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Festlichkeiten dieser Art waren Kersting zuwider. In jedem Herbst nach den Sommerferien lud der Präsident der Universität die Spendierfreudigen unter den Absolventen zu einem Mittagessen mit anschließender Führung durch eine der vielen wissenschaftlichen Fachsammlungen ein. Diesmal sollten die archäologischen Exponate vorgeführt werden. Kersting hatte beschlossen, es beim Mittagessen zu belassen. Er kannte die archäologische Sammlung bestens und hatte sich eigentlich nur eingefunden, weil er mit seiner Arbeit nicht vorwärtskam und sich inspirierende Abwechslung erhoffte. Diesmal würde sie von einer Seite kommen, die er niemals erwartet hätte. Später stellte er sich manchmal die Frage, wie sein Leben wohl verlaufen wäre ohne dieses Treffen. Weniger aufregend, weniger gefährlich, dafür aber vielleicht förderlicher für seine Arbeit.

Es war nicht viel, was er gelegentlich aufs Unikonto überwies, doch hing eines seiner Bilder, eine großformatige Variation auf die Fassade der Alten Aula, im Versammlungsraum des kleinen Senats. Beides reichte für eine ehrenvolle Erwähnung in der glücklicherweise kurzen, völlig humorlosen Tischrede des Präsidenten. Wenn man Kersting in dieser Gesellschaft sah, hätte man ihn kaum für einen Künstler gehalten, so korrekt war er gekleidet. Schon gar nicht hätte man ihn auf Mitte dreißig geschätzt. Seinem schmalen gebräunten Gesicht mit den ins Dunkle spielenden olivgrünen Augen, sah man an, dass er gerne lächelte und der Ausdruck des Ernstes nur auf das Stichwort dafür wartete. Kersting saß neben dem Dekan der philosophischen Fakultät, auf eigenen Wunsch. Philosophie war sein Hauptfach gewesen, und wenn die Malerei ihm jetzt noch Zeit ließ, griff er am liebsten zu Montaignes Essays oder den kleinen Schriften Schopenhauers, auch lagen Lichtenbergs Aphorismen und die »Fröhliche Wissenschaft« oft in Reichweite auf dem Regal neben den Schachteln mit Pinseln, Farben, Firnissprays oder Strukturpasten. »Ein miserabler Redner und durchschnittlicher Präsident«, flüsterte ihm sein rechter Nachbar nach der drögen Rede des Rektors zu. Er kannte ihn noch aus seiner Studienzeit und erinnerte sich nach kurzem Überlegen auch wieder an den Namen: Müller-Riedel, Germanistikprofessor kurz vor der Emeritierung, eine Koryphäe der Hölderlin-Philologie und exzellenter Rezitator, noch voller Spannkraft und Bosheit. Man erzählte sich wilde Geschichten von seiner Trinkfestigkeit, Nase und Haut zeugten davon, doch die Augen blickten klar, ein wenig listig sogar in die Welt.

»Durchschnittlich?« fragte Kersting, »als Präsident meinen Sie? Er hat doch die Universität in die Exzellenz-Förderung gebracht, viel Geld eingesammelt. Die Zeitungen waren voll des Lobes.«

»Nachdem er das erste Mal alles vermasselt hatte.« Müller-Riedel hüstelte mehrmals trocken, eine Angewohnheit, die, wie sich Kersting erinnerte, seine Vorlesungen zur Qual machten, weil er fast jede Satzpause damit füllte. »Der erste Antrag vor vier Jahren war voll von Fehlern und Versäumnissen gewesen, ein schlampiger Witz. Den Posten hat er bloß bekommen, weil es an Gegenkandidaten fehlte. Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht. Wer will schon seine Wissenschaft für einen reinen Verwaltungsjob aufgeben – es sei denn, er machte auch vorher schon nichts anderes. Man braucht nur zu sehen, was er aus den Institutionen macht, die sich nicht auf ›exzellent‹ reimen: abwickeln ist da die bürokratische Losung – wie beim Universitätszeichenlehrer.«

Kersting dachte sich sein Teil, wusste schließlich, dass auch für den boshaften Müller-Riedel, der da neben ihm saß, als Dekan und damit als Vorsitzender einer großen Fakultät keine bedeutenden wissenschaftlichen Sprünge mehr möglich waren. Er sah sich in dem kleinen Festsaal der Museumsgesellschaft um, der im ersten Stock über dem Restaurant lag.

