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Aus der Beeinträchtigung der Wahrnehmung lernen: der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
ОглавлениеDie Wahrnehmung ist so komplex, dass sie auf vielerlei Art misslingen kann. In Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte beschreibt Oliver Sacks, was geschieht, wenn [43]komplexe, interpretative Wahrnehmungsfähigkeiten ernsthaft beeinträchtigt sind. Sein Patient war ein begabter Musiker, dessen musikalische oder andere geistige Eigenschaften nicht nachgelassen hatten. Er war sich bewusst, dass er Fehler machte, vor allem dann, wenn er versuchte, Menschen zu erkennen. Er merkte jedoch nicht, dass er auch auf anderen Gebieten Fehler machte. Er konnte sich normal unterhalten, aber erkannte seine Studenten nicht mehr und verwechselte unbelebte Gegenstände (wie seinen Schuh) mit belebten (seinem Fuß). Am Ende eines Gesprächs mit Dr. Sacks schaute er sich nach seinem Hut um, griff aber stattdessen nach dem Kopf seiner Frau und versuchte, sich diesen aufzusetzen. Er konnte weder Gefühlsbekundungen deuten noch das Geschlecht von Menschen im Fernsehen erkennen; er konnte Familienmitglieder anhand ihrer Stimme, aber nicht anhand von Fotografien identifizieren. Sacks berichtet, dass er »visuell in einer Welt lebloser Abstraktionen verloren war«. Er sah die Welt wie ein Computer mit Hilfe von Schlüsselmerkmalen und schematischen Beziehungen; als er gebeten wurde, einen Handschuh zu identifizieren, beschrieb er ihn als »eine Art von Behälter« und als »eine durchgehende, in sich gefaltete Oberfläche mit fünf beutelähnlichen Fortsätzen …«. Diese schwere Wahrnehmungsbeeinträchtigung wirkte sich besonders auf seine Fähigkeit aus, visuell zu erkennen: als könne er sehen, ohne das Gesehene zu verstehen oder zu interpretieren. Da ihm der interpretative Aspekt der Wahrnehmung fehlte, geriet er in eine Sackgasse, wenn er sich auf visuelle Information allein verlassen musste. Doch konnte er sein gewohntes Leben weiterführen, indem er etwa vor sich hin summte – also indem er in der auditiven Welt der Musik lebte, in der er [44]besondere Fertigkeiten entwickelt hatte. Obwohl er Hypothesen aufstellen konnte (etwa über den Kopf seiner Frau oder den Handschuh) – wie auch wir es tun, wenn wir den Necker’schen Würfel (Abb. 3) betrachten –, konnte er über diese Dinge kein Urteil fällen. Aus solch einem sorgfältigen Studium der selektiven Beeinträchtigung hochrangiger Wahrnehmungsfunktionen ergeben sich Hinweise, die uns helfen, vieles zu verstehen, wie etwa die Rolle, die diese Funktionen nicht nur bei der Wahrnehmung spielen, sondern auch für unser Leben in der realen Welt, oder welche Funktionen im Gehirn separat kodiert werden und wo die Strukturierung dieser Funktionen lokalisiert ist.
Die Wahrnehmung ist also das Endprodukt komplexer Vorgänge, von denen viele außerhalb des Bewusstseins stattfinden. Psychologen wissen mittlerweile so viel über die Wahrnehmung, dass sie etwa ausreichend genau eine visuelle Umgebung simulieren können, in der angehende Chirurgen »eine virtuelle Realität« dafür benutzen können, komplizierte Operationen zu üben. Virtuelle Realität schafft die Illusion eines dreidimensionalen Raums, so dass es möglich wird, an einem Computer hinter etwas oder durch »feste« Gegenstände hindurchzugreifen. Die Schnelligkeit der Lern- und Anpassungsfähigkeit unserer Wahrnehmungssysteme hat jedoch auch ihre Nachteile. Chirurgen, die für so lange Zeit auf diese Art und Weise gearbeitet haben, dass sich allgemein ihre Interpretation normaler Wahrnehmungssignale für sichere Bewegungen im dreidimensionalen Raum umgestellt hat, sind anschließend im Straßenverkehr besonders unfallgefährdet.
Diese Einführung in den Bereich der Wahrnehmung ist nur ein Beginn, ein erster Versuch, zu verstehen, was ins [45]Bewusstsein gelangt. Dieser Bereich umfasst viele weitere faszinierende Themen, angefangen bei Ideen zur Weiterentwicklung der Wahrnehmung bis hin zu Diskussionen über die Frage, in welchem Ausmaß Wahrnehmungsprozesse automatisch ablaufen oder bewusst kontrolliert werden können. Ziel war es, zu zeigen, dass die Realität, wie wir sie kennen, zum Teil eine individuelle, menschliche Konstruktion ist. Jeder von uns baut daran mit. Psychologen helfen uns, viele der Bedingungen zu verstehen, die bestimmen, wie wir das tun. Nachdem wir uns mit dem befasst haben, was in unser Bewusstsein gelangt, können wir uns nun der Frage zuwenden, wie viel dort verbleibt und zur Grundlage dessen wird, was wir lernen und erinnern.