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3 Wir sind in Tübingen!
ОглавлениеNach dem Abendimbiss hatte er sich die Tagesschau angesehen und musste in seinem Sessel einen Augenblick eingenickt sein, als er aus dem Erdgeschoss unter sich zwei Mal kurz hintereinander ein lautes Scheppern mit anschließendem Aufprall hörte. Er schreckte auf, sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, in die Küche, aus der die Geräusche gekommen waren. In beiden Fenstern ein großes Loch, auf der Arbeitsplatte und dem Boden die Scherben, dazwischen zwei große Steine, auf einem der beiden, mit Paketband festgeklebt, eine Spielzeugpistole. Draußen war es schon ziemlich dunkel, er hörte und sah niemanden. Die Straßenlaterne war immer noch defekt, obwohl er gestern deswegen bei der Stadtverwaltung angerufen hatte.
Das hier war kein Streich dummer Jungen, sondern eine gezielte Aktion, eine Warnung an seine Adresse, daran zweifelte er nicht. Ob prophylaktisch als Verlängerung des gestrigen Überfalls? Oder ob es mit seinem Besuch im Fitness-Studio zusammenhing? Das erschien ihm zwar wenig wahrscheinlich; wäre doch ein zu großer Zufall gewesen, wenn wirklich einer seiner gestrigen Gegner Mitglied dieses Clubs, außerdem just anwesend gewesen war und ihn erkannt hätte. Aber ganz ausschließen konnte er das natürlich nicht.
Diesmal allerdings wollte er die Polizei benachrichtigen. Die kleine Spielzeugpistole, ein symbolisches Ausrufezeichen gewissermaßen, beunruhigte ihn nun doch.
Die beiden Beamten brauchten fast eine ganze Stunde von der Tübinger Adenauerstraße hinaus nach Unterjesingen. Sie waren noch jung, schienen kaum dem Schulalter entwachsen. Ein lang aufgeschossener Kerl mit etwas sauertöpfischem Gesicht und ein alert wirkender, mehr als einen Kopf kleinerer Kollege, der forsch nach dem »Tatort« fragte. Beide waren offenbar zunächst entschlossen, die Angelegenheit nicht ganz so dramatisch zu nehmen, wie sie ihm selber erschien. Erst als er nun auch vom gestrigen Überfall berichtete, merkten sie auf.
»Warum haben Sie uns da nicht gleich gerufen?« fragte der kleinere und, wie Kersting glaubte, aufgewecktere von beiden.
»Gestern kam mir das wenig sinnvoll vor, Sie hierher zu bemühen. Ich hatte ein paar Schrammen, die beiden waren abgehauen, ich hätte nicht mal eine gute Personenbeschreibung geben können, an eine Wiederholung glaubte ich nicht.« (Zumal sie ja bekommen hatten, was sie wollten, dachte er, ohne das aber auszusprechen – hätte arg abenteuerlich und verschwörungsgläubig geklungen.)
»Haben Sie Feinde, denen Sie derartige Gewalttätigkeiten zutrauen?«
»Fällt mir niemand ein.«
Sie rätselten noch ein wenig an dem Motiv herum, die beiden machten ein paar Photos mit ihren Handys, sammelten Steine und Plastikpistole ein (»Werden sicher keine Fingerabdrücke drauf zu finden sein.«) und fuhren dann wieder ab, nachdem sie Kersting gebeten hatten, am nächsten Tag vorbeizukommen, um das Protokoll des Vorfalls und die offizielle Anzeige zu unterschreiben.
Kersting schloss die alten, aber noch festen Fensterläden im Erdgeschoss, fegte die Scherben zusammen und stieg wieder die Treppe hoch in sein Atelier, wo er sich instinktiv sicherer fühlte.
Eines war ihm klar geworden. Irgend etwas stimmte nicht mit den Umständen um den Roeder-Fall, und jemand versuchte, ihn sehr handfest vom weiteren Nachforschen abzuhalten. Was seinen Eigensinn freilich nur stimulierte: Jetzt gerade! Doch wie sollte er sich gegen weitere mögliche Attacken schützen?
Eine richtige Waffe? Besser nicht. Würde nur zur Eskalation beitragen. Außerdem: wie drankommen? Schießen hatte nicht zu seiner Ausbildung gehört.
Dann erinnerte er sich, dass er Christa, als sie beide noch zusammen waren und sie von einsamen Waldgängen nicht ablassen wollte, einen angeblich höchst wirksamen Pfefferspray gekauft hatte. Auch würde er sich eine von den neuen und sehr lichtstarken LED-Taschenlampen besorgen. Am besten eine von den schweren röhrenförmigen Exemplaren, die auch als Waffe dienen konnten? Und ganz sicher würde er je einen starken Scheinwerfer vorne über der Tür und hinter dem Haus anbringen lassen. Mit Bewegungsmelder.
Die konkreten Pläne erhöhten sein Sicherheitsempfinden, noch bevor sie in die Tat umgesetzt waren und beruhigten ihn nach der Aufregung des Abends. Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Dass er nicht aufgab, verstand sich. Er wurde den Verdacht nicht los, dass die Ereignisse der beiden letzten Tage mit dem eigentlichen Roeder-Fall nur weitläufig zusammenhingen oder ihr Zusammenhang erst wichtig und ersichtlich wurde, wenn er mehr wusste.
Es ging also darum, mehr zu erfahren: Von den Studienbedingungen, die Verena Roeders Leben bestimmt hatten, von ihren Freunden und Freundinnen, ihren Dozenten – er musste mehr ins studentische »Milieu« hinein, durfte nicht so weit entfernt von außen agieren, da entgingen ihm die wichtigen konkreten Details. Er spürte, wie er sich wieder in den Fall zu verbeißen begann. Die Angriffe auf sich nahm er persönlich, das mochte falsch sein, doch offene Rechnungen hatte er nie gemocht. Auch gab es Ansatzmöglichkeiten genug, wenn er an seinen Besuch bei den Germanisten dachte.