In dem schmucklosen Raum war eine ganze Anzahl runder Tische verteilt, die meisten voll besetzt, man hatte offensichtlich darauf geachtet, dass an jedem Tisch mindestens ein Professor, eine Professorin Platz nahm. Das Stimmengewirr schwoll mal hier mal da an, je nach Alkoholkonsum.

Kersting kannte kaum jemanden. Die meisten waren im vorgeschrittenen Alter, viele begleitet von ihren professionell geschminkten oder, im krassen Gegenteil, naturbelassenen Ehefrauen. Nur wenige in seinem Alter. Ein paar Tische weiter erkannte er den Besitzer eines Textilunternehmens, das seinen Erfolg vor allem luftigen Dessous und exquisiter Nachtwäsche verdankte. Wenn man nicht genau hinsah, hätte man ihn, wie auch Kersting selber, für einen frisch examinierten Uniabsolventen halten können. Beide etwa gleichaltrig, noch ohne die hier übliche Geselligkeitsroutine. Ihre Blicke trafen sich, sie nickten sich verständnisinnig zu. Kersting strich sich eine Locke seines kastanienbraunen Haares aus der Stirn.

Auch von den Repräsentanten der Universität waren ihm wenige Gesichter vertraut: der Kanzler, der Prorektor noch. Sonst auffallend viele junge Leute, deren Aussehen auch an einem Bank- oder Postschalter nicht fremd gewirkt hätte. Eine rundliche junge Frau sonnte sich in der Aufmerksamkeit ihres graumelierten Gegenüber. Ziemlich weit entfernt sah er einen zwar weißhaarigen, aber den ausdruckslos glatten Gesichtszügen nach, noch jungen Mann. Ein Professor namens Knaipp, wie er sich jetzt erinnerte. Sogenannter Kommunikationswissenschaftler und Sprecher des Rektors. Seine Affären waren Stadtgespräch. Einen sonnigen Intriganten, hatte ein Kollege ihn öffentlich genannt.

Kersting ärgerte sich jetzt doch, die Einladung angenommen zu haben. Überall im Saal beherrschte gepflegt-langweilige Plauderei die Atmosphäre, überall freundliche, doch nichtssagende Gesichter. Er hätte Besseres zu tun gehabt. An einem der näher gelegenen Tische begann immerhin ein lebhafteres Gespräch die Stimmung etwas zu heben. Er hörte Satzfetzen, von einem Artikel im ›Tagblatt‹ war die Rede, vom Versagen der Polizei. Worum es genau ging, bekam er nicht mit.

Bevor der Hauptgang kam, Tafelspitz mit Meerrettich und reicher Gemüsebeilage, erkundigte sich Kersting bei seinem Tischnachbarn nach einigen seiner früheren Professoren, die er aus den Augen verloren hatte, erhielt aber nur zerstreute Antwort. Der Grund zeigte sich bald. Müller-Riedel begann in seiner Sakkotasche zu kramen und zog einen kleinen quadratischen Zettel hervor, schob ihn zu seinem Nachbarn hinüber. »Können Sie sich einen Reim draus machen?«

Auf dem kleinen Papier standen, etwas schräg aufeinander zulaufend, drei Zeilen, per Hand mit dem Kugelschreiber geschrieben und gut lesbar: »Denk an unser herbarium sidereum oder die andere schreit und lärmt in allen Gassen. Wie immer F20« –

Die lateinische Wendung (übersetzt: ›das himmlische Kräuterbuch‹) kam Kersting von fernher nicht unbekannt vor, doch wusste er nicht, wo er sie einordnen sollte.

