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Eddi war pünktlich zum vereinbarten Termin bei dem Notar. Frau Kleinwasser, die Vorzimmerdame des Notars, trug eine gut ondulierte dunkelbraune Frisur und blickte Eddi über den Rand ihrer schmalen 3,0-Dioptrien-Brille kritisch an.

„Der Herr Notar ist sogleich für Sie da.“

Rechtsanwalt und Notar Dr. Breckhader trug einen strengen Scheitel auf der linken Seite. Er pflegte diesen wie eine wichtige Tradition und unterstützte das durch gelegentliches Glätten seiner Haartracht mit der linken Hand. Sein graues Haar glänzte matt. Im Nacken kräuselten sich ein paar weiße Locken.

Eddi musste nicht lange warten. Frau Kleinwasser begleitete ihn durch die hohe alte Eichentür in das Büro des Notars. Die schweren Eichenmöbel gaben dem Büroraum etwas von erhoffter Ewigkeit. Der Raum war nur wenig beleuchtet. Nur auf dem breiten Eichentisch des Dr. Breckhader stand eine eingeschaltete Leseleuchte. Er kam Eddi entgegen und reichte ihm einladend seine rechte Hand.

„Herr Drempel, schön, dass Sie da sind. Trinken Sie einen Kaffee mit mir?“

Frau Kleinwasser nahm sein Nicken war und verließ den Raum.

„Bitte nehmen Sie doch Platz!“

Eddi saß dem Notar an dem breiten Schreibtisch gegenüber.

„Herr Notar, Sie haben mir eine Nachricht zukommen lassen. Sie erwähnten darin meinen Onkel in Amerika. Ist er gestorben?“

„Lieber Herr Drempel, um Gottes Willen, das nicht. Ich muss Ihnen eine seiner Entscheidungen mitteilen. Ich bin damit beauftragt, sozusagen insofern um Amtshilfe gebeten worden. So einfach ist das. Sonst müssten Sie ja nach Amerika fliegen.“

Begleitet von dem Duft frisch gebrühten Kaffees kehrte Frau Kleinwasser in das Büro zurück und ließ die beiden Herren nach dem Einschenken allein. Dr. Breckhader glättete langsam und besonnen sein Haupthaar und griff langsam zu der vor ihm liegenden Akte.

„Ihr Onkel, Ferdinand Drempel, hat mich beauftragt, Ihnen seine Entscheidung mitzuteilen. Es handelt sich um ein Vermächtnis. Nebenbei bitte ich Sie, mir Ihren Ausweis zu zeigen. Ich benötige eine Kopie für die Akte.“

Eddi nippte an dem Kaffee. Der Notar strich erneut über seine Haare und öffnete bedächtig die inzwischen hoch genommene Akte.

„Der Einfachheit halber lese ich Ihnen vor:

Vermächtnis.

Ich, Ferdinand Drempel, geboren in Wies-baden, am 24. 05. 1934 verfüge hiermit über mein Vermögen wie folgt.

Da ich keine leiblichen Kinder habe, vermache ich mein in einer Stiftung abgesichertes Vermögen meinem Neffen Edmund-Walter Drempel, wohnhaft in Wiesbaden, Deutschland. Das Vermögen beträgt zum Zeitpunkt der Erstellung des Vermächtnisses 3.750.000 US $. Da mir bekannt ist, dass mein Neffe in finanziell gesicherten Verhältnissen lebt, verfüge ich, dass dieses Vermögen seinen direkten natürlichen Nachkommen zusteht. Die Verfügung über das Vermögen durch die Vermächtnisnehmer tritt erst dann ein, wenn die Nachkommen nicht mehr durch meinen Neffen versorgt werden können, oder, um es zu konkretisieren, wenn er gestorben sein wird.

Damit sichere ich in den angespannten Zeiten der Weltwirtschaftskrise die Zukunft der jüngsten Familiengeneration.

Hartfort, Connecticut, 05. 02. 2011.“

Dr. Breckhader nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

„Das war es schon. Sie erhalten eine Kopie zu Ihrer Verwendung.“

Eddi nickte. Sein Kaffee war nicht mehr warm. Er erschauerte. Wie kann es so etwa machen? Das ist ja pervers. Ich soll tot sein, damit die Kinder erben. Der Alte ist wohl verrückt geworden! Er blickte den Notar an:

„Ist das nicht total verrückt? Sagen Sie, kann so etwas legal sein?“

„Herr Drempel, ich bin nur der Bote, nicht die Botschaft. Jeder kann über seine Botschaft frei entscheiden.“

Der Tag nahm Ferdinand wieder zu sich.