Als erstes wollte er morgen den Namen der Studentin herausbekommen, die in dem Interview den Hinweis auf das Cusanus-Seminar gegeben hatte. Im Zeitungsartikel war sie nur mit dem Namenskürzel J. O. aufgetaucht, aber ihr Zeitungsbild hatte er zusammen mit dem ganzen Interview-Text im Photospeicher seines Smartphones.
Unterdessen war es spät geworden, beinah zweiundzwanzig Uhr, doch er war noch hellwach und zum Lesen zu aufgeregt. Er griff zum Handy und wählte die Nummer von Boris Karlsdorf, einem befreundeten Redakteur des Südwestrundfunks, der im Studio oben auf dem Tübinger Österberg arbeitete und ihn auch schon zwei Mal interviewt hatte. Als er sich meldete, hörte er im Hintergrund lautes Stimmengewirr, sicher aus Boris’ Stammkneipe.
»Ich bin noch zu nervös zum Schlafen und brauche einen Auslauf. Wo bist du gerade?«
»Im ›Bären‹.«
»Dacht’ ich mir. Ich setze mich ins Auto und komme für eine Stunde dazu.«
»Schön, ich warte. Ist wenig los hier, die Studenten fehlen.«
Als Kersting die Tür in den stickigen Gastraum aufstieß, sah er nur an zwei Tischen die volle Besetzung, aber in so lebhafte, laute Unterhaltung verstrickt, dass sie es zumindest akustisch mit der doppelten Anzahl hätten aufnehmen können. Boris saß am Tresen, nahm, als er ihn erblickte, sein halbgefülltes Glas und steuerte einen Tisch in der hinteren Ecke an. Er war etwas größer als Kersting, breitschultrig und beleibt, mit braungesprenkelten Augen und Dreitagebart im ovalen Gesicht, das sonst Gutmütigkeit und Witz ausstrahlte, jetzt aber misslaunig wirkte.
»Ich habe gerade die zweite Attacke hinter mir«, begann Kersting.
»Welcher Kritiker hat dich denn diesmal aufs Korn genommen? Nicht so ernst nehmen. Kritiker sind die skrupellosesten aller Menschen, und die bestechlichsten und faulsten aller Menschen: eine ganz und gar niederträchtige Sorte …«
»Ach, du weißt ja noch gar nicht – « Kersting hatte ihm tatsächlich bisher noch nicht von dem gestrigen Überfall vor seinem Haus berichtet und holte das jetzt nach.
»Du glaubst, das hängt alles mit dem Fall Roeder zusammen?«
»Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein. Auch wenn es mir immer noch schwerfällt, unsere beschauliche Stadt als Schauplatz von Mord und Totschlag zu akzeptieren.«
»Beschaulich? War Tübingen wahrscheinlich nie. Dafür hat die Universität schon gesorgt. Die Professoren sind die verlogensten Kreaturen, verlogener und korrupter als die Politiker. Egozentrisch, niederträchtig und korrupt. Wenn ihnen Geld oder Ruhm winkt, sind sie zu jeder Schandtat bereit. In Deutschland waren sie immer zuerst Staatsdiener oder Parteidiener oder beides zusammen und dann lange nichts, irgendwann mal Wissenschaftler, aber ganz zum Schluss. Verdorbene Charaktere, die ohne Verdorbenheit gar nicht auf einen Lehrstuhl gekommen wären, und wenn sie ihn haben, dann wachsen sie dran fest, wie geklebt, und verderben alles, was sich ihrer Verdorbenheit widersetzt.«
»Boris, du klingst wie Thomas Bernhard, wenn er auf die Künstler schimpft. Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Nicht eine Laus, sondern zwei Läuse, ich meine Professoren, die auf den Köpfen der Dichter sitzen und saugen und schaben bis sie das schönste Werk ruiniert haben. Sie ruinieren die Kunst, wo sie sie antreffen. Diesmal im Hölderlinturm. Ich sollte das moderieren. Aber moderiere du mal gespreizte Eitelkeit und hochtrabende Dummheit!«
Kersting lachte über den Furor des Freundes, dessen gerötete Wangen zeigten, dass auch einige Gläser Bier sein Temperament angestachelt hatten. Nach kurzem Zögern stimmte er aber in Kerstings Heiterkeit ein.
»Manchmal muss man übertreiben, um der Wirklichkeit wenigstens nahe zu kommen. Mich wundert in Unisachen gar nichts mehr. Ein Studentenvertreter hat mir aus der Sitzung berichtet, in der die Philosophische Fakultät zu der unsinnigen Bologna-Reform Stellung nehmen wollte. Du weißt: Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge. Der Ruin unserer Universitäten. Haben die nach so vielen Jahren nun auch gemerkt! Waren natürlich alle ›eigentlich‹ dagegen, aber öffentlich zu protestieren hat sich keiner getraut. Handlanger des Staates, dem sie ein Leben lang dienen und dabei so tun, als gehe er sie nichts an, aber sie lecken ihm die Pranken, wo es nur geht, und wenn es drauf ankommt, machen sie den täglichen Kotau noch ein bisschen tiefer.«
»Du bist vielleicht geladen heute!«
»Wir sind in Tübingen! Wenn du, wie ich, jeden zweiten Tag mit diesen Leuten zu tun hättest, würdest du auch nicht anders reden. Der Roeder-Fall bestätigt doch alles, was ich sage. Erst vergiften sie die Köpfe ihrer Studenten, dann bringen sie sie noch um, Existenzverhinderer allesamt und mit der Polizei im besten Ruhe-und-Ordnung-Einvernehmen. Oder hast du etwas anderes als ›weiß nicht, weiß nicht‹ gehört? Keiner will etwas wissen! Und wenn dann einer die Ruhe stört wie du, muss man ihn eben zur Ordnung rufen. Wenn nötig mit Gewalt.«
Jetzt kamen Kersting die Reden seines Freundes arg überhitzt und gallig vor, dem frustrierenden Tagesgeschäft eines Journalisten entsprungen, der sich endlich mal Luft machen konnte. Er sollte bald schon etwas anders darüber denken.
