mein Vater war so gar nicht begeistert. „Ein Hund gehört nicht in die Wohnung! Wo sollen wir ihn denn hintun?“
Er war Eisenbahner. Die Eisenbahner verdienten damals recht wenig. Dafür aber gab es umfangreiche Sozialleistungen. Zur Dienstwohnung im Bahnhof gehörte ein riesiger Garten, der etwa zehn Minuten entfernt am Bahndamm lag. So konnten sich die Eisenbahner mit Obst und Gemüse selbst versorgen. Im Garten standen fünf oder sechs uralte Apfelbäume und fast fünfzig Zwetschenbäume. Die säumten den Auslauf für die Hühner, die nachts in ein großes Hühnerhaus einzogen. Dort könnte ja Waldi seine Hütte bekommen. Dann würde er auch aufpassen, dass der Fuchs keine Hühner holt.
Also wurde Waldi in einen großen Korb gepackt und in den Güterwagen verfrachtet. Das war billiger, als wenn wir ihn mit ins Abteil genommen hätten. Mein Vater suchte extra einen Bummelzug mit vielen Zwischenstopps aus. Dann konnten wir zum Güterwagen gehen und Waldi, der verzweifelt in seinem Korb bellte, Trost zusprechen. Das hielt an, bis der Zug wieder weiterfuhr. Endlich kamen wir zu Hause an und Waldi durfte seine Hütte am Hühnerstall beziehen.
Sofort nach der Schule stürmte ich in den Garten und befreite Waldi aus seiner Hütte. Wir tobten durch den Garten oder ich machte in einer Laube, treu bewacht von Waldi meine Hausaufgaben. Bald waren wir unzertrennlich. Nur nachts musste er wieder allein in seine Hundehütte.
Wir waren frisch zugezogen. Die Heimat eines Eisenbahners liegt wohl auf den Schienen. So waren wir immer Fremde und Zugezogene. Karl Valentin meint zwar, das Fremde nur in der Fremde fremd sind, aber Eisenbahner sind überall in der Fremde. Zudem kamen wir aus dem katholischen Eichsfeld. Aber Hessen war protestantisch. Das war fast schlimmer, als wenn heute ein Muselmane aus fernen Ländern nach Deutschland kommt. In der protestantischen Kreisstadt Eschwege, in der ich eingeschult wurde, gab es sogar eine katholische Bekenntnisschule. Mein Vater meinte, dass ich als katholischer Eichsfelder nicht eine dieser heidnischen allgemeinen Grundschulen besuchen kann. Das Schulgebäude der Bekenntnisschule war im Krieg zerbombt worden und die Unterrichtsräume lagen nun im großen Pfarrhaus. Anfangs gab es nur eine einzige Klasse mit weit über 50 Kindern. Die Lehrer waren entweder im Krieg gefallen oder noch in Ausbildung. So wurde ein alter Schulmeister mit über achtzig Jahren aus der Pension geholt. Er versuchte, die Kindermeute mit kaiserzeitlichen Methoden zu unterrichten. Jeden Morgen nach dem obligatorischen Morgengruß legten wir als Erstes in einem Ritual unsere Hände auf die Schulbänke, die in langen Reihen nebeneinander aufgestellt waren. Der Schulmeister schlug dann mit einer dünnen und elastischen Haselrute auf die Finger. Schulmeisterlein wollte uns so zeigen, dass es besser war, seinem Kommando zu folgen. Disziplin und bedingungsloser Gehorsam sind schließlich das Wichtigste im Leben.
Der Schlag mit der Haselrute, die pfeifend durch die Luft fuhr, tat so richtig weh, wenn sie mit einem lauten Klatsch auf den halbverhungerten Fingern landete. Ich zog einfach die Hände ganz kurz weg, wenn die Haselrute herunter sauste. Meine Kameraden meinten: „Bist du verrückt, wenn der das sieht setzt es gewaltige Schläge!“ Aber Schulmeister war offenbar schon halb blind und ich sass so etwa an achter oder neunter Stelle in der langen Bankreihe. Soweit konnte er ohnehin nicht mehr sehen. Außerdem rechnete er nicht mit einer derart verderbten Respektlosigkeit.