»Ich müsste darüber nachdenken, aber wo haben Sie das her?«

Doch bevor Müller-Riedel antworten konnte, wurden von hinten die gefüllten Teller auf den Tisch gestellt, der Präsident wünschte an seinem Platz stehend, mit erhobenem Glas, guten Appetit. Kersting wollte den Zettel zurückreichen, aber Müller-Riedel winkte ab: »Behalten Sie ihn und rufen Sie mich an, wenn Sie eine Idee haben.«

Die kleine Pause vor dem Nachtisch kam dann gerade recht, um die Frage nach der Herkunft der Notiz zu wiederholen.

»Erinnern Sie sich an die Uni-Tragödie, den Kriminalfall, vor einem halben Jahr? Die tote Studentin, die man im Seminarraum der Kommunikationswissenschaftler fand, an einem Montag, noch vor Veranstaltungsbeginn des Sommersemesters, im April?«

Max Kersting erinnerte sich natürlich. In der noch immer pietistisch geprägten Bevölkerung der Universitätsstadt hatte der Fall große Aufmerksamkeit erregt, zumal einige Indizien darauf hindeuteten, dass die junge Frau vor ihrem Tode nicht allein gewesen war. Auch munkelte man, dass Rauschgift eine Rolle gespielt hatte, obwohl niemand wusste oder wissen wollte, dass sie Rauschgift nahm. Auch sollte sie ihr Studium nicht mehr sehr ernst genommen haben, was man einem unbekannten Freund angelastet hatte. Mehr war Kersting von der Sache nicht in Erinnerung geblieben, er hatte sie nicht weiterverfolgt, zumal die Polizei Fremdverschulden schließlich ausgeschlossen hatte.

»Der Zettel stammt von ihr«, fuhr Müller-Riedel fort. »Die Polizei hat ihn bei ihr gefunden und nach der Untersuchung mit einigen aus der Bibliothek stammenden Büchern und sonstigen Seminarmaterialien zurückgegeben. Er lag in einer Mappe mit Photokopien zu einem Referat, das sie vorbereitete. Das Thema hieß ›Der Ursprung der Faust-Sage‹ und hat mit den Zeilen hier aber offenbar nichts zu tun. Mir hat die Botschaft, denn das ist es ja wohl, trotzdem keine Ruhe gelassen. Ich glaube auch, dass sich die Schlussbemerkung auf ein geplantes Treffen bezieht. Vielleicht auf das, was sie dann nicht überlebt hat.«

»Sie meinen die Schlussbemerkung ›wie immer F20‹?«

»Ja. Klingt wie eine Verabredung: ›Wie immer Freitag‹, also vielleicht der Tat-Tag, und die Uhrzeit, 20 Uhr. Man sollte doch wissen, was das Übrige heißen soll.«

»Könnte natürlich auch ein Seminarraum gemeint sein …«

»Unwahrscheinlich, gibt’s zumindest in unserm Haus nicht. Ist mir auch sonst nicht begegnet. Aber sei’s drum, wichtig wär auch das. Doch sicher ein Hinweis auf den Freund, mit dem sie in den letzten Wochen zusammen war, den auch ihre Freundinnen nicht kennen und möglicherweise der letzte, der sie lebend gesehen hat.«

Darüber sollte man nachdenken, war auch Kerstings Meinung. Auf Geheimnisse war er schon immer angesprungen. Innerlich belustigt dachte er an manchen Titel seiner Kinderlektüre. Er versprach, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, bat um einen Stift, um sich die Sätze von dem Zettel abzuschreiben.

»Behalten Sie ihn ruhig erst mal. Vermisst ja niemand.«

Müller-Riedel lehnte sich zurück, zufrieden, etwas zur Aufklärung des Rätsels getan zu haben, das ihn so sehr beschäftigte – kaum ein Kollege, den er damit verschont hätte. Kersting steckte das Papier in seine Jackentasche und wandte sich jetzt wieder der illustren Versammlung zu.

Sie hatten sich mit einigen wenigen Unterbrechungen unterhalten, ohne sich besonders um ihre anderen Tischnachbarn zu kümmern. Zu seiner Linken saß ein Unternehmer aus Mössingen in mittleren Jahren, etwas korpulent, aber in weißem Leinenanzug und vom Urlaub gebräunt; Vorstand eines kleinen Familienunternehmens, das Gardinenstoffe herstellte und in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken sollte.