Der schöne Septembertag, der sich am nächsten Morgen anmeldete, würde sicher ideales Licht für seine Arbeit bringen. Als Kersting zum Fenster hinausblickte, sah er einen fast provenceblauen Himmel, über den einige weißgelockte Wolken strichen. ›Und der Himmel, so weit, so weit.‹ Doch ihm fehlte die Ruhe, die tote Verena ließ ihn nicht los. Er kannte den Kulturredakteur des ›Schwäbischen Tagblatts‹, der über seine Ausstellungen geschrieben und mit ihm vor einigen Wochen ein ›Interview im Atelier‹ gemacht hatte. Er musste einen plausiblen Grund finden, um an den Namen der Freundin, vielleicht sogar an ihre Adresse zu kommen; die neuen Datenschutzregeln erschwerten solche Recherche.
Er habe (könnte er sagen) von ihr einige Skizzen gemacht, einmal habe sie ihm sogar einen ganzen Nachmittag gesessen, die Porträtzeichnung, die daraus entstand, solle nun in eine Ausstellung in … (besser nicht zu nah), in … Bonn gehen, er brauche ihr Einverständnis, habe aber die Adresse verlegt … Ja, so müsste es gehen.
Er hatte Glück und erreichte Uwe Sprenger in der Redaktion.
»Aber wie kommen Sie denn auf die Idee, dass ich Ihnen da helfen könnte?«
»An jenem langen Nachmittag, als ich eine ganze Reihe von Skizzen von ihr machte, haben wir auch über den Tod ihrer Freundin Verena gesprochen; sie erwähnte, dass sie vom ›Tagblatt‹ interviewt worden war.«
»Ich erinnere mich. Wir haben in der Konferenz damals darüber debattiert, ob wir das Gespräch wirklich machen sollten. Ich war dafür nicht zuständig, der Kollege Kurz ist unser Uni-Mann. Ich frage ihn und rufe zurück.«
Ausgerechnet! Hermann Kurz kannte er flüchtig, er war ihm einige Male begegnet. Ein kleingewachsener Giftzwerg und unangenehmer Zeitgenosse, der seinen Ehrgeiz dareinsetzte, andere »zu packen«, wie er sich ausdrückte. Was nichts anderes hieß, als sie durch Fangfragen, scheinbare Freundlichkeit und geheucheltes Verständnis reinzulegen. Dass er mit der gewünschten Information herausrückte, bezweifelte Kersting. Zumal, wenn er vom Fragesteller erfuhr: die Antipathie war gegenseitig.
Das Telefon schepperte (es stand noch auf der leeren Obstschale, wohin er es gedankenlos abgelegt hatte). »Der Kollege ist unterwegs, aber unsere Sekretärin hat schnell in die Mails gesehen. Jana Olivier wohnt hier, in der Nauklerstraße, irgendeine Nummer offenbar in den 40ern, jedenfalls stand hinter der 4 ein Fragezeichen.«
Kersting bedankte sich. Auf Sprengers Frage nach der Ausstellung spielte er ihre Bedeutung herunter: eine kleine Galerie in Bonn, die Auswahl an Zeichnungen und Graphiken werde auch nicht sehr umfangreich ausfallen. Eröffnung sei erst Ende nächsten Jahres geplant.
Er sah auf die Uhr, es war noch früh am Tage. Vor zehn konnte er wohl kaum versuchen, diese Jana zu treffen – soviel wusste er noch von studentischer Zeiteinteilung. Noch dazu mitten in den Semesterferien. Aber im Haus hielt ihn auch nichts. Also vorher noch in einen Baumarkt, die Scheinwerfer kaufen. Eine gute Taschenlampe mit dreißig Zentimeter langem Schaft fand er auch. Mit den vier Batterien geladen, war das eine veritable Keule. Nach einigem Zögern legte er noch einen schweren Schraubenschlüssel in den Einkaufswagen.
Es dauerte dann noch einige Zeit, bis er das richtige Haus in der Nauklerstraße gegenüber einer Reinigung gefunden hatte. Er blickte die Fassade hoch, vier Stockwerke, darüber noch einige Mansarden. Wie es nach der Klingel-Reihenfolge aussah, wohnte Jana Olivier wohl in einer von ihnen. Die Haustür hatte einen Schnappverschluss, der nicht gesperrt war, so dass er die Tür nur aufzudrücken brauchte. Ein ziemlicher Aufstieg, denn tatsächlich entdeckte er das gesuchte Türschild mit ihrem Namen erst an einer Tür ganz oben. Eine Klingel fehlte, er klopfte.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass er sich gar keinen Vorwand für seinen Besuch überlegt hatte, da war es auch schon zu spät. Die Tür öffnete sich, jedenfalls so weit, wie es die Sicherheitskette erlaubte. Der Halbdämmer des Flures reichte aus, um das Gesicht wiederzuerkennen, das er sich nach dem Zeitungsphoto eingeprägt hatte. Und doch war die Überraschung groß.
