Читать книгу Der Prinz aus Ayn - Gianna Fröhlich - Страница 6
Prolog
ОглавлениеDie Nacht war sternenklar, keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Der Wind pfiff um die Zelte des Ayn-Clans und blies den Sand um die Oase in die Luft. Leise raschelte es in einem Zelt, es blökte eines der Kamele, bevor die Oase wieder friedlich da lag.
Zu dritt saßen die Nachtwachen um das Feuer herum, immer wachsam. Zwei Männer, eine Frau. Eine Nacht wie die letzten. Kalt, windig und ruhig. Das Feuer prasselte leise vor sich hin und spendete Wärme. Der Mond hoch über ihnen war neben dem Feuer die einzige Lichtquelle, wären da nicht ein paar Öllampen gewesen, die vor einigen Zelteingängen standen.
Einer der Männer, die um das Feuer saßen, horchte auf. Sein Blick galt dem Zelt der Mystikerin. Er war sich nicht sicher: Hatte er gerade einen Schatten gesehen?
Die anderen folgten seinem Blick hinüber zu dem Zelt, das im Schatten der Palme lag.
„Hast du etwas gesehen?“, fragte der andere Mann leise, seine Hand umschloss bereits seinen Säbelgriff.
Die Nachtwachen erhoben sich, langsam schritten sie auf das Zelt zu, beobachteten es ganz genau, als ein markerschütternder Schrei die nächtliche Stille durchbrach.
Die Mystikerin! Unverkennbar!
Die Wachposten zogen ihre Waffen und rannten auf das Zelt zu. „Alarm!“, schrien sie dabei laut, um den restlichen Clan zu wecken.
Kaum war die erste Nachtwache am Zelt angekommen, riss sie den Teppich auf, der den Eingang verdeckte. Prüfende Blicke huschten hin und her. Die Teppiche am Boden waren blutverschmiert, der Zauberer lag in der Mitte des Zeltes: die Augen starr zur Decke gerichtet, sein Torso war so weit geöffnet, dass das Blut nur noch aus ihm heraussickerte.
Wieder ein verzweifelter Schrei.
Die Nachtwachen rannten durch das Zelt hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus, um sich erneut in einer Umgebung des Grauens wiederzufinden. Neun Gnolle lagen leblos im Sand verteilt, in deren Mitte die Mystikerin. Ein kleines dreckiges Gnollmesser steckte in ihrer Brust. Sie versuchte zu atmen, doch die Luft entwich durch die offene Lunge.
„Mystikerin Laila!“, rief einer der Nachtwachen und kniete sich neben sie.
„Farida“, flüsterte die Mystikerin. „Gnolle …“, röchelte sie. Blut rann aus ihrem Mund an ihrem Kinn hinunter und tropfte auf ihre Brust.
Die einzige weibliche Nachtwache rannte augenblicklich los. Sie war wie alle anderen in der Wüste aufgewachsen, jedoch hatte sie ein besonderes Talent für das Fährtenlesen und die Spurenverfolgung. Sie trug ihre Haare kurz, war mit einem Lederwams bekleidet und mit einem Säbel bewaffnet. Sollte sie auch nur einen der Gnolle erwischen, würde er mit Sicherheit nicht lange leben.
Sie sprintete den Hügel empor und konnte sie sehen: Die kleine Gnollgruppe, versammelt um einen hölzernen Käfig, in dem ein Sack lag.
Dort musste sie sein. Die Tochter der Mystikerin.
Die Nachtwache hastete mit lautem Geschrei die Düne nach unten, gefolgt von mehreren Kriegern, die inzwischen aufgestanden waren, um den Clan zu beschützen.
Mit einigen gezielten Hieben tötete die Wache drei Gnolle, bevor sie ihren Säbel in dem Schädel eines weiteren versenkte. Aus Angst jaulten die Gnolle auf und flohen eiligst, noch ehe die Nachtwache den Käfig erreichen konnte. Sie warf ihren Säbel, um das Kamel zu töten, das den Käfig zog, bevor sie sich an zwei weiteren Gnollen vorbei prügelte, um endlich den Käfig zu erreichen.
Mit einem Fausthieb öffnete sie den Holzkäfig und zog den Sack heraus. Ihr war es gleich, was um sie herum passierte oder wer zu Boden ging. Sie ignorierte die Schreie, das Gemetzel, die anderen Krieger, die ihr gefolgt waren.
Sie nahm den Leinensack, fühlte den warmen Körper, der darin eingeschlossen war, und beeilte sich, den Sack samt Inhalt in Sicherheit zu bringen, während die anderen Krieger des Clans die restlichen Gnolle abschlachteten.