Rechts von Müller-Riedel saß ein schlanker junger Mann um die dreißig, den er offenbar mitgebracht hatte, vielleicht sein Assistent, vielleicht ein Gast von außen, bei der Vorstellung war das undeutlich geblieben. Gleich gegenüber eine Frau, um die fünfzig, untersetzt, blau punktierte helle Bluse mit Wasserfall-Ausschnitt, der ihrer weichen Körperform schmeichelte. Nur die flink hin und her huschenden blassgrauen Augen störten das freundliche Bild, sie liefen oftmals wie von selbst nach oben weg, als ob an der Decke der eigentliche Film lief. Offenbar eine Kollegin seines Nachbarn, die, wie sich jetzt zeigte, das Gespräch mitangehört hatte.

»Die Polizei hat den Fall ganz nachlässig verfolgt«, behauptete sie. »Tut ja auch jetzt nichts. Das ist ein Skandal, ja ein Skandal! Nicht mal die genaue Todesursache weiß man. Wo sind wir? Auf dem Balkan?«

Inzwischen war der Nachtisch, Eis mit allerlei Früchten, verzehrt, die Weingläser geleert. In das Gespräch über den Kriminalfall mischten sich nun auch die anderen Tischgäste. Der junge Mann neben Müller-Riedel, den Kersting für einen Assistenten hielt, hatte das Ereignis etwas wegwerfend als Medienspektakel beschrieben und dafür lebhaften Widerspruch von einem fetten Mann geerntet, der ausgiebig schwitzte und ständig mit dem Taschentuch über den glattrasierten Kopf wischte. Die Frau an seiner Seite unterstützte ihn, indem sie nickend ihrem langen Gesicht einen energischen Ausdruck zu geben versuchte.

Das ging noch eine Weile hin und her, bis die Gesellschaft sich an den Rändern und den Tischen, die dem Saalausgang am nächsten waren, aufzulösen begann. Kersting hatte den Kommentaren nur noch zerstreut zugehört. Er wollte noch einen Spannrahmen in Fellbach kaufen und verabschiedete sich von seinem Tischnachbarn. Er versprach anzurufen, wenn er irgendetwas über die Bedeutung des Zettels herausgebracht hätte und ging eilig die breite Treppe des Museums-Restaurants hinunter. Auf der Straße und bevor er die Richtung zur Tiefgarage am Nonnenhaus einschlug, änderte er seine Absicht und wandte sich in Richtung Bibliothek. Er schwitzte in seinem Anzug. Der September war bisher ungewöhnlich warm gewesen.

Die nächsten zwei Stunden las er im kühlen Lesesaal alte Presseartikel zu dem Fall Verena Roeder, mit dem er sich so unvermutet konfrontiert sah und der ihn nicht losließ. Die Fakten waren dürftig, die Spekulationen umso blühender. Er sah einige Photos. Eine hübsche junge Frau Mitte zwanzig, wohl in der Endphase ihres Studiums. Lange, offenbar dunkle Haare, auf einem Bild trug sie eine Sonnenbrille mit großen dunklen Gläsern, auf einem anderen sah man sie in einem leichten, kurzen Sommerkleid. Sie stammte aus Bremen. Die Eltern beide Ärzte, ein jüngerer Bruder studierte in Frankfurt. Das gab alles nicht viel her. Dafür beherrschte der unbekannte Freund die Berichterstattung. War er ein Mitstudent? Aber warum hatte sie dann ein Geheimnis aus seiner Person gemacht?

Oder war er verheiratet oder einer ihrer Professoren oder beides? Von früheren Freunden wusste man nichts, auch die Eltern hatten keine Ahnung. Vielleicht eine Geliebte – und gerade das sollte niemand wissen? Sie hatte im Wohnheim auf der Wanne gewohnt. Eine Nachbarin wollte sie zweimal mit einer älteren Frau in Stuttgart auf der Königstraße gesehen haben.

