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ОглавлениеNicht jäh, sondern eher mühsam aus der bodenlosen Tiefe des Unbewußten auftauchend, suchte Edgardo Limentani mit der rechten Hand den Nachttisch zu erreichen. Der kleine Reisewecker, den ihm seine Frau Nives vor drei Jahren in Basel zu seinem zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte, hörte nicht auf, im Dunkeln sein Stakkato zu läuten. Es war, bei aller Gedämpftheit, ein schriller, hartnäckig mahnender Ton, den man zum Schweigen bringen mußte. Limentani zog die rechte Hand zurück, öffnete die Augen und drehte sich auf die Seite, wobei er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den rechten Ellenbogen stützte, während er gleichzeitig die linke Hand ausstreckte; und in dem Augenblick, in dem er mit den Fingerspitzen das feine, schon etwas abgenutzte Wildleder des Weckers berührte und durch einen Druck auf den Knopf das Läutwerk abstellte, las er auf dem Zifferblatt an der Stellung der leuchtenden Zeiger die Stunde ab. Es war vier Uhr: genau die Zeit, zu der er, wie er sich am Abend vorgenommen hatte, aufstehen wollte. Wenn er in Volano rechtzeitig ankommen wollte, durfte er jetzt keine Minute mehr verlieren. Alles brauchte seine Zeit: aufstehen, auf die Toilette gehen, sich waschen, rasieren, anziehen, einen Espresso trinken und so weiter, so daß er sich kaum vor fünf Uhr ins Auto setzen konnte.
Aber als er Licht gemacht hatte und sich, auf dem Bett hockend, langsam im Zimmer umblickte, packte ihn plötzlich ein solches Gefühl der Niedergeschlagenheit, daß er versucht war, alles zu lassen und nicht zu fahren.
Vielleicht lag es an der Kälte oder an dem allzu schwachen Licht, das von der Deckenbeleuchtung herabschien, jedenfalls war ihm sein Schlafzimmer, in dem er, abgesehen von einer kurzen Zeitspanne nach seiner Heirat und natürlich von den anderthalb Jahren in der Schweiz, seit seiner Kindheit geschlafen hatte, noch nie so fremd und unfreundlich erschienen. Der dunkle Schrank, der, groß, breit und bauchig, wie er war (Schrank mit Bauch hatte ihn seine Mutter immer genannt), einen großen Teil der linken Wand einnahm; die plumpe Kommode auf der rechten Seite, über der ein kleiner ovaler Spiegel hing, der jedoch so trübe war, daß man sich nicht einmal die Krawatte vor ihm binden konnte; der Gewehrschrank aus Mahagoni und Glas im Hintergrund, klein neben der Vertikalen der grauen Übergardine; die Stühle; der Kleiderständer, an dem seine Mutter schon am gestrigen Nachmittag sein wollenes Unterzeug unübersehbar aufgehängt hatte, eine Kombination aus Unterjacke und langen Unterhosen (den Rest seiner Jagdausrüstung samt den Stiefeln hatte sie drüben ins Bad gelegt); schließlich die verschiedenen Wechselrahmen an den Wänden, in denen etwa sein Doktordiplom oder Fotografien steckten, vorwiegend Aufnahmen aus den Bergen: Alles, worauf sein Blick fiel, jedes einzelne Möbel und jeder Gegenstand, war ihm zuwider. Ihm war, als sähe er das alles zum erstenmal, oder, genauer gesagt, als vermöge er erst jetzt, die schäbige, abstoßende, ja absurde Seite daran zu sehen.
Er gähnte und fuhr sich mit der Hand über Wangen und Kinn, die sich rauh und unrasiert anfühlten. Dann schlug er die Bettdecke zurück, setzte die Beine auf den Boden und nahm vom Stuhl den kamelhaarfarbenen wollenen Morgenrock, den er über den Schlafanzug zog, und schlüpfte in die Hausschuhe. Einen Augenblick darauf stand er am Fenster und blickte durch die Fensterscheiben und die halbgeschlossenen Läden auf den Hof hinunter.
Zu sehen war so gut wie nichts. Der Hof war noch in so tiefes Dunkel getaucht, daß man den Brunnen in seiner Mitte kaum erkennen konnte. Aber aus dem Küchenfenster der Hausmeisterleute, der Manzoli, fiel ein greller Lichtstreifen, so hell, daß er auf der hohen Mauer gegenüber, die mit der Vorderseite auf die Via Montebello blickte, die obersten Zweige der großen Kletterrose erreichte, die im Sommer die Hofseite der Mauer fast vollkommen bedeckte. In Böen spielte der Schirokko mit ihnen und zauste sie. Dürr und leicht bewegten sie sich ruckweise, wie unter elektrischen Stromstößen. Es regnete nicht. Solange der Wind anhielt, würde es auch nicht regnen.
Dann sah er zum Hausflur hinüber. Die Tür zur Wohnung der Manzoli im Erdgeschoß hatte sich geöffnet. Vor dem Lichtschein, der aus dem Türrahmen drang (und der sehr viel schwächer war als der aus dem Küchenfenster), zeichnete sich plötzlich eine gebeugte, vermummte Gestalt ab.
