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[26]2 Was gelangt in unser Bewusstsein? Sinnliche Wahrnehmung
ОглавлениеBetrachten Sie Abb. 3. Dieses Bild eines Necker’schen Würfels besteht ausschließlich aus schwarzen Linien auf dem zweidimensionalen Raum des Papiers, doch was Sie wahrnehmen, ist ein dreidimensionaler Würfel. Wenn man diesen Würfel längere Zeit anschaut, scheint der Würfel zu kippen, so dass die vordere Fläche zur Rückseite eines Würfels wird, der in die entgegengesetzte Richtung zeigt. Dieser Wechsel findet auch gegen unseren Willen statt. Was Sie hier sehen, ist das Gehirn bei der Arbeit, wenn es versucht, sich die uneindeutige Zeichnung zusammenzureimen, jedoch nicht fähig ist, sich für eine der beiden Interpretationen zu entscheiden. Bei der Wahrnehmung geht es also anscheinend nicht nur darum, passiv mit Hilfe der Sinne Informationen aufzunehmen. Es handelt sich bei ihr vielmehr um einen aktiven Konstruktionsprozess, in dem eingehende sensorische Signale mit zusätzlicher Information kombiniert werden.
Abb. 3: Necker’scher Würfel
[27]Noch verwirrender ist die Zeichnung der teuflischen Stimmgabel (Abb. 4), die uns durch bestimmte Standardelemente der Wahrnehmung von räumlicher Tiefe in die Irre führt. Abwechselnd sehen wir die dreidimensionale Darstellung einer dreizinkigen Gabel – oder wir sehen sie nicht. Ähnliche Täuschungen lassen sich auch bei den anderen Sinnen provozieren. Wenn Sie etwa das Wort »Lehm« schnell genug vor sich hin sagen, werden Sie abwechselnd »Lehm Lehm Lehm« oder »Mehl Mehl Mehl« hören. Auch hier verarbeitet das Gehirn die erhaltene Information und stellt ohne unser bewusstes Zutun Hypothesen über die Realität auf; was uns letztlich bewusst wird, ist also ein Produkt von Sinnesreizen und Hirnaktivität, die zu einer Interpretation dieser Sinnesreizung führt. Wenn wir durch dichten Nebel fahren oder im Dunkeln zu lesen versuchen, dann wird das Raten offensichtlich: »Ist das unsere Abzweigung oder eine Auffahrt?«; »Steht dort ›mein‹ oder ›nein‹«? Wahrnehmungsprozesse spielen zwar eine große Rolle bei dem, was in unser Bewusstsein gelangt, doch wir erkennen bereits jetzt, dass im Verborgenen andere, komplexe Prozesse zu dem beitragen, was wir dann tatsächlich wahrnehmen.
Abb. 4: Die Stimmgabel des Teufels
Wir nehmen gemeinhin an, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen, und dass andere sie genauso sehen – kurz: dass unsere Sinne eine objektive und allen gemeinsame Realität widerspiegeln. Wir gehen davon aus, dass unsere Sinne die [28]Welt, in der wir leben, so präzise wiedergeben wie ein Spiegel, der das Gesicht widerspiegelt, das in ihn hineinschaut, oder wie ein Fotoapparat, der eine Momentaufnahme bis in alle Ewigkeit festhält. Natürlich könnten wir uns, wenn unsere Sinne uns nicht mit einigermaßen genauen Informationen versorgten, nicht in der Weise auf sie verlassen, wie wir es tun. Trotz allem haben Psychologen herausgefunden, dass diese Annahmen zur Wahrnehmung irreführend sind. Die Aufnahme von Informationen über unsere Welt ist kein passiver, nur wiedergebender Vorgang, sondern ein komplexer, aktiver Prozess, bei dem Sinne und Gehirn zusammenarbeiten und uns helfen, eine bestimmte Wahrnehmung (oder Illusion) der Realität zu konstruieren. Wir sehen nicht nur Muster von Licht, Dunkelheit und Farbe – wir arrangieren diese Muster zu Objekten, die eine bestimmte Bedeutung für uns haben. Wir können sie erkennen oder benennen, sie als etwas völlig Neues identifizieren oder Ähnlichkeiten mit anderen Objekten entdecken. Wir werden im weiteren Verlauf sehen, dass die psychologische Forschung einige faszinierende – und überraschende – Dinge entdeckt hat, die in unserem Bewusstsein vorgehen, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Die Untersuchung dieser versteckten Prozesse ist durch die Entwicklungen in der Kognitionswissenschaft zu einer interdisziplinären Angelegenheit geworden. Vor allem in den computergestützten Neurowissenschaften hilft die Analyse der Funktionsweisen des Gehirns hinsichtlich der informationsverarbeitenden Eigenschaften der Strukturen, die das Nervensystem bilden, dabei, Aufschluss über unsere Wahrnehmungsmechanismen zu geben und das enorme Spektrum an Information zu verstehen, das auf unsere Sinne einwirkt.
[29]Der Schwerpunkt der Forschung im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung liegt auf der visuellen Wahrnehmung, denn das Sehen ist unser am höchsten entwickelter Sinn: Ungefähr die Hälfte des Kortex (der Hirnrinde) hat mit dem Sehen zu tun. Außerdem lassen sich visuelle Beispiele gut in einem Buch darstellen, so dass sie in diesem Kapitel den Vorrang erhalten.