Das alles war wenig aufschlussreich. Nur auf eine Information stieß er, die ein besonderes Licht auf sie warf. Im Hauptfach war sie Germanistin, doch hatte sie sich besonders für das Mittelalter interessiert, historische und auch philosophische Kurse über diese Epoche besucht. Eine eher ungewöhnliche, aber interessante Orientierung heutzutage, fand er.

Als Kersting die Unibibliothek verließ, wäre er beinah mit Müller-Riedels Kollegin, die so lebhaft die örtliche Kriminalpolizei kritisiert hatte, zusammengestoßen. Sie kam vom sogenannten Brechtbau her, dem üblichen Betonklotz, in dem die philologischen Fächer untergebracht waren. Er hatte sich vorhin nicht vorgestellt und beschloss, das Versäumte jetzt nachzuholen.

»Max Kersting – es gab leider gar keine richtige Gelegenheit, uns bekannt zu machen.« »Der Maler, von dem die ›Gelehrtenrepublik‹ im kleinen Senat hängt? Ich bin Sophie Jansen, versuche, die Studenten für Sprachtheorien zu interessieren. Hartes Brot, ganz hartes Brot!«

Sie sagte das lachend, fügte dann aber, sofort ernst, hinzu: »Verena, über deren Tod Sie sich mit Müller-Riedel unterhalten haben, war bis zuletzt in meinem Seminar über Sprachmystik im Mittelalter. Fleißig und interessiert, eine seltene Freude heutzutage.«

»Eine ungewöhnliche Wahl oder die Mentalität der Studenten muss sich seit meiner Zeit sehr geändert haben.« »Hat sie nicht. Acht Leute waren im Seminar, davon sechs Studentinnen.« »Fiel Frau Roeder irgendwie auf, hatte sie spezielle Fragen, haben Sie irgendetwas von ihrem Privatleben mitbekommen?«

»Na, Sie haben wohl Feuer gefangen? Ist eine rätselhafte Geschichte, das Ganze. Sie war ziemlich verschlossen, ohne eigenbrötlerisch zu sein. Ich hatte manchmal den Eindruck, ihre Zurückhaltung hatte sie sich verschrieben wie eine Medizin. Verstehen Sie? Mit Vorsatz, nicht aus natürlichem Temperament.«

»Und das hielt sie durch?«

»Im Seminar ja. Da wirkte sie auch sonst in manchem, wie soll ich sagen … unzeitgemäß. Die anderen hocken mit ihren Laptops oder Ipads da, notieren sich ihre Stichworte und referieren sozusagen vom Bildschirm aus. Aber Powerpoint, das sag ich Ihnen, gibt es bei mir nicht.

Verena war ganz anders! Sie schrieb auf einem altmodischen Papierblock mit und ihre Vorträge bereitete sie auf Karteikarten vor. Völlig selbstverständlich, auch selbstbewusst. Nur einmal habe ich sie anders erlebt. In der Sprechstunde. Sie kam schon niedergeschlagen zur Tür rein, dann begann sie aber schnell die Fassung zu verlieren, die Fassade bröckelte gewissermaßen, aber was dann …«

Frau Jansen brach ab.

»Ja?«

»Ach nichts weiter. Wir müssen jetzt Schluss machen, sonst erwische ich den Bus nach Pfrondorf nicht mehr; mein Auto steht in der Werkstatt. Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen.«

Sie wandte sich um und ging eilig die Wilhelmstraße hinauf. Kersting sah ihr hinterher. Eine kleine, rundliche Person, aber von höchst einnehmenden Wesen, dem auch er sich, obwohl soviel jünger, nicht entziehen konnte. Er hätte gerne etwas mehr von ihren Eindrücken über ihre unglückliche Studentin erfahren, auch über jene offenbar merkwürdige Sprechstunde. Noch war das bloße Neugier, angeregt durch die Zeitungslektüre und das Gespräch mit Müller-Riedel. Einen Augenblick wunderte er sich dann aber doch darüber, dass er an dem Fall soviel Anteil nahm und sogar stundenlang alte Zeitungsartikel studiert hatte, um sich mit Fakten und Personen vertraut zu machen.