Alexander spielte Gitarre und Ukelele. Er liebte die Musik mit seiner Band. Seine Kameraden besuchten mit ihm zusammen das Gymnasium am Mosbacher Berg. Peter, einer seiner Kameraden, nicht. Er wohnte in der Gegend am Hang zum Opelbad und war sehr begabt. Er hatte niemals Unterricht in Musik oder in der Handhabung eines Instrumentes erfahren. Alex hatte ihn vor ein paar Wochen im Opelbad kennengelernt. Die beiden fanden schnell heraus, dass sie Vergnügen an Musik hatten. Also hatte Alex Peter eingeladen, bei der Band mitzumachen. Peter konnte fast alle Instrumente sofort spielen. Er hatte ein natürliches Talent. Die Kameraden der Band hatten ihn sogleich ohne Probleme als Mitglied aufgenommen.

Alex hatte schon vor Peters Aufnahme in die Band vorgeschlagen, dass sie der Band einen eigenen Namen geben und versuchen sollten, bei dem Weinfest in Wiesbaden aufzutreten. Sie hatten sich daraufhin schnell auf Crowns als Namen für die Band geeinigt. Peters Können war eine echte Bereicherung für das Repertoire der Band. Das beflügelte die Mitglieder umso mehr, beim Weinfest aufzutreten.

Über die beabsichtigte Teilnahme der Band an dem bevorstehenden Weinfest informierte Alex seine Mutter.

„Das ist ja ganz nett, so eine Band zu haben. Und gute Freunde. Aber ich bitte Dich noch einmal zu überlegen, ob Du nicht doch ein richtiger Musiker werden willst? Mit einen ordentlichen Instrument? Und wegen des Festes fragst Du bitte Papa.“

Alex nickte und drehte sich langsam um, ohne eine Antwort zu geben. Eva schwieg. Ich komme mit dem Jungen nicht so richtig klar.

Am späten Nachmittag kehrte Eddi von der Klinik nach Hause zurück. Eva-Maria konnte ihre Neugierde nur schwer verbergen.

„Warst Du pünktlich bei diesem Notar?“

„Ein cleverer Umweg zu Deiner eigentlichen Frage, nicht wahr?“

„Nun ja, man geht ja nicht jeden Tag zu einem Notar.“

„Darüber werde ich Dir gleich berichten.“

Eddi holte eine Flasche Crémant aus dem Weinkühler und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Dieser Tisch im großen Wohnzimmer war ein Erbstück. Ein Möbel, das handwerklich einzigartig war. Massives Holz, keine Schrauben, kein Metall, er fühlte sich warm an. Zu dieser Wärme fügte sich das zartgelbe Licht der späten nachmittäglichen Frühlingssonne und umarmte das Bild des Paares durch die gardinenverhangenen Fenster.

„Wie war es denn nun beim Notar?“

„Ich werde Deine Neugierde sofort befriedigen. Doch zunächst trinken wir einen Schluck zusam-men!“

Der Crémant perlte leicht in den Gläsern. Sie nickten einander zu. Eddi genoss den ersten Schluck und berichtete.

„Noch nie in meinem Leben habe ich solch eine irre Nachricht erhalten wie heute. Ich bin völlig konsterniert und kann mich noch nicht einmal wundern. Es ist unglaublich. Stelle Dir bitte vor, Onkel Ferdinand hat ein Vermächtnis geschrieben. Das hat mir der Notar heute eröffnet.“

„Wie alt ist der Onkel jetzt?“

„Er ist 77 Jahre alt.“

„Ich weiß gar nicht mehr, wann wir uns zuletzt gesehen haben. Es muss mindestens 20 Jahre her sein. Aber egal, erzähle doch bitte, was er verfügt hat. Wieso ist die Nachricht irre?“

Eddi nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas.

