Читать книгу Wie wir unsere menschlichen Probleme lösen - Geshe Kelsang Gyatso - Страница 21

Die Fehler der Wut

Оглавление

Wut ist eine der häufigsten und zerstörerischsten Verblen­dungen und es vergeht fast kein Tag, an dem sie unseren Geist nicht plagt. Um das Problem der Wut zu lösen, müssen wir zuallererst die Wut in unserem Geist erkennen. Wir müssen uns eingestehen, wie sehr sie sowohl uns als auch anderen schadet, und die Vorteile schätzen, im Angesicht von Schwierigkeiten geduldig zu sein. Dann müssen wir im Alltag praktische Methoden anwenden, um unsere Wut zu verringern und letztendlich zu verhindern, dass sie überhaupt entsteht.

Was ist Wut? Wut ist ein verblendeter Geist, der sich auf ein belebtes oder unbelebtes Objekt richtet, es als abstoßend empfindet, seine schlechten Eigenschaften übertreibt und ihm schaden möchte. Wenn wir zum Beispiel auf unseren Partner oder unsere Partnerin wütend sind, erscheint er oder sie uns in diesem Augenblick als abstoßend oder unangenehm. Dann übertreiben wir seine schlechten Eigenschaften, indem wir uns nur auf die Seiten konzentrieren, die uns ärgern, und übersehen all seine guten Eigenschaften und Güte, bis wir schließlich das geistige Bild einer intrinsisch schlechten Person aufgebaut haben. Dann möchten wir sie auf irgendeine Weise verletzen, wahrscheinlich indem wir sie kritisieren oder verunglimpfen. Da Wut auf Übertreibung beruht, ist sie ein unrealistischer Geist: Die intrinsisch schlechte Person, oder das intrinsisch schlechte Ding, auf das sich die Wut konzen­triert, existiert tatsächlich nicht. Zudem ist Wut, wie wir noch sehen werden, ein äußerst zerstörerischer Geist, der nicht den geringsten Nutzen hat. Haben wir die Natur und die Nachteile der Wut verstanden, müssen wir unseren Geist zu jeder Zeit wachsam beobachten, um sie zu erkennen, sobald sie entsteht.

Es gibt nichts, was zerstörerischer ist als Wut. Sie zerstört unseren Frieden und unser Glück in diesem Leben und treibt uns zu negativen Handlungen, die zu unsäglichem Leiden in zukünftigen Leben führen. Sie blockiert unseren spirituellen Fortschritt und hindert uns daran, jegliches spirituelle Ziel zu erreichen, das wir uns selbst gesetzt haben – angefangen von einer bloßen Verbesserung unseres Geistes bis hin zur vollen Erleuchtung. Das Gegenmittel zur Wut ist geduldiges Annehmen und wenn wir ernsthaft daran interessiert sind, auf dem spirituellen Pfad fortzuschreiten, gibt es keine wichti­gere Praxis als diese.

In Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattva sagt Shantideva, dass alle Verdienste, oder Glück, die wir durch tugendhafte Handlungen über tausende von Äonen in unserem Geist erschaffen haben, in einem Augenblick zerstört werden können, indem wir auf ein heiliges Wesen wie einen Bodhisattva wütend werden. Ein Bodhisattva ist jemand, der Bodhichitta hat, den spontanen Wunsch Erleuchtung zum Wohle aller Lebewesen zu erlangen. Da Bodhichitta eine innere Eigenschaft ist, ist es nicht einfach zu erkennen, wer ein Bodhisattva ist und wer nicht. Es ist gut möglich, dass ein berühmter spiritueller Lehrer kein Bodhisattva ist, während jemand, der einfach und unauffällig unter bedürftigen Menschen lebt, tatsächlich ein hochverwirklichtes Wesen ist. Wenn, wie Shantideva sagt, ein Augenblick der Wut gegen jemanden, der Bodhichitta entwickelt hat, Äonen von Tugend zerstören kann, dann ist es deshalb ratsam, auf niemanden wütend zu werden.

Wir können auf viele unterschiedliche Objekte wütend werden und wenn die Wut sich auf jemanden richtet, der hohe spirituelle Verwirklichungen hat, kann sie die Verdienste, die wir während tausender von Leben angesammelt haben, zerstören. In gleicher Weise wird die Zerstörung unserer Verdienste, oder unseres Glücks, grenzenlos sein, wenn wir sehr wütend auf jene werden, die uns große Güte erwiesen haben, sei es materieller oder spiritueller Art. Selbst wenn wir auf jemanden wütend werden, der uns gleich­gestellt ist, zerstört dies das Glück, das wir während vieler früherer Leben angesammelt haben.

