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Hunger war Teil meines Lebens

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In meiner Prioritätenliste zum Überleben standen die technischen Herausforderungen nur an zweiter Stelle. Das Wichtigste war die Nahrungssuche. Sie stand an oberster Stelle. In den letzten Jahren hatte ich nur ganz selten meine Harpune zum sogenannten Speerfischen ausprobiert.

Eigentlich war ich immer gegen die Verwendung von Harpunen, weil sie mich viel zu sehr an ein Gewehr erinnern. Als vehementer Waffengegner leistete ich aus Überzeugung meinen Wehrdienst als Zivildiener im Asylbereich statt beim Militär ab. Es war für mich undenkbar, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen und eine Schusswaffe abzufeuern. Allerdings hatte ich bei einem Besuch meiner Kinder in Belize eine Harpune gekauft, da mein jüngerer Sohn Kimi ganz wild darauf war, in echtem Inselstil durch Speerfischen sein Essen zu fangen.

Da im Frühsommer 2020 ein Besuch meiner Söhne angestanden wäre, der von der Pandemie verhindert wurde, hatte ich bereits zwei weitere Harpunen besorgt. Das Prinzip einer Harpune ist relativ einfach und gleicht dem einer Steinschleuder. Auf einem Aluminiumrohr oder aus Holz gefertigtem Schaft befindet sich eine Art Führung für einen Metallspeer. Der Speer ist an der Spitze mit einem ausklappbaren Metallstück ausgestattet. Trifft man einen Fisch, bleibt der Speer durch diesen Widerhaken im Fisch stecken. Und damit man den Fisch samt wertvollem Speer nicht verliert, ist am Ende des Speers eine ungefähr zwei Meter lange Leine befestigt. Dies ist somit auch die maximale Schussdistanz, in der sich ein Fisch befinden darf, um ihn zu erreichen. Die Schussenergie kommt von speziellen Gummiseilen. Es benötigt viel Kraft, um sie zu spannen. Das Wissen um den Gebrauch einer Harpune machte sich später bezahlt, als ich mich gegen gnadenlose Mordgesellen verteidigen musste.

In meinen ersten Wochen auf der Insel war ich hoch motiviert, sämtlichen Proteinbedarf ausschließlich durch Speerfischen zu decken. Der Fisch war im Gegensatz zu anderen Nahrungsmitteln, die trotz Kühl- und Gefrierschrank nicht ewig haltbar waren, frisch und zu jeder Zeit verfügbar. Brot lernte ich selbst zu backen. Hatte ich mich die drei Jahre zuvor über das Fehlen von jeglichen Brotsorten – abgesehen von Toastbrot – in Belize beklagt, backte ich mir nun mein eigenes Ciabatta, eine herrliche Beilage zum frischen Fisch. Für meinen Hund war das intensive tägliche Speerfischen etwas Neues, denn Mali war es vom Festland nicht gewöhnt, dass ich für mehrere Stunden im Wasser war. Schnell entwickelte sich jedoch eine Routine, und Mali folgte mir stets parallel zur Küste in einem Bereich, in dem sie im Meer gerade noch Grund fand. Sie mutierte sozusagen zum Seehund. Nach erfolgreicher Jagd bekam sie immer leckeres frisches Sushi aus dem Meer. Mein Hundemädchen konnte ihren Hüte-Instinkt in gewisser Weise ausleben, da sie immer wieder Fische, gefleckte Adlerrochen oder andere größere Fische im Wasser sehen und vor sich hertreiben konnte.

Bereits nach wenigen Tagen dieser neuen Routine begann Mali ganz aufgeregt zu springen und mit dem Schwanz zu wedeln, wenn sie das Geklapper der Metallteile meiner Harpune im Badezimmer hörte und ich mich für das Speerfischen fertigmachte. Es war schön zu sehen, dass diese Notwendigkeit gleichzeitig eine Beschäftigung war, die meinem Hund die Neurotransmitter-Spiegel zurechtbog.

Nun war ich jedoch nicht als Speerfischer geboren und hatte meine Anfangsschwierigkeiten. Nicht zu jedem Gezeitenstand und jeder Witterung war die Jagd erfolgreich. Es dauerte einige Wochen, bis ich verstand, wann die beste Zeit zum Schnorcheln und zum Speerfischen war. Ebenso lernte ich mein Korallenriff von einer völlig neuen Seite kennen. Bisher hatte ich eine ungefähre Ahnung, wo sich einige der größeren Korallenfelsformationen befanden. Aber grundsätzlich sah für mich alles gleich aus, da der gesamte Meeresgrund vor meinen beiden Häusern mit allen nur erdenklichen karibischen Korallenarten überzogen war. Ein atemberaubender Anblick.