„Es ist wirklich irre. Er macht mich zum Erben, aber ich darf nicht selber erben, sondern nur die Kinder, unsere Kinder. Also kurz gesagt: Wir erben ziemlich viel Geld, aber wir werden nichts davon haben, weil ich erst tot sein muss, damit das Erbe durch die Kinder angetreten werden kann.“

„Das ist ja ein Ding! Der Onkel hat verfügt, dass Du erbst, aber erst tot sein muss, damit unsere Kinder in den Genuss des Erbes kommen?“

„Das hast Du richtig verstanden. So ist es!“

Beide nippten schweigend an ihren Gläsern. Eva schlug vor:

„Ich bin dafür, dass wir den Kindern zunächst noch nichts darüber sagen. Wir müssen das erst einmal bedenken.“

„Meinst Du?“

„Es hat ja keine Eile. Ich denke einfach an unsere Zukunft und die geplante eigene Klinik.“

„Ein Traum, Eva, ein Traum!“

„Eddi, diesen Traum werde ich nicht aufgeben. Und Du wirst dort auch Deine Erfüllung erleben.“

„Hast Du vielleicht neue Erkenntnisse wegen der Finanzierung?“

„Morgen treffe ich den Architekten, er hat das Konzept für unsere Klinik in diesem alten Hotel weiter entwickelt. Wenn ich das mit ihm besprochen habe, werde ich Dir weiter berichten. Jetzt sollten wir etwas essen.“

„Das wird uns gut tun.“

„Sind unsere Kinder alle da?“

„Ja, alle. Ich glaube, dass Alex noch mit Dir sprechen will.“

„Worum geht es?“

„Er will mit seiner Band beim Weinfest spielen.“

„Das finde ich gut. So lernt er früh Erfolg und Misserfolg kennen.“

„Findest Du?“

Bis zum nächsten Wochenende kam es zu keinem weiteren Gespräch zwischen Eva und Eddi über das Vermächtnis des Onkels. Eva war am Sonntag ziemlich früh wach.

„Eddi, ich möchte gerne mit Dir über dieses Testament sprechen. Die Kinder sollen ja noch nichts wissen. Können wir das heute einrichten?“

„Eva, es hat doch keine Eile.“

„Das nicht, Eddi, aber es lastet auf mir. Auch wegen unserer Zukunft.“

„Eva, keine unnötige Anspannung, bitte. Aber Du hast recht, wir müssen uns dem Thema stellen und zu einer klaren Meinung kommen. Was hältst Du davon, wenn wir nach dem Kirchgang zusammen im Mövenpick essen gehen?“

„Eine gute Idee.“

In der Villa Drempel war es seit Jahrzehnten üblich, dass die Familie zusammen frühstückte. So auch an diesem Sonntag. Alex freute sich, dass seine Geschwister ihn zum bevorstehenden Jazzkonzert begleiten wollten, umso mehr, als sein Vater ihn zur weiteren Arbeit in der Band ermutigt hatte. Außerdem hatte er ihm noch ein zusätzliches Taschengeld zugesteckt.

„Danach kannst Du Deine Fans oder Kumpel ein bisschen einladen.“, hatte er ihm zugezwinkert.

Noch bis vor wenigen Monaten war es üblich, dass die Kinder ihre Eltern bei dem sonntäglichen Kirchenbesuch begleiteten. Aber diese Gewohnheit hatte sich geändert. Die Kinder drückten sich mehr und mehr davor, an diesem Routinegang teilzu-nehmen. Eddi duldete das. Eva schwieg dazu. Während sich die Kinder auf das Jazzkonzert vorbereiteten, gingen ihre Eltern zum sonntäglichen Gottesdienst.

Eva gefiel es, dass der Pfarrer in seiner Predigt einen deutlichen Hinweis auf die Verführung durch die Gier eingebaut hatte. Auf dem Weg zum Mövenpick wies sie Eddi darauf hin.

„Wenn man doch immer einen Spiegel zur Selbstkontrolle hätte!“, meinte er zu Evas Ausführungen.

„Du mit Deinen philosophischen Anmerkun-gen!“, meinte Eva und studierte sogleich nach der Ankunft im Restaurant die Speisekarte. Es gab ein mediterran komponiertes Sonntagsmenü. Sie entschied sich anders als sonst schnell dafür. Eddi schloss sich an. Als sie das Dessert - eine Variation von Früchten mit Eierlikör - serviert bekamen, eröffnete Eva das geplante Gespräch.