Nehmen wir an, wir erschaffen an einem Tag eine große Menge an Verdiensten, indem wir den Drei Juwelen – Buddha, Dharma und Sangha – umfangreiche Gaben darbringen oder vielen Menschen helfen. Wenn wir uns daran erinnern, unsere Verdienste der Erlangung der Erleuchtung und dem Wohle aller fühlenden Wesen zu widmen, dann sind diese Verdienste sicher und können nicht durch Wut zerstört werden. Widmen wir diese Verdienste jedoch nicht in angemessener Weise und werden am nächsten Tag auf jemanden wütend, wird die Tugend, die wir durch die Praxis am Tag davor angesammelt haben, kraftlos werden. Selbst wenn wir nur ein wenig wütend werden, kann dies das Heranreifen unseres tugendhaften Karmas hinaus­zögern. Deshalb fügt uns die Verblendung Wut ernstlichen Schaden zu. Ein alkoholisches Getränk hat das Potenzial, uns zu berauschen, doch wird es gekocht, dann ist dieses Potenzial zerstört. In gleicher Weise erschafft die Praxis der Tugend in unserem Geist das Potenzial Glück zu erfahren, Wut aber kann dieses Potenzial vollständig zerstören.

Die Zerstörung der Verdienste ist einer der unsichtbaren Fehler der Wut und deshalb etwas, das wir nur mit Vertrauen annehmen können. Doch es gibt viele sichtbare Fehler dieser Verblendung und die Notwendigkeit, uns in Geduld zu schulen, wird klarer, wenn wir uns diese offensichtlicheren Mängel einmal anschauen.

Wut ist von Natur aus ein schmerzhafter Geisteszustand. Wann immer wir wütend werden, schwindet unser innerer Frieden augenblicklich dahin und unser Körper wird angespannt und fühlt sich unwohl. Wir sind derart ruhelos, dass es fast unmöglich ist einzuschlafen, und wenn wir dann doch ein wenig schlafen, ist unser Schlaf unruhig und nicht erholsam. Wir können nichts genießen, wenn wir wütend sind, und selbst unser Essen ist uns zuwider. Wut verwandelt sogar einen normalerweise anziehenden Menschen in einen hässlichen, rotgesichtigen Dämon. Wir fühlen uns immer elender und können unsere Gefühle nicht kontrollieren, ganz gleich wie sehr wir es versuchen.

Eine der schädlichsten Auswirkungen der Wut ist, dass sie uns unsere Vernunft und unseren gesunden Menschen­verstand raubt. Um an jenen, die uns vermeintlich verletzt haben, Vergeltung zu üben, setzen wir uns großen persönlichen Gefahren aus, nur um einer kleinen Rache willen. Um Ungerechtigkeiten oder Beleidigungen heimzuzahlen, setzen wir unsere Arbeitsstelle, unsere Beziehungen und selbst das Wohl unserer Familie und Kinder aufs Spiel. Wenn wir wütend sind, verlieren wir jede Handlungsfreiheit und werden von unserer unbändigen Wut umhergetrieben. Diese blinde Wut richtet sich manchmal sogar gegen die, die wir lieben und gegen die, die es gut mit uns meinen. In einem Wutanfall vergessen wir die unermessliche Güte, die wir von unseren Freunden, unserer Familie und unseren spirituellen Lehrern erhalten haben, und schlagen oder töten vielleicht sogar diejenigen, die wir am meisten lieben. Es ist kein Wunder, dass bald alle, die einen gewohnheitsmäßig wütenden Menschen kennen, diesem aus dem Weg gehen. Dieses unglückliche Opfer seiner eigenen Launen treibt alle, die ihn einst liebten, zur Verzweiflung und sieht sich schließlich von allen verlassen.

Wut wirkt sich in Beziehungen besonders zerstörerisch aus. Wenn wir eng mit jemandem zusammenleben, prallen unsere Persönlichkeiten, Vorlieben, Interessen und die Art und Weise, Dinge anzupacken, oftmals aufeinander. Da wir sehr viel Zeit miteinander verbringen und die Fehler des anderen so gut kennen, sind wir besonders schnell kritisch und unserem Partner gegenüber gereizt und geben ihm oder ihr die Schuld daran, dass unser Leben unangenehm ist. Bemühen wir uns nicht fortwährend, diese Wut im Zaum zu halten, sobald sie entsteht, wird unsere Beziehung darunter leiden. Zwei Menschen mögen echte Liebe füreinander empfinden, doch wenn sie immer wieder wütend aufeinander werden, dann werden die Zeiten, in denen sie glücklich miteinander sind, seltener und kürzer. Schließlich wird es soweit kommen, dass der nächste Streit schon beginnt, bevor sie sich vom vorhergehenden erholt haben. So wie eine Blume vom Unkraut erstickt wird, kann Liebe unter solchen Umständen nicht überleben.