Das grob gerasterte Schwarz/Weiß des Photos auf der Zeitungsseite hatte zwar die Konturen, doch nichts von dem Leben wiedergegeben, das ihn da frisch und ausdrucksvoll, zugleich mit fragender Miene entgegenblickte. Der Maler, der in Kersting sofort erwachte, wusste nicht, was ihn auf Anhieb mehr ergriff, das kräftige, doch lichtvolle Blond der schulterlangen gelockten Haare, der intensive Blick aus blaugrauen Augen oder der sanfte, doch kräftige Schwung der Lippen.
»Wie mit Liebe gearbeitet …«, entfuhr es ihm.
»Waas meinen Sie?«
Gedehnt vor Erstaunen, wuchs die Frage auf doppelte Länge. Kersting, der sie immer noch unverwandt bewundernd ansah, begriff die Komik der Situation, sagte lachend:
»Natürlich Sie, ich meine Sie.« Wodurch sich ihre Verwirrung nicht minderte, so dass er die Gelegenheit beim Schopf ergriff.
»Ich möchte Sie malen!« Einen Augenblick fürchtete er, sie hielte ihn für verrückt und schlüge die Tür zu.
»So, Sie möchten mich malen. Das werden Sie nicht hier draußen tun wollen!«
Sprach’s, schob den Riegel zurück und öffnete die Tür ganz. Was nun wieder Kersting verblüffte. Jana Olivier, sie war es, ganz ohne Zweifel, und sie war es nicht, so leer erschien dagegen das graue Zeitungsphoto in seiner Erinnerung. Sie geht unbefangen vor ihm her, in Jeans und weißem T-Shirt, was beides ihre schmale Taille, den Hüftschwung und die langen kräftigen Oberschenkel aufregend in Szene setzt. Geradewegs führt sie ihn in ein großes Zimmer, das durch einen breiten hohen Schrank offenbar zweigeteilt ist. Die Rückseite zieren drei große Poster: das Plakat einer Cezanne-Ausstellung aus der Tübinger Kunsthalle mit einer Wiedergabe der »Großen Badenden«, ein Ausstellungsplakat von Horst Janssen mit einem Stilleben aus verfallenden Blumen. Das dritte, eine surrealistische Landschaft, deren Hügel, Wälder und Buschwerk sich zu menschlichen Gliedern auswachsen und das er auf Anhieb niemandem zuordnen kann. Eine Wand voller Bücher, zwischen den beiden Fenstern ein Schreibtisch vollgepackt mit Computer, Papierstapeln und Büchern. In jeder Ecke die typisch studentischen Accessoires: ein noch halbvoller Rucksack, aus dem eine leere Wasserflasche ragt, eine Laptop-Tasche, Postkarten mit Waechter-Cartoons, Photos.
»Glauben Sie nicht, dass ich Sie hereingelassen hätte, wenn ich nicht wüsste, wer Sie sind«, sagt sie und zeigt mit einer einladenden Armbewegung auf einen der drei mit Stoff bespannten Sessel, die aussehen wie Liegestühle für einen Garten. Als sie beide sitzen, fällt Kersting immer noch keine Erklärung für seinen Überfall ein. Das helle Licht des vorgeschrittenen Vormittags fällt auf die junge Frau. Er hätte einen Stift, er hätte Farben gebraucht, um auszudrücken, was er sieht und empfindet. Er ist sprachlos. Sie zum Glück nicht.
»Sie sind Max Kersting, haben der Universität eines Ihrer Bilder zum Freundschaftspreis überlassen, die ›Gelehrtenrepublik‹, die Sie aus lauter Ansichten der Alten Aula gebaut haben. Bei der Übergabe habe ich dann auch Sie gesehen … Warten Sie …«
Seine Gastgeberin durchforstet einen Stapel Papiere auf einem niedrigen Tisch neben sich, der zwei Holzkisten vereint. Sie zieht ein Photo hervor, zeigt ihm die Ablichtung seines Bildes.
»Ich habe mir einen Abzug machen lassen, für die Studentenzeitung, die digitalen »OnlineNotizen«, auch etwas dazu geschrieben. Es gefällt mir gut, Ihr Bild.« Und indem sie das Photo wieder auf den Tisch legt: »Immer noch!«
Kersting will es noch nicht gelingen, auf die Höhe des Augenblicks zu kommen. Also redet er drauflos.
»Was für einen unerwarteten Namen Sie haben, bei der erstaunlichen Farbe Ihres Haares, ob ich das jemals hinbekomme?«
»Sie wollen also wirklich …?«
»Ja, ja, schon lange.« Er sagt es, erschrickt und begreift im selben Moment, dass ihn seine Lüge aus der Morgenstunde jetzt eingeholt hat. Was er Sprenger am Telefon vorgeflunkert, ist in seinem Kopf Realität geworden, der Vorwand zur ausgemachten Sache. Janas bass erstaunter Gesichtsausdruck, das komische Geflecht der Geschichte, die in diesem Augenblick ihre Fortsetzung findet, machen ihn lachen.
»Ich muss Ihnen die ganze Geschichte erzählen.«
Das tat er denn auch, vom Festmahl im Museum angefangen. Nicht immer der Chronologie getreu, zunächst stockend, dann immer flüssiger.
»Und jetzt bin ich hier. Und ich will Sie wirklich malen.«
Sie sah ihn intensiv und lange an, schweigend, ihre Augen schienen ihm einen Ton weicher geworden.