„Ich bin dafür, dass wir gemeinsam überlegen, ob wir vielleicht doch an diesem Erbe teilhaben können.“

„Teilhaben?“

„Ja, es kann doch niemandem schaden. Es ist nur zu überlegen, in welchem Maße wir die Kinder einbeziehen.“

„In welchem Maße? Sie sind doch eigentlich die Erben!“

„Ja, in gewisser Weise schon, aber sie wissen es ja noch nicht.“

„Nichtwissen ändert doch das Vermächtnis nicht.“

„Aber es geht nicht ohne Dich.“

„Doch, es geht nur ohne mich!“

„Das sehe ich ein wenig anders. Höre mir bitte einfach zu. Ich will ja nicht, dass wir die Kinder hintergehen, aber ich stelle mir vor, dass wir den Effekt des Vermächtnisses – sagen wir einmal – zeitlich verschieben.“

„Also willst Du mich entfernen, unsichtbar machen?“

„Bitte höre mir doch erst einmal zu, bevor Du solche Anmerkungen machst. Wenn wir davon ausgehen, dass die Kinder zurzeit noch nicht über dieses Vermächtnis informiert sind und dass ein Weg bestünde, sie gut zu versorgen, dann ist das doch eine Überlegung wert. Ich habe folgende Idee: Wir beteiligen die Kinder urkundlich an unserer Klinik und garantieren ihnen eine entsprechende Rendite. Dann ist der Wunsch von Onkel Ferdinand ganz gewiss erfüllt und wir schlagen sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe.“

„Wie, womit willst Du die Kinder an einer noch nicht vorhandenen Klinik beteiligen?“

„Na, überlege doch mal, bitte. Wenn die gewünschte Voraussetzung eintritt, dann steht doch der Umsetzung dieser Idee nichts im Wege.“

„Hmmh. Also muss ich aus dem Leben scheiden, damit Dein Plan aufgeht. Wenn ich das aber nicht will, was ist dann?“

„Also Eddi, Du bist doch sonst auch so clever. Du musst doch nicht sterben, Du musst nur Deine Identität ändern. Und schon haben wir die Klinik und gut versorgte Kinder. Ist das nicht ein guter Ansatz?“

Eddi wollte vom Tisch aufstehen, hinderte sich aber selbst daran, seinen Platz zu verlassen, weil er es als sehr unhöflich empfunden hätte, ein geplantes Gespräch einfach durch ungeplante Abwesenheit zu unterbrechen. So war er.

„Ich habe es wahrscheinlich nicht richtig verstanden, was Du da im Kopf hast. Du siehst also eine Möglichkeit, dass ich irgendwann nicht mehr existiere, dass ich meine Identität verliere oder aber eine neue gewinne oder beides?“

„Die Sache gebietet es, dass Du Dich bitte nicht aufregst.“

Eva winkte dem Ober und bestellte zwei Glas Cynar.

„Es kann doch nicht so schwer sein, aus dem Angebot des Onkels eine Chance zu machen, zudem, wenn dadurch niemand zu Schaden kommt. Betrachten wir das doch einmal aus einem rein praktischen Blickwinkel. Da gibt es ein Vermächtnis zugunsten unserer Familie. Daran ist eine Bedingung geknüpft. Diese Bedingung wird ja wohl zu erfüllen sein. So könntest Du zum Beispiel eine gewisse Zeit im Ausland arbeiten, irgendwo in Südamerika oder in Asien und nach einer gewissen Zeit könnte es Dir gelingen, Deine Identität zu ändern und schon wäre unser Ziel erreicht.“

„Eva, das ist nicht rechtens, was Du da überlegst. Das ist Betrug!“

Der Cynar schmeckte Eddi, im Gegensatz zu sonstigem kleinen Genuss, eher bitter als angenehm, nicht süßlich. Eher herb bitter. Er betrachtete das schwere Glas, die Eisstücke darin und die in zwei Hälften geteilte Scheibe einer Limette. Erneut ließ er einen kleinen Schluck über seine Zunge gleiten und wälzte ihn einen kleinen Moment in seinem Mund.

„Eddi!“

Eddi kannte Momente mit Eva, in denen es unmöglich war, ihr zu widersprechen. Sie hatte mitunter fixe Ideen, die ihr so viel bedeuteten, dass sie sie verfolgte, so wie eine Straßenbahn ihren Weg dem Lauf der Schienen unterordnet. Er sah keine Chance, ihr etwas zu entgegnen.

„Ich sehe, dass Du verbissen an dieser Idee hängst. Ich weiß, dass Du nicht von der Vorstellung einer eigenen Klinik Abstand nehmen wirst. Ich kann Dir noch nicht viel versprechen, aber ich werde mir Deine Idee durch den Kopf gehen lassen. Es wird ganz gut sein, wenn wir jetzt ein paar Stunden nicht mehr über dieses Thema sprechen. Ich würde gerne noch einen Espresso trinken.“

Bis zur Vorlage der Rechnung gab es keinen weiteren Gedankenaustausch mehr.

Kater Frieda

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