Nach und nach entstand in meinem Gehirn jedoch eine Unterwasserlandkarte von über einem Quadratkilometer Meeresgrund. Nicht nur, dass ich die unterschiedlichen Korallenformationen, Höhlen und Canyons blind finden konnte, ich wusste nun auch, wo sich welche Fischarten befanden. Nach einiger Zeit war es gar nicht mehr notwendig, mich über Wasser zu orientieren. Anhand des Untergrundes wusste ich immer ganz genau, wo ich war. Und erst da begann ich zu verstehen, wie unglaublich sensibel und faszinierend ausgeklügelt dieses Ökosystem ist.

Unter den Mangrovenwurzeln an der Landgrenze befanden sich die kleinen Fische und viele Schulen junger Fische. Im Schutz des Blätterdaches und der engmaschigen Wurzeln konnten die Jungtiere behütet aufwachsen. Die vielen Pelikane und auch Fischadler hatten keine Chance, die kleinen Fische zu erbeuten, und auch die Barrakudas, Tarpons und Permits wagten sich nicht in dieses dichte Unterwassergeäst vor.

Erst wenn die kleinen Fische größer wurden, kamen sie vorsichtig aus dem Schutz der Mangrovenwurzeln heraus. Während meines Jahres auf der Insel konnte ich so zwei Exemplare von Barrakudas, die sich als kleine Jungtiere immer an den gleichen Stellen aufhielten, zu stattlichen Jugendlichen heranwachsen sehen. Sie waren nach der gleichen Beute aus wie ich. Und wenn man seine „Nachbarn“ so aufwachsen sieht, stehen sie für einen lebenslang unter Schutz, und man würde nie auf die Idee kommen, sie zu verzehren.

Sobald eines der vielen Fischerboote näherkam und die aus mehreren Männern bestehenden Speerfischer-Truppen ebenfalls in meinem Vorhof jagten, ging ich nicht nur einmal danach ins Wasser, um nachzusehen, ob meine schwimmenden Freunde noch da waren. Ich weiß noch genau, als sie Jack erlegten. Jack war ein von mir verschonter Lobster, der nur noch eine Antenne hatte. Es war ein großes Exemplar und tat mir aufgrund seiner Verstümmelung leid. Obwohl er eine leichtere Beute als andere seiner Artgenossen gewesen wäre, ließ ich ihn in Ruhe und sah regelmäßig nach, ob er noch da war. Eines Tages hatte ich beim Vorbeischwimmen der lokalen Speerfischer bereits ein schlechtes Bauchgefühl. Ich konnte sehen, dass sie sich genau bei jener großen Korallenformation aufhielten, wo auch Jack sein Versteck hatte. Als die Speerfischer abzogen, sprang ich sofort ins Wasser und schwamm zu Jacks Höhle. Zuerst hoffte ich noch, dass er sich einfach nur versteckt hatte, aber auch in den folgenden Wochen konnte ich ihn nicht mehr finden. Er fand sein Ende wohl auf einer belizianischen Herdplatte.

Das Zusammenleben mit den Meeresbewohnern und das Erkennen, um welch intelligente und fühlende Tiere es sich handelte, machte es mir zunehmend schwerer, meinen Hunger durch Töten dieser magischen Lebewesen zu stillen. Nach einiger Zeit konnte ich nicht einmal mehr einen Fisch erlegen, der ganz offensichtlich mit seinem Freund oder seinem Partner herumschwamm. Was völlig unglaubwürdig klingt, war für mich aber ganz offensichtlich: Fische haben wirklich Freunde, mit denen sie immer zusammenbleiben. Am ehesten konnte ich das bei den sogenannten Grunts, zu Deutsch Grunzer, beobachten. Was mir zunächst noch wie Zufall erschien, war für mich nach mehreren Wochen Gewissheit.

Auch wenn Fische einer Spezies auf den ersten Blick identisch aussehen, kann man oft ein besonderes Merkmal entdecken. Zum Beispiel eine verletzte Schwanzflosse oder andere Kampfspuren. Und dies war nicht nur im offenen Ozean der Fall, sondern auch in der ruhigen Lagune neben meinem Bootsdock. Dort gab es ein mittelgroßes Exemplar eines blaugestreiften Grunzers, der stets mit einem deutlich kleineren französischen Grunzer umherschwamm. Über die Monate wuchsen beide zu beachtlicher Größe heran, und es wurde fast zur Routine, jedem meiner wenigen Besucher zu verbieten, diese beiden Fische herauszuangeln. Sie fühlten sich neben dem Dock im Schatten meines großen Bootes offensichtlich sehr wohl und hatten ein behütetes Aufwachsen. Zum Unterschied des Fischens mit einem Köder weiß man beim Speerfischen mit der Harpune immer, auf wen man es abzielt. Dazu kam, dass ich mit der klassischen Fischfangart des Angelns mit Haken und Köder stets erbärmlich erfolglos war.