In einer engen Beziehung gibt es täglich mehrere Anlässe, wütend zu werden, deshalb müssen wir der Wut begegnen, sobald sie in unserem Geist entsteht, um zu verhindern, dass sich die negativen Gefühle anstauen. Wir räumen nach jeder Mahlzeit das Geschirr ab und warten damit nicht bis zum Ende des Monats, denn wir wollen weder in einem schmutzigen Haus wohnen noch vor einer solch riesigen, unerfreulichen Aufgabe stehen. In ähnlicher Weise müssen wir uns bemühen, diese Unordnung in unserem Geist aufzuräumen, sobald sie entsteht, denn wenn wir es zulassen, dass sie sich ausbreitet, wird es immer schwieriger sein, damit umzugehen und wir werden unsere Beziehung gefährden. Wir sollten daran denken, dass jede Gelegenheit uns zu ärgern auch eine Gelegenheit ist, Geduld zu üben. Eine Beziehung, in der es viel Reibung und Interessenskonflikte gibt, ist auch eine unvergleichliche Gelegenheit, unsere Selbstwertschätzung und unser Festhalten am Selbst, die die wirklichen Quellen all unserer Probleme sind, zu untergraben. Wenn wir die Anleitungen über Geduld, die in diesem Buch erklärt werden, umsetzen, können wir unsere Beziehungen in Gelegenheiten für spirituelles Wachstum umwandeln.

Es sind unsere Wut und unser Hass, die uns dazu bringen, Menschen in Feinde zu verwandeln. Normalerweise glauben wir, dass wir wütend werden, weil wir einen unangenehmen Menschen treffen, doch tatsächlich verwandelt die Wut, die bereits in uns ist, den Menschen, dem wir begegnen, in einen eingebildeten Feind. Jemand, der von seiner Wut beherrscht wird, lebt in einer paranoiden Welt, umgeben von selbst­erschaffenen Feinden. Der falsche Glaube, dass alle ihn hassen, kann so überwältigend sein, dass er vielleicht sogar wahnsinnig wird, das Opfer seiner eigenen Verblendung.

Es kommt oft vor, dass jemand in einer Gruppe immer den anderen die Schuld gibt, dass etwas schiefgeht. Doch im Allgemeinen ist derjenige, der sich ständig beschwert, verantwortlich für jegliche Disharmonie, die entsteht. Es wird die Geschichte einer alten Frau erzählt, die zänkisch war und sich mit allen stritt. Sie war so unangenehm, dass sie schließlich aus ihrem Dorf verstoßen wurde. Als sie in ein anderes Dorf kam, fragten die Leute: »Warum hast du dein Zuhause verlassen?» Sie antwortete: «Alle im Dorf waren böse. Ich bin vor ihnen geflüchtet.» Die Dorfbewohner fanden es eigen­artig, dass ein ganzes Dorf so böse sein sollte und kamen zu dem Schluss, dass es wohl eher an der Frau gelegen hatte. Da sie befürchteten, dass sie auch ihnen nur Ärger machen würde, verstießen auch sie die Frau aus ihrem Dorf.

Es ist sehr wichtig, die eigentliche Ursache unserer un­glücklichen Gefühle zu identifizieren. Geben wir ständig anderen die Schuld für unsere Schwierigkeiten, so ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass unser eigener Geist immer noch viele Probleme und Fehler hat. Wären wir innerlich wirklich friedvoll und könnten unseren Geist beherrschen, könnten schwierige Menschen oder Umstände diesen Frieden nicht stören und wir wären nicht geneigt, andere zu beschuldigen oder sie als unseren Feind zu betrachten. Für jemanden, der seinen Geist gezähmt und jede Spur von Wut ausgelöscht hat, sind alle Wesen Freunde. Ein Bodhisattva zum Beispiel, dessen einzige Sorge das Wohl anderer ist, hat keine Feinde. Kaum jemand möchte einem schaden, der ein Freund der ganzen Welt ist, und selbst wenn jemand ihm oder ihr schaden würde, wäre er für den Bodhisattva kein Feind. Mit einem Geist, der stets geduldig ist, bliebe er ruhig und unbeschwert und seine Liebe und Achtung für den Angreifer blieben davon unberührt. So stark ist ein gut gezähmter Geist. Wollen wir wirklich alle Feinde loswerden, dann müssen wir nur unsere eigene Wut an den Wurzeln ausreißen.

