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Die Rekonstruktion der ägyptischen Mythologie
ОглавлениеDie Ägyptologen von heute sehen sich einer Fülle von Fragmenten gegenüber, verstreuten Anspielungen auf die Mythen Ägyptens, die man aus dem Inhalt völlig verschiedener Quellen gewinnt, welche sich von 3050 v. Chr. bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr. verteilen. Wie man sieht, ist die Zeitspanne, die der Begriff „Altes Ägypten“ abdeckt, extrem lang – je nachdem, wo man die Grenzen zieht, über 3000 Jahre. Angesichts der bestehenden Probleme, Ereignisse mit spezifischen Daten zu versehen, neigt die Ägyptologie dazu, sich statt Datumsangaben in der christlichen Zeitrechnung auf die Regierungszeit eines Königs, seine Dynastie oder die Epoche, in der er regierte, zu beziehen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. unterteilte der ägyptische Priester Manetho die Könige Ägyptens in dreißig Dynastien (spätere Autoren fügten eine 31. hinzu). Zwar lässt jede Dynastie vermuten, dass sie von einer Herrscherlinie – einer biologischen Ahnenfolge – durchzogen ist, doch ist das nicht immer der Fall, denn Manetho verwendete außerdem wichtige Ereignisse wie den Bau der ersten Pyramide oder einen Wechsel des Königssitzes für die Trennung zwischen Zeitabschnitten. Die moderne Ägyptologie hat Manethos Dynastien ergänzt und zu längeren Abschnitten gebündelt, bei denen es sich teils um Phasen handelt, in denen ein einziger König über das gesamte Land herrschte (Frühdynastische Zeit, Altes, Mittleres und Neues Reich, Spätzeit), teils um solche, in denen die Herrschaft aufgeteilt war (Prädynastische Zeit, Erste, Zweite und Dritte Zwischenzeit). Auf diese großen Abschnitte der ‚Pharaonenzeit‘ folgte die Zeit der Ptolemäer, als Könige makedonisch-griechischer Herkunft Ägypten regierten, und später die Römerzeit. Im vorliegenden Buch bin ich diesen ägyptologischen Datierungsweisen gefolgt.
Die Hügel der Duat – des Reiches für das Leben nach dem Tod
Der griechische Autor Plutarch – hier ein Fantasiebild – hat viele ägyptische Mythen aufgezeichnet.
Da es keine einzelne Quelle gibt, die uns die Mythen der alten Ägypter ordentlich erklärt, sind die Ägyptologen gezwungen, sie aus der ohnehin fragmentarischen Überlieferung zusammenzustückeln, die seit jener fernen Zeit überlebt hat. Viele Mythen hat man auf Papyri aufgezeichnet, die später als Grabbeigaben oder in Tempelruinen gefunden wurden; auf andere spielen Grabstelen an, die Teil einer Bestattung waren. In den modernen Namen einiger Quellen spiegelt sich deren ursprünglicher Fundzusammenhang: Die Pyramidentexte hat man auf den Wänden von Königspyramiden des Alten Reiches seit der 5. Dynastie entdeckt, wogegen die Sargtexte, die man aus dem Mittleren Reich kennt, auf die Särge derjenigen gemalt waren, die sich solche Luxusstücke leisten konnten. Das Totenbuch (bei den Ägyptern hieß es „Das Buch vom Herausgehen am Tage“) gab seit der späten Zweiten Zwischenzeit den Verstorbenen in Form von Abschriften auf Papyrusrollen und Särgen einen Reiseführer durch das Jenseits an die Hand und blieb von da an noch über tausend Jahre in Gebrauch. In beinahe jedem Fall werden die Mythen verkürzt wiedergegeben oder nur in dunklen Anspielungen erwähnt; manchmal geschah dies aus Anstandsgründen – so schrecken die Ägypter zum Beispiel davor zurück, innerhalb eines Grabmals den Tod des Osiris zu erwähnen, weil, so ihre Überzeugung, die Beschreibung dieses traumatischen Vorfalls in einem Grabkontext zu magischen Schädigungen des Toten führen konnte – während es in anderen Fällen überflüssig war, den Mythos ausführlich zu erklären, weil man voraussetzte, dass der Leser die Geschichte schon kannte.
Im Lauf der enorm langen ägyptischen Geschichte wurde das Land durch viele Kulturen des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens beeinflusst, ja, zu bestimmten Zeiten sogar von ihnen beherrscht – von den Assyrern und Persern bis hin zu Griechen respektive Makedonen und Römern. Ägyptens Mythen passten sich den Zeiten an, nahmen dank solchen Einflüssen neue Nuancen an und fanden zu neuen Ausdrucksformen. Außerdem entwickelten sich in jeder ägyptischen Provinz („Gau“ oder griechisch nomos genannt) Variationen zu bestimmten Mythen; folglich gab es nicht die eine korrekte Version. Das ist bedauerlich und doch auch befreiend: bedauerlich, weil deshalb keine Einführung in die ägyptischen Mythen jemals eine authentische Wiedergabe dessen sein kann, was die alten Ägypter glaubten, aber befreiend, weil ich als dessen Chronist nicht ans strikte Nacherzählen gefesselt bin. Was in diesem Buch steht, ähnelt also eher den Werken Plutarchs, der die Elemente des Osirismythos nahm und für eine griechische Leserschaft neu zusammensetzte, als einer typischen akademischen Analyse. Wie auch Plutarch habe ich Mythenfragmente genommen, die gelegentlich aus verschiedenen Zeiten stammen, und eine zusammenhängende Erzählung aus ihnen geschaffen. Wenn die Leser Plutarch verzeihen, dass er sich die Rosinen herausgepickt hat, dann bin ich zuversichtlich, dass sie auch mir vergeben können.
Die zwei Länder
Ägypten ist ein Land scharfer Gegensätze. Der Nil schlängelt sich von Süden nach Norden durch sein Tal, gesäumt von einem schmalen Streifen kultivierbaren Bodens, bis er nahe dem heutigen Kairo das antike Memphis erreicht, wo er sich in eine Reihe von Armen auffächert und so das riesige fruchtbare Dreieck des Nildeltas bildet. Wegen dieses dramatischen Wandels in der Landschaft teilten die Ägypter ihr Land in das südliche Ober- und das nördlich gelegene Unterägypten auf – also das Niltal südlich von Memphis beziehungsweise das Delta – und sprachen von Ägypten als von den Zwei Ländern. Für jede Hälfte stand eine eigene Krone, die Rote Krone für Unterägypten und die Weiße Krone für Oberägypten; man kombinierte sie zur Doppelkrone, die die Herrschaft des Königs über das ganze Land verkörperte. Außerdem beeindruckte die Ägypter der schroffe Kontrast zwischen der öden, trockenen Wüste, die sie das ‚rote Land‘ nannten, und dem fruchtbaren Boden, von dem man als vom ‚schwarzen Land‘ sprach. Auch Osten und Westen hatten ihre Bedeutung; mit Blick auf die aufgehende Sonne verbanden die Ägypter den Osten mit neuem Leben und Wiedergeburt, während der Westen, wo die Sonne jeden Abend ‚starb‘, zum Reich der Toten wurde; deshalb legte man Gräberfelder oft in der Wüste westlich des Nils an.