Sollte er noch nach Fellbach fahren? Es ging schon auf den Abend zu, aber er würde es noch vor Geschäftsschluss schaffen. Brauchte auch die Leinwand. Die Pflicht siegte, im Nachhinein musste er sagen: unglücklicherweise. Er holte den alten eckigen Volvo-Kombi aus der Parkgarage und fuhr los.

Die Straßen waren um diese Zeit voll, er reihte sich in die Schlange ein und wappnete sich mit Geduld. Einmal wäre er beinah umgekehrt, hatte dann aber schon Vaihingen fast erreicht. Verena Roeder ging ihm nicht aus dem Kopf, die ganze Fahrt über. Er hatte sie nicht gekannt, auch niemanden aus ihrer Nähe, außerdem schien der Fall inzwischen unter Aktenbergen begraben. Wie kam er plötzlich zu diesem Interesse. Vielleicht lag es an den Photos von ihr? Er sah sie immer wieder vor sich, fühlte ein Bedauern über ihren Tod, so als sei er ihr im Leben begegnet. Ihre ernsten dunklen Augen sah er vor sich, wie in einem Tagtraum, der unerfüllbar bleibt. Er erinnerte sich an die elende Liebesgeschichte des Studenten in Hoffmanns Erzählungen, der einer leblosen Puppe verfiel und wahnsinnig wurde.

Ob die merkwürdige lateinische Formel auf dem Zettel in seiner Tasche aus dieser Gegend, also aus romantischem Geist stammte? Maler waren besonders anfällig für Fernlieben dieser Art, sogar wenn von Erfüllung keine Rede sein konnte, weil die Angehimmelte längst schon Geschichte war. ›Dies Bildnis ist bezaubernd schön‹. Er hatte, als er studierte, einen Zimmernachbarn, der die Uta vom Naumburger Dom auf einem fast lebensgroßen Photoplakat in seinem Zimmer hängen und sie wieder und wieder gemalt hatte. Die Fata Morgana machte ihn nicht satt, er verzweifelte schließlich, gab die Malerei auf.

Die Rückfahrt von Fellbach war nicht weniger mühsam, immerhin lagen die Keilrahmen im Auto, er konnte weiterarbeiten. Die Unterbrechung mit den Gesprächen im Geschäft und der üblichen Fachsimpelei hatten ihn wieder in die Wirklichkeit geholt. Als er sich Unterjesingen und seinem Atelier, ganz am Ende einer Wohnstraße näherte, freute er sich nur auf ein Glas Rotwein. Er rangierte auf seinen Parkplatz vor dem Haus, erleichtert, zuhause zu sein. Er stieg aus und merkte erst jetzt, da die Autoscheinwerfer ausgeschaltet waren, dass mit der Straßenlaterne vor dem Haus etwas nicht stimmte, genauer: sie leuchtete nicht, flackerte nicht einmal, so dass es ihm nicht leichtfallen würde, die Rahmen so aus dem Kofferraum zu ziehen, dass sie nicht beschädigt wurden. Ob er die Innenbeleuchtung noch mal einschalten sollte? Er kam nicht dazu. Hörte hinter sich Geräusche, schnelle Schritte, drehte sich um, sah schattenhaft zwei kräftige Gestalten auf sich zukommen.

»Raus mit dem Papier!«

»Was …«

»Komm schon, raus damit!«

Mehr Worte machten sie nicht. Der eine hielt ihn fest, der andere versuchte, in seine Jacke zu fassen. Kersting wehrte sich jetzt so gut er konnte, trat mit den Füßen, bekam einen Arm frei. Das nützte wenig, ein Faustschlag in die Nieren tat höllisch weh, er krümmte sich, ein Schlag traf seinen Kopf, ein Knie rammte gegen seine Nase, noch ein Schlag, er lag auf dem Boden, benommen und hilflos. Später wunderte er sich, dass er nicht um Hilfe geschrien hatte, aber alles war sehr schnell gegangen. Nicht ohne einigen Lärm allerdings, in dem etwas entfernt stehenden Nachbarhaus ging die Außenbeleuchtung an.

Herbarium, giftgrün

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