»Sie kennen mich doch gar nicht. Das Zeitungsphoto …«
Sie macht eine verächtliche Handbewegung, schweigt eine Zeitlang. Kersting wartet, ohne die Stille im Zimmer zu unterbrechen. Instinktiv weiß er, dass er nur etwas verderben kann, wenn er jetzt weiterspricht. Auch genießt er den Augenblick. Durch das geöffnete Fenster dringt etwas Verkehrslärm, aus der Ferne Geräusche von einer Baustelle. Schräg fallen Sonnenstrahlen auf die dunklen Bohlen des Fußbodens, gerade neben die Sessel und den Tisch an dem sie sitzen und rahmen das Bild ein.
Bevor Kersting sich mit weiteren Details des Zimmers vertraut machen konnte, war Jana offenbar mit sich ins Reine gekommen.
»Wir machen’s einfach so, dass wir von dem ausgehen, was Sie ursprünglich wollten, nämlich mehr über Verena zu erfahren. Das will ich auch, ich weiß ja gar nicht viel. Und was mit ihr passiert ist, wie das geschehen konnte, warum sie so anders wurde in der letzten Zeit vor ihrem Tod, das habe ich mich oft gefragt. Was halten Sie von der Idee: wir verbünden uns und dann können wir uns das mit dem Porträt später überlegen.«
Jana klang entschieden und vernünftig, so dass Kersting zustimmte, auch wenn er am liebsten gleich zu zeichnen begonnen hätte.
»Übrigens«, fügte sie lächelnd hinzu, »meinen Namen, den Sie so unpassend finden, habe ich von meinem Vater, der aus Lyon stammt. Meine Mutter ist Schwedin. Beide leben schon sehr lange in München. Ich sehe sie nicht oft.«
»Die Entfernung …« Bevor er seine Plattitüde zu Ende brachte, hörte man ein kräftiges Klopfen an der Wohnungstür.
»Das wird Lena sein, die mich zum Reiten abholt.«
»Klar, ich bin in Ihr Tagesprogramm so einfach reingeplatzt.« Kersting entschuldigte sich etwas verlegen, während sie aufstand und in Richtung Tür laut »Ich komme« rief.
»Wann hätten Sie etwas Zeit für unser … Unternehmen?«
Sie verabredeten sich auf 16 Uhr im Café Ludwigs. Beim Hinausgehen grüßte Kersting die eintretende Lena flüchtig. Er nahm sie kaum wahr, eine junge Frau, doch etwas älter als Jana und von kräftiger Statur. Später sollte er sie als liebenswürdige, sehr praktisch veranlagte Person kennenlernen, die für Jana so etwas wie die ältere Schwester war.
Als Kersting auf der Straße stand, war er ratlos, wie er die Zeit bis zum Nachmittag nutzen sollte. Weiter am Problembild Neckarfront arbeiten? Unsinn, zwei, drei Stunden waren nichts vor der Staffelei. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und das schöne Mädchen aus der Erinnerung wenigstens skizziert. Fast eine Stunde hatten sie zusammengesessen. Ihre etwas spröde Stimme klang noch in seinem Ohr nach, und er war ehrlich genug sich einzugestehen, dass nicht nur das Auge des Malers so entzückt von ihrem Anblick war, das Auge des Mannes mischte sich ununterscheidbar mit hinein. Eines Mannes auch, dem die Frau fehlte, der sich in Arbeit vergraben hatte und nur gelegentlich mit seinen Freunden mal frühstückte oder abends ein Glas Bier oder Rotwein mit ihnen trank.
Er war in Richtung Schimpfeck gegangen und stand jetzt vor dem großen Schreibwarengeschäft, in dem er gelegentlich seine Stifte und Zeichenblöcke kaufte. Warum nicht doch eine Skizze versuchen, jetzt, mit dem frischen Eindruck im Kopf. Hier konnte er sich schnell holen, was er brauchte: einen Skizzenblock, ein paar Kohlestifte. Vor dem Regal, auf das er gleich zusteuerte, standen zwei junge Männer, Studenten wohl, doch bekam er gleich unfreiwillig mit, dass sie als Hiwis, als wissenschaftliche Hilfskräfte, in einem medizinischen Projekt arbeiteten. Daher das Jackett zu den Jeans, schloss Kersting prompt; in den Fakultäten, die er näher kannte, ging es schlampiger zu. Einen Kinnbart hatte sich der eine immerhin geleistet, wohlgepflegt, versteht sich. Unter dem Jackett trug er ein schwarzes Hemd, das dunkelbraune Haar fiel ihm über die Stirn. Den zweiten beachtete er erst, als er ihn sprechen hörte. Mit etwas quäkender Stimme verkündete der gerade: »Das habe ich alles selbst nachgeprüft, sollte ja das Publikationsverzeichnis von Zimmer zusammenstellen. Die Hälfte drauf, die kannst du vergessen.«
Die Gestalt passte zur Stimme, höchstens einssiebzig groß, dünn und eifrig gestikulierend, ein Gesicht wie eine Lazaruskarikatur.
»So viel?«
»Na, vielleicht die knappe Hälfte. Waren auch nicht alle gänzlich gefakt. Einige echte Titel gab es, aber das waren zum Beispiel kurze Notizen, die in irgendeiner Zeitschrift über geplante Vorhaben berichteten, manchmal nicht mehr als zehn Zeilen! Aber das Tollste ist ein nichtssagender Geburtstagsartikel für die Sommer, habe ich mir extra besorgt, darin lobt er deren Grundlagenforschung über den grünen Klee. Obwohl jeder weiß, dass von der seit ihrer Habilitation vor zehn Jahren nichts, aber auch gar nichts Neues mehr gekommen ist.«
Kersting hörte interessiert zu, was der Kleinere von den beiden halb empört, halb wissend-zynisch aus den Hinterzimmern der Universität zu berichten hatte.