In Bezug auf meine Emotionalität mit den Fischen gab es zum Glück auch ausreichend andere Spezies, die weniger an mein Mitleid appellierten und den Jäger in mir zum Leben erweckten. Einen Barrakuda zu finden, es zu schaffen, dass er nicht davonschwimmt und diesen blitzschnellen Räuber dann auch noch zu treffen, war so ziemlich die Königsklasse des Speerfischens. Mit der Zeit verfeinerte ich meine Technik. Während ich mich zu Beginn meines Insellebens noch regelmäßig ärgerte, wieso ich nicht nahe genug an die Barrakudas herankomme, entwickelte ich nach und nach Tricks. Leicht platschende Geräusche an der Wasseroberfläche oder sogar ein starkes Durchsprudeln mit der Hand, um möglichst viele Luftblasen zu erzeugen, schien manche Barrakudas magisch anzuziehen. Nicht die ganz großen ausgefuchsten Exemplare, aber mittelgroße von etwa siebzig Zentimeter Länge.

Um diese Exemplare zu schießen, musste ich es schaffen, mich von hinten schnorchelnd anzupirschen. Was nur gelang, wenn so ein großer Räuber hoch konzentriert vor einer größeren Korallenformation auf eine von ihm auserkorene Mahlzeit in einer Höhle ausharrte. Während der Barrakuda darauf wartete, blitzschnell zuzuschlagen und mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen seine Beute mit einem Biss ins Jenseits zu befördern, hatte ich just in diesen Momenten die Chance, auf zwei Meter an ihn heranzukommen. Wie beschrieben benötigte ich diese Distanz, um meine Beute mit dem Speer zu erreichen.

Natürlich versuchte ich, Fische stets so zu treffen, dass sie der Pfeil auf der Stelle tötete, was bei einem Barrakuda nicht nur mit Nächstenliebe, sondern mit Selbstschutz zu tun hatte. Die Zähne eines Barrakudas können komplette Muskelstränge aus den Gliedmaßen reißen oder schneller, als man reagieren kann, eine Hauptschlagader zerfetzen. Auch wenn es dementsprechende Gerüchte und Erzählungen gab, ich hatte kein einziges Mal erlebt, dass ein Barrakuda mich angegriffen hat. Am gefährlichsten war der Weg mit einem geschossenen, aber noch nicht toten Barrakuda zurück an mein Deck auf der Insel zu kommen. Der Raubfisch am Speer kämpft um sein Leben und zerfleischt alles, was in die Nähe seines Gebisses kommt. Die Kraft so eines Raubfisches lässt sich nur schwer beschreiben. Mit meinen 100 Kilogramm an Körpergewicht und 183 Zentimeter Körperlänge sollte man meinen, einem maximal zehn Kilogramm schweren Fisch mit einem halben Meter Länge weit überlegen zu sein. Aber ich war nun eben kein Fisch und er in seinem Element.

Meine anderen bevorzugten Fische waren ebenfalls Einzelgänger. Zum Beispiel die großen Amber Jacks oder manchmal auch die Bar Jacks. Üblicherweise standen jedoch Snapper auf der Insel-Speisekarte, kleine Raubfische, die nur etwa fünfzehn Zentimeter lang und völlig ungefährlich waren. Je nach Jahreszeit schoss ich auch sogenannte Schafsköpfe, die aufgrund ihrer schafsähnlichen Zähne so benannt sind. Diese runderen Fische besitzen viel Fleisch und sind eine Delikatesse. Ganz selten hatte ich die Chance, einen Hogfish zu schießen, welcher so ziemlich das bestschmeckende Fleisch des Ozeans zu bieten hat.

Was sich nach einem freien Buffet je nach Belieben anhörte, war in Realität harte Arbeit. Hunger war Teil meines Lebens. Und den hatte ich besonders in den ersten Wochen mehr, als mir lieb war. Ich ging zur falschen Zeit schnorcheln, traf nicht, mir rissen die Seile der Harpune und nach und nach auch die gespannten Gummis. Ebenso machte mir das Wetter immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Besonders die starken Aprilstürme mit ihren hohen Wellen machten das Speerfischen nahezu unmöglich. Man konnte sich an den scharfkantigen Korallenformationen schwer verletzen. Außerdem war die Sicht bei hohem Wellengang nahezu null, und ich sah einen Fisch erst, wenn er schon wieder auf der Flucht vor mir war.