Wir sollten nicht glauben, dass dieses Ziel unerreichbar ist. Viele Menschen konnten sich selbst vollständig von ihren körperlichen Krankheiten heilen, indem sie geeignete Methoden anwandten. In gleicher Weise können wir mit Sicherheit die innere Krankheit der Wut ausmerzen, und vielen spirituell Praktizierenden ist das in der Vergangenheit gelungen. Uns stehen alle Methoden zur Verfügung, mit denen wir uns von dieser lähmenden Verblendung befreien können. Sie haben ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt, wann immer Menschen sie aufrichtig in die Praxis umgesetzt haben, und es gibt keinen Grund, warum das bei uns anders sein sollte. Stellen wir uns eine Welt vor, in der wir alle unsere Wut besiegt hätten! Die Gefahr von Kriegen wäre gebannt, Armeen wären überflüssig und Soldaten müssten sich anderweitig nach Arbeit umschauen. Maschinengewehre, Panzer und Atombomben – Dinge, die nur für einen wütenden Geist nützlich sind – könnten vernichtet werden, denn alle Konflikte, angefangen von Kriegen zwischen Nationen bis hin zu Streitigkeiten zwischen einzelnen, hätten ein Ende. Selbst wenn uns die Hoffnung auf derart allumfassenden Frieden und Harmonie unrealistisch erscheinen sollte, so stellen wir uns doch einfach die Freiheit und den Frieden des Geistes vor, den jeder von uns genießen würde, sollte es gelingen, nur uns selbst vollkommen von diesem verzerrten und zerstörerischen Geist der Wut zu befreien.

Haben wir die vielen Fehler der Wut verstanden, dann sollten wir unseren Geist jederzeit genau beobachten. Sobald wir bemerken, dass unser Geist unruhig wird – indem wir zum Beispiel auf den Fehlern eines anderen verweilen und ihn für die unangenehmen Gefühle in unserem Geist verantwortlich machen – sollten wir uns sofort die Fehler der Wut ins Gedächtnis rufen. Indem wir uns erinnern, dass wütend zu werden nichts lösen wird, sondern nur zu mehr Leiden für uns und andere führt, sollten wir uns bemühen, unseren Geist in eine konstruktivere Richtung zu lenken.

Gelingt es uns, einen negativen Gedankengang zu erkennen, bevor er in voller Wut entbrennt, ist es nicht allzu schwer, ihn zu bändigen. Wenn wir das können, besteht keine Gefahr, dass die Wut «hinuntergeschluckt» wird und sich in Groll verwandelt. Wut zu beherrschen und Wut zu unterdrücken sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Unterdrücken bedeutet, dass sich die Wut in unserem Geist voll entwickelt hat, wir uns aber ihre Gegenwart nicht eingestehen wollen. Wir tun vor uns selbst und anderen so, als seien wir nicht wütend – wir kontrollieren den äußerlichen Ausdruck der Wut, aber nicht die Wut selbst. Das ist sehr gefährlich, da die Wut unter der Oberfläche unseres Geistes weiter brodelt und immer stärker wird, bis sie eines Tages unweigerlich explodiert.

Wenn wir andererseits unsere Wut beherrschen, sehen wir genau, was in unserem Geist abläuft. Wir gestehen uns die Ansätze von Wut in unserem Geist ehrlich als das ein, was sie sind, verstehen, dass sie nur Leiden zur Folge haben, wenn wir ihnen freien Lauf lassen, und entscheiden uns dann ganz bewusst und frei dazu, in einer konstruktiveren Weise zu reagieren. Machen wir das geschickt, dann bekommt die Wut erst gar keine Chance sich richtig zu entwickeln und deshalb muss auch nichts unterdrückt werden. Haben wir einmal gelernt unsere Wut in dieser Weise zu beherrschen und zu überwinden, werden wir immer glücklich sein, sowohl in diesem als auch in unseren zukünftigen Leben. Diejenigen, die wirklich glücklich sein möchten, sollten sich deshalb bemühen, ihren Geist vom Gift der Wut zu befreien.

Kurz gesagt werden wir, solange unser Geist voller Wut ist, weder in diesem Leben noch in zukünftigen Leben glücklich sein. Wut ist unser wirklicher Feind und solange wir sie nicht aus unserem Geist getilgt haben, wird sie uns weiterhin unvorstellbares Leiden zufügen. Deshalb sollten wir erkennen, dass die Wut in unserem Geist die wirkliche Quelle unseres Leidens ist, anstatt andere Menschen oder die Umstände zu beschuldigen und sie als unsere Feinde anzusehen. Dann sollten wir jede Gelegenheit nutzen und unseren Geist mit beständiger Achtsamkeit und Wachsamkeit beschützen, um ihn von ihrem zerstörerischen Einfluss zu befreien.

Wie wir unsere menschlichen Probleme lösen

Подняться наверх