Zum Glück kam aber bald eine junge und engagierte Lehrerin und unsere riesige Klasse wurde aufgeteilt. Wir waren vielleicht nur noch etwas über vierzig Kinder. Ich sass in der ersten Reihe und hatte so richtig Spaß am Unterricht. Ständig meldete ich mich und hatte große Freude am Lernen. Die Lehrerin meinte nun, dass ich doch in die letzte Reihe wechseln könnte, damit sie die unaufmerksamen und schwachen Schüler besser im Blick hätte. Aber sofort war mein Lerneifer vorbei. Ich machte Fehler und verlor völlig das Interesse am Unterricht. Ich verstand einfach nicht, was diese merkwürdigen Kringel und Zeichen bedeuten sollten. Sie erklärte zwar: Dies ist ein „O“ und das ein „A“. Dabei malte sie irgendetwas an die Tafel, was ich nicht erkennen konnte. So blieb mir lange Zeit das Geheimnis der Buchstaben völlig verborgen. Ich lernte einfach das Schreiben nicht und quälte mich damit, die merkwürdigen Kringel die ich nicht genau erkennen konnte nach zu malen.
Bevor die Lehrerin meinen rätselhaften Veränderungen nachforschen konnte, wechselte sie die Schule und wir bekamen einen neuen Lehrer, der nicht von meinem merkwürdigen Wechsel wusste. Außerdem zogen wir in einen neuen „Klassenraum“ um. Das war der Veranstaltungs- und Tanzsaal des Pfarrhauses. Ich saß oben auf der Empore, weit entfernt von der Tafel. Weil ich ganz einfach nicht erkennen konnte, was dort vorn geschrieben wurde, machten wir den ganzen Tag lang nur lauter Unsinn. Wir waren ja soweit entfernt vom Lehrer, dass der unser Treiben oben auf der Empore ohnehin nicht mitbekam.
Niemand bemerkte, dass ich kurzsichtig war und dringend eine Brille hätte tragen müssen. Es sollte noch viele Jahre dauern, in denen meine schulischen Leistungen ganz rätselhaft zwischen hervorragend und absolut grottenschlecht wechselten. Meine Eltern waren todunglücklich, dass sie ein dummes Kind hatten, das wohl besser auf eine Sonderschule geschickt werden sollte. Erst sehr viel später merkte ich selbst, dass ich offenbar nicht so gut sehen konnte wie meine Klassenkameraden.
Damals war unser Klassenzimmer ein Wintergarten an einem herrschaftlichen Wohnhaus, das zur Schule umfunktioniert worden war. Der Glasbau war direkt an ein ehemaliges Wohnzimmer angebaut. Im Winter konnte das Wohnzimmer mit einem Kohleofen geheizt werden, aber der Glasanbau war bitterkalt. Also wechselten wir jede Woche die Sitzreihen. Die erste Reihe vorn im Glasbau wechselte in die letzte Reihe im warmen Wohnzimmer und alle anderen rückten eine Reihe vor. Wenn ich vorne saß, waren meine Noten gut und der Unterricht interessierte mich. Hinten aber schrieb ich schlechte Noten. Einmal, als ich gerade wieder in die letzte Reihe gewechselt war, beschwerte ich mich über die Schmiererei vorn an der Tafel. Mein Banknachbar, der später dann einen kleinen Welpen von meiner Waldi bekam, meinte nur: „Der schreibt doch wie immer!“
Etwa eine Woche später wurde ich dann zum Rektor gerufen, der mir einen Verweis erteilte, weil ich ihn auf der Straße nicht gegrüßt hatte. Erst da merkte ich, dass irgendetwas mit meinen Augen nicht stimmen konnte. Für meine Eltern war es eine kleine Tragödie: „Es ist ein furchtbares Schicksal! Wir haben ein dummes Kind, das zudem auch noch eine Brille tragen muss!“ Aber die Brille hat mich dann doch noch vor der Sonderschule bewahrt.
Aber zunächst waren wir von Eschwege umgezogen und ich wechselte in die einklassige katholische Bekenntnisschule in Wanfried. Das war ein altes Gebäude, das früher einmal als Hochzeitshaus gedient hatte. Die Bürger mieteten das Hochzeitshaus für Familienfeiern von der Gemeinde. Einmal wurde gerade eine Hochzeit gefeiert, als es einen furchtbaren Knall gab. Das Geschirr auf den Tischen sprang in die Höhe und Gläser zersprangen. Als die Hochzeitsgesellschaft erschrocken aus dem Haus rannte, prangte oben am Berg eine strahlend helle Felswand aus Kalkstein, die vorher nicht dort gewesen war. Der gesamte Berghang war heruntergebrochen und der Kalkfelsen kam zum Vorschein. Diese ,Plesse‘ ist bis heute ein Wahrzeichen des Ortes.