»Und der Geburtstagsartikel flog nicht gleich am Titel auf?«
»Ach wo, klang wie ein Forschungsthema. Und dass der die Lobhudelei nur geschrieben hat, weil die beiden miteinander pennen, weiß bei der DFG ja niemand. Hauptsache das Geld kommt.«
Kersting trat nun entschlossen auf das Regal mit den Stiften zu, die beiden hoffnungsvollen Jungwissenschaftler, die offenbar auf ihre spätere Karriere in ihrer jetzigen Anstellung gut vorbereitet wurden, verstummten und traten zur Seite. Das zufällig mitgehörte Gespräch erinnerte Kersting an den Wutausbruch Karlsdorfs vom gestrigen Abend.
Er war nach seinem Einkauf ein paar Schritte in den alten Botanischen Garten gegangen und hatte sich auf eine der wegen der Semesterferien leeren Bänke gesetzt. Dass Wissenschaft und Moral allenfalls flüchtig zusammentrafen, wenn sich das für die Beteiligten als nützlich erwies, war ihm nichts Neues. Die Skandale um gefälschte Promotionen und Habilitationen, um veruntreute Forschungsgelder und Titelhandel bewegten immer mal wieder die Feuilletons oder die Blogs im Netz.
Er versuchte sich an der ersten Skizze von Janas Porträt, war unzufrieden, wechselte die Perspektive auf ihre Gestalt im Sessel, auch das befriedigte ihn wenig, er gab auf.
Einige Spaziergänger flanierten an ihm vorbei. Gesprächsfetzen bekam er mit, auch englische und französische Brocken. Ein paar Studenten hatten es brandeilig, aus Gewohnheit oder weil sie in die Mensa zum Essen wollten. Der Gedanke hatte Wirkung, er verspürte nun selber Hunger, stand auf, um beim Italiener nahe der Stiftskirche seine Lieblingspasta, Spaghetti mit frischen, nur kurz erhitzten Tomaten, zu bestellen. Auch würde darüber die Zeit bis zu der Verabredung mit Jana schneller vorüber gehen.
Man begrüßte ihn wie einen Stammgast, der er gar nicht war, hin und wieder nur aß er mal eine Kleinigkeit hier. »Dottore, ganz frische Meeresfrüchte heute. Oder venezianisches Lamm …« Kersting winkte ab. Auch auf Wein verzichtete er lieber, der Nachmittag konnte anstrengend werden.
Das Lokal war gut besucht, wenige Plätze frei, trotz der Semesterferien. An einigen Tischen saßen offenbar Eltern mit ihren Söhnen oder Töchtern, auch deren Freunde schienen hier und da mitgekommen zu sein, was die Stimmung etwas förmlicher machte. Immerhin ging es an zwei Tischen hoch her. Gleich neben sich hörte er, wie ein Wuschelkopf, den er im ersten Augenblick einer Studentin zugeschrieben hatte, beredt seinen Entschluss verteidigte, eine Klausur, die jetzt schon fällig gewesen wäre, erst im nächsten Semester nachzuschreiben. An einem anderen Nebentisch diskutierte man die Entscheidung eines Dekanats, die Abschlussklausuren für alle ein zweites Mal schreiben zu lassen. Beim ersten Versuch hatte die Hälfte der Kandidaten den Raum verlassen, kaum dass die Aufgaben verteilt waren. Eigentlich galt das als durchgefallen. Alle waren in kurzen Abständen bei einem der hiesigen und einschlägig in Studentenkreisen bekannten Ärzte aufgetaucht, hatten über unerträgliche Migräne, Brechdurchfall, Panikattacken geklagt und waren mit einem Attest befriedigt abgezogen. Obwohl dieser medizinische Retter in höchster Not seine Hilfsbereitschaft schon häufiger unter Beweis gestellt hatte, sorgte die schiere Anzahl der Atteste diesmal für Ärger.
»Die Uni will jetzt sogar die alten Atteste von Dr. Jäger überprüfen«, beklagte sich ein hochgeschossener magerer Jüngling.
»Bist du denn auch mal bei dem gewesen?« erkundigte sich die Mutter. »Ich glaub ein Mal. Ist aber schon lange her«, beruhigte sie der Sprössling. »Dass man jetzt aber alle noch mal schreiben lässt, ist doch das Eingeständnis, dass die Aufgaben zu schwer waren.« Das war sicher die Stimme des Vaters, der hinzusetzte: »Ungerecht bleibt es aber für die, die sich gestellt haben.«
»Die bessere Note zählt, wenn man ein zweites Mal teilnimmt«, wurde er belehrt.
Solche Momentaufnahmen interessierten Kersting, weil sich der Studienbetrieb seit seiner Zeit doch stark verändert hatte. Man sammelte jetzt sogenannte Credit-Points statt der Scheine, wie er sie noch in seinem Studienbuch abgeheftet hatte, stolz über die Unterschriften seiner renommierten Lehrer. Statt der Referate gab es jetzt Power-Point-Präsentationen, mit animierten Graphiken und Illustrationen, die manchmal passten, aber meist nicht. Die Substanz dünn, das Design dafür glänzend, Argumente ersparte man sich. Oftmals wiederholte der Vortrag bloß den an die Wand projizierten Text, und zwar Wort für Wort. Sogar die Schlussformel mit dem obligatorischen »Danke für die Aufmerksamkeit« leuchtete von der Projektionswand und wurde getreulich ebenfalls nachgebetet. Selbst in öffentlichen Vorträgen fand sich die Leerformel. Als Kersting einmal den Redner fragte, wieso er schon beim Formulieren und Einrichten seines Vortrages wissen konnte, »ob wir später wirklich aufmerksam folgten«, erntete er bloß Unverständnis. Die Leerformel war das Signum der Zeit, und sie beherrschte Podium und Katheder ebenso wie die Rednertribünen der Politik.
