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Das Götterverständnis

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Die ägyptischen Gottheiten sind eine bunte Mischung, die vor Leben nur so sprüht; sie zanken sich, kämpfen, morden, gehen Beziehungen ein und können an Altersschwäche sterben (ehe sie dann wiedergeboren werden, was viel über die ägyptische Liebe zur zyklischen Zeit aussagt). Außerdem konnten sie in einer Vielzahl von Formen Gestalt annehmen, und zwar an mehreren Orten zugleich, während ihr wahres Wesen fern und den Blicken verborgen am Himmel verblieb; so vielgestaltig ihre Form war, sie waren dennoch niemals allwissend oder allgegenwärtig. Da ihnen bestimmte göttliche Zuständigkeiten auferlegt waren (beispielsweise Osiris die Regeneration oder Min die Fruchtbarkeit), waren sie an Macht beschränkt und mussten, um ihre Kräfte kurzzeitig zu vereinen, miteinander verschmelzen, sofern sie jenseits ihres kosmischen Ressorts ein Ziel erreichen wollten. So verschmilzt der hinfällige Sonnengott, dem die Fähigkeit und Macht fehlt, sich selbst mit neuer Energie aufzuladen, allnächtlich mit Osiris, auf dass er die erneuernde Kraft dieses Gottes nutzen kann, um dann selbst in einer neuen Morgendämmerung wiedergeboren zu werden. Manchmal verwandelte sich, wenn eine Gottheit die Eigenschaften einer anderen annahm, er oder sie in jene andere Gottheit – als beispielsweise Hathor als das Auge des Re die Menschheit angriff, verwandelte sie ihre rasende Wut in die unverhohlen blutdürstige Göttin Sechmet. Anfangs ist das komplexe Wesen von Ägyptens Göttern für moderne Leser verwirrend, doch im Lauf der folgenden Seiten wird es hoffentlich klarer werden.

Eine notwendige Anmerkung: So nützlich Detailanalysen der Eigenschaften der Götter und der mit ihnen verbundenen Kulte im Wandel der Zeiten sind, so lenken sie doch von ihrer Eigenart ab und fehlen darum im vorliegenden Buch weitgehend; der Vorzug wurde der Betonung der göttlichen Persönlichkeiten und ihrer ‚menschlichen‘ Züge gegeben. Für Leser oder Studierende, denen das alte Ägypten neu ist, ist mein Ansatz, wie ich hoffe, ein Gewinn, indem er ihnen eine nützliche Einführung in die Mythen an die Hand gibt, deren Geschichten Luft zum Atmen lässt und nur in Maßen ‚moderne‘ Einschübe und Analysen vorsieht. Vor allem aber sollen die Lektüre dieser Mythen und das Wissen, wie die Ägypter es mit der Welt aufnahmen, unterhaltsam sein – denn von ihrem Erklärungswert einmal abgesehen sollten die Mythen ja auch damals schon unterhalten. In diesem Geist greift der Leser hoffentlich zu dem vorliegenden Buch.

Um die Fragen zu klären, die am Beginn dieser Einleitung stehen, habe ich das Buch in drei Abschnitte unterteilt: 1. Die Zeit der Götter oder Woher wir alle kommen, 2. Die lebendige Welt oder Was um uns herum geschieht und 3. Die Mythologie des Todes oder Das Leben im Jenseits. Ich hoffe, dass Sie sich beim Weiterlesen in die Sandalen eines alten Ägypters – oder einer alten Ägypterin – versetzen und die Welt aus deren Sicht zu betrachten versuchen. Stellen Sie sich auf Grundlage meiner mythologischen Betrachtungen vor, wie es wohl war, die Welt auf diese Art zu sehen und zu begreifen. Die Mythen gewähren Einblicke in die Psychologie der Antike, öffnen Fenster in das ägyptische Denken und können Sie mit einer ganz neuen – und doch zugleich alten – Art und Weise vertraut machen, die Welt zu erleben.

Götter am Nil

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