Die allgemeine Grundschule und die einklassige katholische Bekenntnisschule teilten sich den Schulhof. In jeder Pause wurde Jagd auf die „katholischen Kniestchen“ gemacht. Wir blieben zwar möglichst immer eng aneinandergedrängt in eine Ecke des Schulhofes gedrückt, aber Horden von protestantischen Schülern trieben uns auseinander und die Jagd begann. Vielleicht waren es auch überhaupt keine protestantischen Schüler, sondern solche, die nicht auf die katholische Bekenntnisschule gingen? Das dauerte, bis endlich die Pausenglocke erklang. Es ist schon so: Wenn man anders ist als die Anderen, dann ist es besser, wenn man zu den Mehreren gehört! Schließlich wollen die ja ihren Spaß haben. Oder sollte es einmal möglich sein, dass die Menschen trotz aller Unterschiede wie Brüder miteinander leben? Obwohl - niemand streitet besser als Brüder!
Ich war also in unserem Eisenbahnergarten mit Waldi und tobte im Garten herum. Ich rannte mit Waldi im Garten um die Wette, da kam eine wilde Horde von Knaben, die zu den Mehreren gehörten. „Du blödes katholisches Kniestchen! Wir machen dich fertig!“ In meiner Angst kletterte ich wie ein Eichhörnchen in meinen riesigen Apfelbaum, in dem ich ganze Nachmittage verbracht hatte. Aber es nutze nichts: „Hock du nur vor Angst in deinem Baum. Wir kommen jetzt über den Zaun und holen dich!“ In meiner Not griff ich nach den unreifen Äpfeln und warf nach den Giftzwergen. Unten am Stamm saß Waldi und bellte, von oben warf ich mit Äpfeln. Aber unsere Verteidigungsstrategie macht die Bande nur noch wütender. Sie kamen immer näher an den Gartenzaun und wollten schon hinüberklettern. Und dann machten sie den entscheidenden Fehler: Sie nahmen Steine und warfen nach Waldi. „Wir machen deinen blöden Hund fertig!“ Waldi jaulte verängstigt und getroffen auf und rannte davon. Da packte mich eine gewaltige Wut. Ich vergaß alle Angst und sprang vom Baum herunter. Die paar Äpfel, die ich noch in den Taschen hatte, benutze ich als Wurfgeschoss. Aber dann griff ich in meiner Wut mehrere Kohlköpfe, die da herumlagen, und rannte auf den Zaun zu. Mein Anblick muss wahrhaft schreckenerregend gewesen sein. In beiden Händen Kohlköpfe wie Keulen schwingend mit wutverzerrtem Gesicht und laut brüllend. Jedenfalls rannten die Angreifer schreiend davon. Seit der Zeit gab es niemals mehr einen Angriff auf das ,katholische Kniestchen‘. Nun weiß ich auch ein für alle Male, wie es gewesen sein muss, wenn Berserker im Kriegsrausch angegriffen haben. Allerdings nehme ich an, dass die nicht mit Äpfeln oder Kohlköpfen geworfen haben. Aber auch ohne Kohlköpfe müssen die so furchterregend gewesen sein, dass alle Gegner voller Angst Reißaus nahmen. Mit besinnungsloser Wut gewinnt man eben Glaubenskriege! Aber es war gar kein Glaubenskrieg. Ich habe nur meinen geliebten Hund verteidigt.
Eigentlich war ich nicht immer nett zu ihm. Im Winter sind wir mit dem Schlitten in die Hügel der Umgebung gewandert. Oben angekommen setzte ich Waldi vorn auf den Schlitten, ich klemmte mich dahinter. Dann rasten wir hinunter ins Tal. Anfangs war Waldi die Schlittenfahrt zu unheimlich, aber langsam entwickelte er ein absolutes Vertrauen zu mir. Wir rasten gemeinsam ins Tal und unten rammte der Schlitten zum Bremsen in einen Schneehaufen.
Waldi saß mit fliegenden Ohren und wehendem Schwanz vorn auf dem Schlitten, ich dahinter. Dann packte mich der Teufel an den Ohren. Als Waldi auf dem Schlitten saß, gab ich ihm einen heftigen Stoß und er raste ungebremst ins Tal. Entsetzt sah ich, dass der ungesteuerte Schlitten auf einen Zaun zuraste. Aber Waldi sprang im letzten Augenblick ab. Schlitten und Hund überschlugen sich, der Pulverschnee staubte, aber sonst war alles noch heil.
Waldi hat mir das nie übel genommen. Alles was ich mit ihm anstellte, war für ihn in Ordnung. Wir waren unzertrennliche Kameraden, die alles gemeinsam unternahmen. Schließlich waren wir beide fremd in der Fremde.