Er hatte sich auch beim Espresso Zeit gelassen, konnte nun langsam die Wilhelmstraße Richtung Bahnhof hinunter gehen und im Café »Ludwigs« auf Jana Olivier warten.
Ihren Anblick, als sie auf den Tisch zukam, an dem er saß, würde er nicht vergessen. Es war ihm wie nach einem neuen Filmschnitt, plötzlich klärte der Raum sich auf und wich mit Gästen und Personal zugleich in den Hintergrund, um ihr Platz zu machen. Alles an ihr war hell und strahlte aus, dabei trug sie dunkle Jeans wie am Vormittag; weißes Tshirt und blaue Weste waren darauf abgestimmt, der Eindruck von Licht und Leichtigkeit nahm mit jedem Schritt zu. Kersting war wie geblendet und sah doch alles an ihr überscharf, die sanften Augenbrauen, die klare Stirn und, als sie näher kam, den schmalen braunen Ring um die blaugraue Iris ihrer großen Augen. Sie ging mit entschlossenem Schritt, sobald sie ihn entdeckt hatte, machte aber einen gelassenen Eindruck und als sie ihn anlächelte, war nichts Künstliches oder Konventionelles darin.
Sie musste seinen Augen, seiner Miene angesehen haben, wie hingerissen er war, denn ihr freundliches Lächeln vertiefte sich.
»Wunder … Wunderbar! Ich meine … dass Sie Zeit für mich haben«, fasste er sich gerade noch rechtzeitig im Aufstehen, rückte ihr den Stuhl zurecht und kam sich im selben Moment furchtbar altmodisch und steif vor.
»Wie war der Ausritt?«
»Es gab keinen Ausritt. Wir blieben in der Halle, wie leider meist, trotz des immer noch so schönen und warmen Wetters.«
Verlegenes Schweigen, das durch die Kellnerin zum Glück unterbrochen wurde. Das Gespräch kam allmählich in Gang. Landete schnell bei Verena Roeder. Dass die zwei befreundet gewesen waren, wusste Kersting bereits.
»Aber nicht sehr eng«, erfuhr er nun. Ja, sie habe sich seit einem Jahr vor ihrem Tode sogar noch weiter von allen anderen entfernt.
»Gab es einen persönlichen Anlass, ein Zerwürfnis vielleicht?«
»Mir ist nichts davon bewusst, höchstens der Zeitpunkt ihrer Veränderung könnte ein Hinweis sein. Sie war gerade aus ihren Ferien in der Provence zurück. Verena war mit einer Freundin gefahren, die tödlich verunglückte – beim Photographieren. In Bonnieux. Frau Decker war auf eine hohe Mauer gestiegen, hinter ihr ging’s 20 Meter in die Tiefe. Sie wollte dort oben photographiert werden, machte einen Fehltritt zurück und stürzte ab.«
»Solche Erlebnisse können Menschen verändern!«
»Ich weiß schon. Aber die Veränderung war irgendwie merkwürdig. Extreme Stimmungsschwankungen. Mal hochgestimmt und für jeden Scherz dankbar, dann wieder deprimiert. Reden wollte sie gar nicht über das schlimme Ereignis. Mit einer Ausnahme. Sie hatte immer wieder denselben Traum. Ein Krankenwagen, der nur im Schritttempo fahren konnte und immer zu spät kam, um noch helfen zu können. Sie war anscheinend recht ruppig von der Polizei verhört worden. Auch dem Ehemann hier in Tübingen gegenüberzutreten, war sicher nicht leicht. Dass sie das belastete, reimte ich mir aus einigen Bemerkungen zusammen. Sie verschloss sich.«
»Wer ist der Ehemann? Ich kenne einen Dr. Decker aus den Verhandlungen mit der Universität über den Ankauf meines Bildes: der Unikanzler heißt so …«
»Ja, das war seine Frau. Sie und Verena waren Freundinnen.«
»Trotz des sicher großen Altersunterschieds?«
»Ja, sicher zehn Jahre oder sogar mehr. Ihre Eltern kannten wohl die Deckers. Waren, glaube ich, entfernt verwandt.«
»Was ihr die Last nicht leichter gemacht haben wird. Von einem Freund wissen Sie nichts? Ich meine, der ihr vielleicht hätte beistehen können?«
»Sie hatte wohl zuletzt keinen. Aber unser Verhältnis war auch nicht mehr so, dass sie mir gleich erzählt hätte, wenn da ein neuer Mann aufgetaucht wäre.«
Gab es noch mehr zu fragen? Kersting hatte gehofft, dass Verena die Freundin ins Vertrauen gezogen hatte. Auch war sein Interesse für Verena abgekühlt, seit er auf Jana gestoßen war. Viel lieber hätte er ihr andere Fragen gestellt: welche Filme sie am liebsten sah, ob sie gerne las, was ihr wichtig war im Studium und wie weit fortgeschritten sie darin war, – und vor allem: ob es einen Freund gab. Er hatte das schöne Mädchen angesehen, so oft ihm das, ohne aufdringlich zu wirken, möglich war, und nur selten einmal den Blick schweifen lassen. Jetzt schaute er auf, als der Kaffee gebracht wurde und nahm erstmals seit dem Beginn ihrer Unterhaltung die Umgebung wieder wahr.