Es gab auch einen Riff-Hai. Um welche Art es sich genau handelte, habe ich nie herausgefunden. Von anderen Fischern wurde er einfach als Riff-Hai bezeichnet. Dieser Geselle hatte selbstverständlich mehr Berechtigung, nach Fischen zu jagen, als ich. Und er war besonders zu Beginn furchteinflößend. Als dann Irvin, einer meiner Bekannten, von ihm angegriffen wurde, hatte ich wohl für mehrere Tage plötzlich keinen Hunger mehr.

Irvin lebte in Placencia und kam regelmäßig in die Nähe meines Platzes auf der Insel. Wie für die lokalen Speerfischer üblich, ging er nach dem Schießen eines Fisches nicht sofort aus dem Wasser, sondern fädelte diese auf einer Angelschnur, die am Körper befestigt war, auf. Dass ein Hai diese blutenden Fische als frei verfügbares Sushi-Buffet erster Klasse ansieht, versteht sich von selbst. Irvin wurde daher zur Zielscheibe des Hais und angegriffen. Zum Glück wurde er nicht verletzt und verjagte den Hai mit einem beherzten Schuss aus seiner Harpune. Der Speer einer Harpune dringt dabei nicht durch die dicke Haut des Hais, verschreckt den übermächtigen Gegner jedoch für eine Weile. Wobei der Angriff sogar den abgebrühten Irvin etwas aus der Ruhe brachte. Ich habe ihn danach für viele Wochen nicht mehr gesehen.

Aus diesem Grund war meine Methode des Speerfischens von Beginn an mit möglichst wenig Risiko verbunden. Ich brachte entweder jeden erlegten Fisch umgehend aus dem Wasser – was mit einigem Schwimmaufwand verbunden war – oder zog hinter mir eine schwimmende Kühlbox her. Die meiste Zeit reichte aber die „Schieße einen Fisch und komme wieder heraus“-Methode, denn es war ja nur der Hunger von Mali und mir zu stillen. Dazu reichte ein Fisch meist aus. Dies hielt mich fit und ließ mich bereits nach wenigen Wochen wie einen echten Inselbewohner aussehen. Meine von der tropischen Sonne geröstete Haut wurde zunehmend „karibisch“ gefärbt und meine braunen Haare erblondeten.

Auch wenn ich stets Geldsorgen im Kopf und öfter, als mir lieb war, Hunger hatte, kam mein Leben den ursprünglichen romantischen Vorstellungen vom Inselleben sehr nahe. Dem Paradies auf Erden konnte ich in Belize nie wieder so nahekommen wie in den unzähligen Stunden des Speerfischens. Die Lichtreflexionen unter Wasser waren je nach Sonnenstand pure Magie. Die Fächerkorallen in ihren Rot-, Blau- und Violett-Tönen strahlten und funkelten, wie es die beste Lichtshow nicht erreichen kann. Kombiniert mit der Ruhe unter Wasser stellte sich bei mir stets ein tranceartiger Zustand ein, und das meist ruhige und badewannenwarme Meer ließ mich im wahrsten Sinne des Wortes schweben.

In dieser Unterwasserwelt verschwanden stets der Hunger und ebenso die Sorgen, wie es weitergehen wird. In jeder Körperfaser war nichts anderes als Frieden und Ruhe zu spüren. Und ganz ehrlich gesagt, auch eine gewisse Portion Stolz. Ohne den Verbrauch von fossilen Brennstoffen für ein Boot, ohne Schießpulver, ohne jegliche Technik waren da nur mein Speer und ich. Keine langen Fischereiseile mit tausenden von Haken, die den Ozean leer fischten, keine Fallen, keine Käfige. Meine maritime „Steinschleuder“ allein war in der Lage, meinem Hund und mir den Bauch zu füllen. Und das Leben auf der Insel konnte dank dem ausschließlichen Gebrauch von Solarenergie und der Regenwasseraufbereitung nicht nachhaltiger sein.

Es ist wohl jener Lebensstil, der der Erde am wenigsten schadet und der nur ganz wenigen Menschen aufgrund der vielen Hürden vorbehalten ist. Und dieses Leben durfte ich genießen, während den Menschen die pandemiebedingte Decke auf den Kopf fiel.

Isoliert betrachtet war ich im Paradies. Ohne Zweifel. Wären da nicht noch böse Überraschungen gekommen.


Mein erster Barrakuda

21 KUGELN IM PARADIES

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