In sicherer Entfernung blieb sie stehen und öffnete das Bündel.
Farida kam zum Vorschein. Ihre Haare standen wie immer in Flammen, ihr kleiner hagerer Körper wirkte zerbrechlich. Angsterfüllt starrte sie ihre Retterin an. In ihren himmelblauen Augen standen die Tränen, doch Farida war unversehrt.
„Farida“, flüsterte die Nachtwache und drückte das Mädchen fest an sich, bevor sie sie wieder ansah.
Wo ist meine Mutter?, fragte Farida mit ihren Händen.
Die Nachtwache wollte etwas sagen, aber sie konnte es nicht. Sie konnte diesem kleinen Mädchen nicht sagen, was geschehen war.
Stattdessen nahm sie sie erneut in ihre starken Arme und spürte, wie das zarte Kind in Tränen ausbrach.
Die Nachtwache, die Farida gerettet hatte, betrat das größte Zelt des Clans. Das Zelt des Khans. Khan Majid war ein beeindruckender Mann. Er hatte eine kräftige Statur, trug stets eine weit geschnittene Hose und ein ebenso weit geschnittenes Hemd. Er benötigte keine Krone oder Vergleichbares, allein seine Ausstrahlung ließ darauf schließen, dass er ein ehrwürdiges Mitglied des Stammes war. Sein Vollbart und seine struppigen langen Haare ließen ihn wild und unbarmherzig wirken, wäre da nicht die Wärme in seinen Augen. Nun jedoch zeichneten Trauer und Verbitterung sein Gesicht.
Clanführer Majid seufzte tief. Die Mystikerin war tot. Sie hatten sie nicht retten können, genauso wenig wie ihren Gemahl Latif.
„Unsere Mystikerin und ihr Zauberer …“, sprach er langsam und sah seiner Schwester Tahira dabei tief in die Augen. „Wie konnten sie so weit kommen, ohne dass ihr sie gehört habt?“
„Wir vermuten Magie“, antwortete Tahira. „Meine Männer und ich waren wachsam, wir hätten sie hören müssen.“
Majid nickte langsam. „Das hättet ihr sicherlich.“ Er seufzte erneut. „Was wird jetzt aus Farida?“
„Ich werde sie zu mir nehmen“, erklärte Tahira mit fester Stimme. „Es ist meine Schuld, dass wir die Gnolle nicht früh genug bemerkt haben, lass mich Abbitte bei ihr leisten.“
Majid überlegte kurz, bevor er nickte. „Aber denk daran, welch großes Geschenk dieses Mädchen ist. Wir können so einen Rückschlag nicht noch einmal zulassen. Wenn sie stirbt, dann gibt es keine Mystikerin mehr und Ayn wird sterben. Und mit ihm alle anderen.“
„Ich werde sie mit meinem Leben beschützen, solange sie dies wünscht.“
Aziz, der erstgeborene Sohn des Clanführers, ließ langsam das Fell fallen, durch das er die Unterhaltung im Zelt belauscht hatte. Also stimmte es: Faridas Eltern waren tot, gefallen im Kampf für ihre Tochter.
Langsam schritt Aziz zu dem Mädchen hinüber, das traurig auf einem der Teppiche saß und den Boden anstarrte. Bisher hatte er kaum etwas mit ihr zu tun gehabt: Die Tochter der Mystikerin, taub und eigentlich sprach sie auch nicht. Vier Jahre war sie alt und stets hatte sie sich hinter ihrer Mutter versteckt, hatte nicht mit anderen Kindern gespielt und oft mit ihrer Mutter meditiert. Sie sah so hilflos aus. Ob sie sich bei seiner Tante wohlfühlen würde? Immerhin war diese die Schwester des Clanführers und nach ihm die beste Kämpferin des Clans. Das hagere kleine Mädchen mit den brennenden Haaren passte irgendwie nicht zu seiner Tante.
Als Aziz sich neben Farida setzte, sah diese auf. Er war drei Jahre älter als sie. Ihre blauen Augen waren nichts Besonderes unter den Mystikerinnen, genauso wenig wie ihre helle Haut. Sie war recht dünn und schien irgendwie zerbrechlich. Ihr offenes Haar bedeckte ihre Schultern und brannte dabei lichterloh, sodass sie ihre Umgebung damit erhellte.
„Wie geht es dir?“, fragte Aziz freundlich. Ob sie ihn überhaupt verstand? Immerhin war sie taub. Doch Farida beherrschte das Lippenlesen. Sie verstand jedes seiner Worte.