An den Tischen saßen meist Studenten. Redeten über ihre Professoren, sicher auch über Prüfungstermine oder was sie mal vorhatten im wirklichen Leben, jenseits der Schonfrist, die ihnen noch gestundet war. Nur wenige Schritte entfernt saß ein Pärchen, die beiden redeten leise aufeinander ein. Sie, eine Brünette mit kurzen Haaren, schirmte ihren Mund sogar mit der Hand ab, beugte sich weit zu ihrem Partner hinüber, einem lang aufgeschossenen jungen Mann, der sich schlecht hielt. Am Tisch unmittelbar neben ihnen zwei Männer um Ende fünfzig, doch leger in Jeans und Weste gekleidet, die sich lebhaft über ein geplantes Symposium unterhielten: »Aber Peter, das schaffen wir nicht«, zweifelte zögernd der eine.
»Aber sicher, da mach dir keine Sorgen, das krieg ich hin«, war die Antwort des anderen. »Du weißt doch, meine Beziehungen zum Universitätsbund …«
Sonst hätten Kersting solche Momente interessiert, er hätte sie in sein imaginäres Bildtagebuch aufgenommen, vielleicht schnell eine Karikatur auf einem Blatt Papier umrissen. Jetzt war seine Aufmerksamkeit sofort wieder bei Jana.
»Können Sie sich noch daran erinnern, ob Verena von ihrer Schule gesprochen hat?«
»Selten, und wenn, dann von einer Englischlehrerin, der sie viel zu verdanken hatte.«
»Von Schulfreundinnen?«
»Nicht viel. Mit den meisten hatte sie den Kontakt verloren.«
»Fielen irgendwelche Namen?«
»Das kann schon sein, aber behalten habe ich keine.«
»Neigte Verena denn insgesamt zur Heimlichtuerei? Dieser merkwürdige Zettel aus ihren Seminar-Papieren: irgend etwas muss er zu bedeuten haben.«
»Ganz bestimmt. Sie hatte ein Faible für geheimnisvolle Dinge, seit sie als Kind einmal von einem Blitz gestreift wurde.«
»Gestreift? Und hat dann doch überlebt?«
»Sie hat es so genannt. Auf einem Sportplatz, bei einem Gewitter, das sie überrascht hatte. Sie war nicht schnell genug in den Umkleideräumen verschwunden wie ihre Mitschüler, ihr war die Sportuhr vom Arm gerutscht, beim Suchen passierte es. Ein Blitz schlug neben ihr in eine Abzäunung und eine gleißend-helle und heiße Wand blendete sie. Bevor sie das Bewusstsein verlor, sah sie, wie darin sich ein Tor auftat und eine Hand sie heranwinkte. Sie erwachte im Krankenhaus, konnte zuerst weder sehen noch hören, das ging aber nach einiger Zeit vorüber.«
»Eine erstaunliche Geschichte.«
»Ja. Es gab auch noch eine Vorgeschichte. Sie habe einige Tage vor diesem Erlebnis einen Traum gehabt, erzählte sie, in dem auch eine solche weiße Wand mit einem Tor eine Rolle spielte. Sie habe hindurch gehen wollen, aber da habe sich das Tor plötzlich verschlossen.«
Kersting, als Maler für solche Geschichten empfänglich, war der Traum aber doch etwas zu viel, eine Drehung, die das Rätsel noch etwas unheimlicher machen sollte, es dadurch aber in Zweifel zog. Ein Fehler, in den Kinder und Politiker gerne verfallen.
Jana stimmte zu. Ihre großen, leicht schräg geschnittenen Augen mit Wimpern, etwas dunkler als ihre Haare, blickten ihn jetzt ernst an.
»Müssen wir weiter über Verena reden? Mir kommt es vor, als würden wir das Tuch von ihrem toten Körper wegziehen. Wie man das immer in den Krimifilmen sieht, wenn ein Mordopfer identifiziert werden muss. So hatte ich mir unser Gespräch nicht vorgestellt. Lassen wir sie ruhen. Die Polizei hat nichts gefunden, jetzt wird alles wieder aufgerührt.«
»Wir können über das Porträt reden, ich habe es ernst gemeint: ich möchte Sie malen.«
»Erzählen Sie erst einmal etwas von sich. Ich weiß ja viel zu wenig von Ihnen, bin wissbegierig wie Elsa von Brabant …«
Sie lachte ihn an, wurde aber plötzlich wieder ernst, dann ein wenig rot, als ihr bewusst wurde, dass die Anspielung mehrere Zweideutigkeiten eröffnete. Kersting rettete sie, indem er einfach zu erzählen begann.
Von der Schulzeit in Krefeld und wie er für Beuys geschwärmt, sogar an seinen Aktionen teilgenommen hatte (»Wo es nur ging, haben wir Bäume gepflanzt, wie er selber, damals bei der Dokumenta in Kassel. Manchmal mit seiner Förderung, manchmal in seinem Geiste.«) Wie er begonnen hatte, diese Aktionen zu zeichnen. Dann sein Studium an der Kunstakademie und bei dem Bense-Nachfolger, dem Philosophen Hubig in Stuttgart. Wie er dann nach Tübingen gekommen war, seine philosophischen Studien fortgesetzt und entdeckt habe, dass die Philosophie voller Bilder stecke, dass es eigentlich nichts in ihr gebe, was nicht auch eine Bildbotschaft enthielte. »Hegels Maulwurf sous la terre war mein erster Versuch, noch sehr nah an der Vorstellung. Und die List der Vernunft, die male ich auch noch. Überhaupt Hegel! Am liebsten würde ich die Phänomenologie des Geistes in meine Bilder übersetzen.«
Kersting hatte sich in Begeisterung geredet und jetzt wich Jana kaum einmal mit dem Blick von seinen enthusiastisch glänzenden Augen. Der Kriminalfall schien weit weg und sollte ihnen doch schon am nächsten Tag sehr nahe rücken.