Schließlich nahm die Natur ihren Lauf und Waldi wurde sehr zur Freude aller Rüden der Umgebung läufig. Waldi wurde im Hühnerstall eingesperrt, denn ein Hund gehört nicht in die Wohnung. Jede Nacht gab es eine große Hundeversammlung in unserem Garten, die nicht immer ganz geräuschlos ablief. Als sich die Nachbarn beschwerten und vorschlugen, dass Waldi mindestens für die Zeit ihrer Läufigkeit in der Wohnung bleiben sollte, meinte mein Vater nur: „Ein Hund gehört nicht in die Wohnung! Das weiß doch jeder!“ Schließlich kam es, wie es kommen musste, Waldi war in freudiger Erwartung. Sie brachte nur zwei oder drei Welpen zur Welt, genau weiß ich das nicht mehr. Wohin denn nun mit den kleinen Waldis? Ein Bauer aus der Nachbarschaft schlug vor, das zu tun, was man in solchen Fällen immer macht. Die Kleinen in einen Sack stecken, ein paar Steine dazu und im Fluss versenken. Das mochte mein Vater auf keinen Fall tun. Also muss man die Kleinen erschlagen. Mein Vater konnte ja nicht einmal ein Huhn schlachten. Das erledigte immer ein Bahnbeamter, der auch im Nebenerwerb eine kleine Landwirtschaft betrieb. Also wurde für die Kleinen ein Platz gesucht, wo sie vergnügt ihr Leben verbringen konnten. Einer der Welpen kam in das Dorf Heldra zu meinem Klassenkameraden Erich. Ich habe die Kleine nie wiedergesehen, denn Heldra war sehr schwierig zu erreichen. Heldra war zwar nur wenige Kilometer entfernt, aber das Dorf lag in einem engen Korridor, umzingelt vom Staatsgebiet der DDR. Der Zug nach Heldra musste sogar ein kleines Stück durch die DDR fahren. Er wurde regelmäßig von der Volkspolizei gestoppt und die Fahrgäste kontrolliert. Ich weiß nicht mehr, wie Erich den kleinen Hund nach Heldra brachte, aber schließlich kam er dort glücklich an. Vor ein paar Wochen habe ich Erich auf einem Klassentreffen wiedergesehen. Begeistert erzählte er mir vom kleinen Waldi. „Es war der beste Hund, den ich je hatte! Ich hatte immer Nachkommen von ihr, sogar noch bis heute!“
Ein paarmal noch wurde Waldi läufig. Schließlich wurde mein Vater weich und der Hund durfte für diese Zeit der Läufigkeit in der Wohnung bleiben. So gab es wenigstens keine weiteren Nachkommen mehr. Aber endlich entschied mein Vater: „Ein Hund gehört nicht in die Wohnung! Im Garten kann er während der Läufigkeit nicht blieben. Also kommt er zurück zu Onkel!“ Der war so gar nicht begeistert, denn den Köter wollte er nicht wieder zurückhaben. Aber was half‘s, Waldi wurde in einen Korb gepackt, in den Güterwagen verfrachtet und mit dem Zug ins Ruhrgebiet zurückgebracht. Onkel sperrte Waldi wieder in die Hütte auf dem Hof. Aber Waldi hatte unbändiges Heimweh nach mir und heulte die ganze Nacht. „So geht das nicht weiter! Da kann ja kein Mensch schlafen!“ Also kam Waldi in eine Hütte auf dem Lagerplatz in der Nähe des Bahndammes. Dort donnerten Tag und Nacht die Güterzüge vorbei. Das eintönige Lied der ratternden Züge erinnerten ihn offenbar an seine Zugfahrten zu mir. Denn immer wieder war er verschwunden. Man fand ihn ein ganzes Stück entfernt, wie er am Bahndamm entlang viele Kilometer weitergelaufen war. Aber diese Bahnlinie wollte einfach nicht zu mir führen! Er schaffte es nie wieder zurück zu mir.
Der Zaun wurde besser und besser gesichert, aber Waldi entwischte und rannte immer wieder am Bahndamm entlang. Eines Tages war er wieder auf dem Weg zu mir, als er vom Zug erfasst und ein ganzes Stück mitgeschleift wurde. Offenbar hatte er in einer Kurve versucht, auf den langsam fahrenden Zug auszuspringen. So beendete er sein Leben, wie es sich für einen Eisenbahnerhund gebührt, auf der Schiene.
Der Nachruf meines Vaters brachte ihn nicht mehr zurück: „Es war so ein lieber Hund! Warum soll ein Hund nicht in der Wohnung sein? Schließlich sind wir keine Bauern mehr. Und sogar der Waldi von Großvater war ja immer in der Wohnung! Zusammen mit der Katze! Wie dumm war ich doch, dass ich einfach ungeprüft die alten Regeln übernehmen wollte! Sie passen nicht mehr zu uns!“
Aber es gibt keine Maschinen, mit denen wir die Zeit wieder zurückdrehen können. Dennoch ist es gut, wenn wir aus unseren Fehlern der Vergangenheit lernen für die Zukunft. Nicht immer wieder dieselben Fehler machen!