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Einleitung

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Was war vor mir da? Was geschieht rund um mich herum? Was passiert, wenn ich tot bin? Wie wir Menschen von heute suchten auch die Ägypter nach Antworten auf diese Grundfragen, und wie wir entwickelten sie Theorien, die auf ihrer Beobachtung der Welt beruhten. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war, was wir heute als „altägyptische Mythen“ bezeichnen; aus ihnen bildete sich eine einmalige Weltsicht.

Eine Mythologie ist mehr als eine bloße Ansammlung von Geschichten über Helden und Götter: Sie liefert eine Methode, die Welt zu verstehen. Am Himmel hängt eine große leuchtende Kugel; jeden Morgen erhebt sie sich, verbringt den Tag damit, über den Himmel zu wandern, und senkt sich dann im Westen. Was ist sie? Und wohin geht sie? Sie könnten auch fragen: Wie kann sie sich bewegen? Ob Sie nun in der Sonne den Gott Re sehen, der auf seiner Tagesbarke über den Himmel segelt, oder ein Paket aus Kernfusionsreaktionen, das uns im Kreis um sich herumzieht, Sie beobachten dieselben Phänomene. Die Ägypter, die ihr Wissen über das Universum erweitern wollten, ohne dabei auf die Teilchenphysik zurückgreifen zu können, sind einfach zu anderen Ergebnissen gekommen. Ihre Erklärungen prägten eine charakteristische Perspektive und formten ihre Art, die Welt zu erfahren; aus den Mythen wurde das Rückgrat der ägyptischen Gesellschaft, ein Filter für die teilnahmslose Wirklichkeit, der ihre ganze Kultur umfasste. Begab man sich einmal in die innere Logik dieser Weltanschauung, hatte das Leben mehr Sinn; Ordnung trat an die Stelle der Unordnung, Kontrolle verdrängte die Ohnmacht, Wissen bezwang die Unwissenheit. Die Welt mit ihren tobenden Sandstürmen und tödlichen Skorpionen verlor etwas von ihrem Schrecken.


Der falkenköpfige Re bei der Fahrt auf der Sonnenbarke


Das Horuskind, der Sohn von Osiris und Isis

Die mythische Erzählung des alten Ägypten war im täglichen Leben allgegenwärtig – sie spielte sich im Lauf eines jeden Tages ab, als eine endlose Wiederkehr von Schöpfung, Zerstörung und Wiedergeburt, verstrickt in ein Netz aus Wechselwirkungen zwischen göttlichen Mächten. Es war unnötig, diese Ereignisse in ein unabänderliches Erzählschema zu bringen. Jeder Mensch durchlebte jeden Tag als Held seiner persönlichen mythischen Geschichte. Als personalisierte Kräfte waren die Götter in jedem Detail der geschaffenen Welt gegenwärtig, und für außerordentliche wie alltägliche Ereignisse ließen sich mythische Präzedenzfälle als Erklärung anführen, wodurch sie den Einzelnen mit der Welt der Götter verbanden. Doch damit nicht genug – indem sie sich auf mythische Ereignisse bezogen, setzten sich die Ägypter mit ihren Gottheiten gleich. Jemand, der Kopfweh hatte, wurde das Horuskind, um das sich seine Mutter kümmerte, die damit ihrerseits zu Isis wurde; im Tod verwandelten die Verstorbenen sich in mehrere Götter nacheinander, während sie das Jenseitsreich durchquerten, und übernahmen dadurch vorübergehend die Macht dieser einzelnen Gottheiten. Ägyptens Mythen waren dehnbar genug, um mit dem Lebenslauf einer jeden Person zur Deckung gebracht zu werden, wenn das Individuum sich die Natur ebenso zu erklären suchte wie die Freuden und Leiden des Daseins. Die Mythen und die in ihnen enthaltenen Handlungen der Götter lieferten eine Antwort auf die Frage: „Warum ist das mir passiert?“ Dass es einem nicht als Erstem so geht, hat etwas Tröstliches.

Götter am Nil

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