„Es geht so.“ Es war das erste Mal, dass Aziz sie reden hörte. Ihre Stimme war noch ungewöhnlicher als ihre Haare. Es hörte sich an, als würde ein Glockenspiel erklingen, eine Harfe spielen oder gar der Wind singen. Ihre Stimme war so melodisch wie Engelsgesang. Es war schon merkwürdig: Obwohl sie taub war, sprach sie so normal wie jeder andere – abgesehen von ihrer beinah himmlischen Stimme.
Farida blickte zu Boden und umklammerte ihre Knie, die sie eng an den Körper heranzog. Sie konnte es nicht fassen, dass ihre Eltern tot waren. Warum hatten die Gnolle sie angegriffen und sie entführt? Was hatten sie mit ihr vorgehabt?
Aziz trat an sie heran, sodass sie wieder aufsah.
„Dir wird nichts geschehen“, stellte er klar. „Wir passen auf dich auf.“
Farida lächelte dankbar. „Meine Mutter hat das auch gesagt. Sie hat gesagt, wenn sie irgendwann nicht mehr da wäre, dann hätte ich einen anderen Beschützer.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Aber sie und Papa sind … und niemand …“ Sie schluchzte auf.
Aziz legte seine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen. Verzweifelt sah Farida auf.
„Ich bin ab jetzt dein Beschützer“, versicherte er ihr. „Irgendwer muss es ja sein.“ Er nickte mutig. „Bei mir bist du sicher.“
Farida strahlte ihn an. „Danke.“
Aziz nickte und lächelte ebenfalls, ehe er seine Hand wieder sinken ließ. Farida sah erneut zu Boden, in Trauer versunken.
„Farida“, sprach Tahira laut, die soeben das Zelt betreten hatte.
Farida zeigte keine Reaktion. Zu sehr hing sie ihren Gedanken nach. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Tahira den Raum betreten und zu ihr gesprochen hatte.
Tahira trat an das Mädchen heran und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Die Kleine erschrak und sah zu Tahira auf.
„Du wirst ab jetzt bei mir wohnen“, erklärte Tahira sanft und lächelte Farida an. „Geh doch schon mal in mein Zelt, ich komme gleich nach.“
Farida verließ das Zelt langsamen Schrittes. Hinter ihr fiel der Stoff zu, sodass Aziz sie nicht mehr sehen konnte.
„Aziz“, sprach Tahira und betrachtete ihren Neffen freundlich. „Was machst du für ein Gesicht?“
„Sie ist ein Geschenk“, wiederholte Aziz die Worte der Erwachsenen und sah seine Tante an. „Das sagt ihr doch immer.“
„Ja. Das ist sie“, seufzte Tahira. „Sie ist ein Aasimar. Sie hat etwas Himmlisches an sich.“
„Aber sie ist das Kind zweier Menschen“, widersprach Aziz. „Das kann doch nicht sein.“
„Deshalb ist sie ein Geschenk“, erklärte seine Tante geduldig. „Ein Geschenk der Götter an unseren Clan. Und auf ein solches Geschenk muss man gut achtgeben, damit es nie verloren geht.“ Aziz runzelte die Stirn. „Wenn die Götter sie gesegnet haben, warum ist sie dann so klein und mickrig? Warum ist sie nicht groß und stark und kann auf sich selbst aufpassen?“
Tahira lächelte genügsam. „Aziz, mein Prinz, Farida wird eines Tages die Mystikerin unseres Stammes sein. Du magst es vielleicht noch nicht sehen, aber sie steckt voller Magie. Sie besitzt bereits jetzt Kräfte, die du und ich niemals erlernen könnten. Dafür wird sie niemals deine Kampfesstärke erreichen. Ayn ist nur so stark, weil wir alle beisammenstehen und uns gegenseitig schützen. Du schützt uns mit deiner Weisheit und deiner Kraft, sie hilft uns mit ihrer Magie. Achte gut auf sie, sie braucht deinen Schutz und du wirst eines Tages ihren brauchen. Und dann wirst du irgendwann verstehen, weshalb die Götter unserem Clan ein solches Geschenk unterbreitet haben.“
Aziz nickte stumm und wandte sich zum Ausgang.
„Aziz!“, es war erneut seine Tante und daher drehte er sich noch einmal um. „Ein Geschenk der Götter darf nicht leichtfertig hingenommen werden. Es muss geschützt und mit dem nötigen Respekt behandelt werden. Farida ist für uns weitaus wichtiger, als du vielleicht im Moment denkst. Was auch immer du tust, pass gut auf sie auf.“