»Romeo ist schon auf«, brummte er.
Aufmerksam, regungslos, verfolgte er alle Bewegungen des Hausmeisters. Er beobachtete, wie er auf das schmiedeeiserne Gitter zuging, das den Hof vom Hausflur trennte, einen Türflügel öffnete und ins Freie trat; wie er nach oben sah und den dunklen Himmel musterte und nun, da er offensichtlich ihn, seinen Herrn, am Fenster erkannt hatte, grüßend die Mütze zog.
Er öffnete die doppelten Fensterscheiben, stieß die Läden auf und lehnte sich hinaus, um sie an der Mauer festzumachen. Ein Windstoß traf ihn, feucht, lau, fast warm.
Er richtete sich wieder auf.
»Guten Morgen«, sagte er, zum Hausmeister gewandt. »Sagen Sie bitte Imelde, sie möchte mir, wenn sie doch schon auf ist, Kaffee machen.«
»Gehen Sie trotz des Wetters, Herr Rechtsanwalt?« fragte der Hausmeister, auch er mit leiser, ruhiger Stimme.
Er nickte mit dem Kopf; dann schloß er die äußeren Fenster. Als er sich umdrehen wollte, sah er gerade noch, wie Romeo wieder die Mütze zog. Wie viele Jahre standen die Manzoli schon in ihren Diensten, überlegte er auf dem Weg ins Badezimmer, nur für einen Augenblick, als er am Gewehrschrank vorbeikam, von den hinter Glas funkelnden Gewehrläufen abgelenkt. Er kam zu dem Schluß, daß die Manzoli seit ungefähr vierzig Jahren bei ihnen im Hause sein mußten.
Er zog den Morgenrock aus und hängte ihn an den Haken an der Badezimmertür; dann ließ er heißes Wasser ins Becken laufen und nahm das Rasierzeug aus dem ledernen Etui. Währenddessen blickte er in den Spiegel.
Dies war sein Gesicht; und dennoch stand er hier und betrachtete es, als ob es nicht zu ihm gehörte, sondern das Gesicht eines anderen wäre. Mit einer argwöhnischen Genauigkeit musterte er alle Einzelheiten: die kahle, gewölbte Stirn; die drei waagrechten, parallellaufenden Falten, die sie von einer Seite bis zur anderen durchfurchten; die Augen von einem verwaschenen Blau; die dünnen, übertrieben hochgezogenen Brauen, die dem Gesicht sozusagen einen Ausdruck ständiger Unsicherheit und Ratlosigkeit verliehen; die ziemlich kräftige, aber wohlgeformte aristokratische Nase; die dicken aufgeworfenen Lippen, ein wenig wie die einer Frau; das Kinn, das durch ein Grübchen, das wie ein Komma aussah, entstellt war; die ziegelrote Farbe des länglichen, unzufriedenen Gesichts, auf dem der Bartwuchs so schwarz war, daß er ins Bläuliche spielte. Wie kläglich und unsympathisch er sein Gesicht fand – wie lächerlich! Seine Mutter hatte zwar immer gemeint – und natürlich einen Vorzug darin gesehen –, daß es dem Gesicht des Exkönigs Umberto ähnelte. Möglich. Soviel war jedenfalls sicher: Wenn die sozialistisch-kommunistische Flut weiter anstieg (und von wem sollte sie wohl eingedämmt werden? Von De Gasperi? Sah der so aus?), dann würden alle Gutsbesitzer einer bestimmten Größenordnung, zu denen zwangsläufig auch sie, die Limentanis, mit einem Besitz wie der Montina von über vierhundert Hektar, gehörten, sehr bald abdanken müssen.
Er begann sich einzuseifen und fing bei der Kinnspitze an. Und während seine Gesichtszüge allmählich im Seifenschaum verschwanden, empfand er wieder, noch stärker als kurz zuvor, Unbehagen, wenn er an den vor ihm liegenden Jagdtag dachte.
Er allein hatte ihn sich auferlegt. Und warum? Was war der Zweck? Hätte er nicht besser daran getan, endlich einmal diese Idee der Jagd in der Tonne aufzugeben? Sogar sein Vetter Ulderico Cavaglieri, der doch in Codigoro wohnte, und das hieß, sozusagen nur einen Schritt von den Valli entfernt, und der im Schutz seiner stattlichen, patriarchalisch-katholischen Familie, die er im Lauf von fünfzehn Jahren um sich versammelt hatte, auf die Meinung der Kommunisten ebenso pfeifen könnte wie einst auf die der Faschisten der Republik von Salò oder der deutschen SS – nun, sogar er hatte es nichtsdestoweniger für zweckmäßig gehalten, mit der Jagd einstweilen noch zu warten. Ja, im Herbst 1938, nach dem Erlaß der Rassengesetze (Ulderico war damals vierzig Jahre alt gewesen, während er, Edgardo, heute fünfundvierzig war), hatte es Ulderico nicht einmal darauf ankommen lassen, daß man ihm den Waffenschein verweigerte! Er hatte einfach keine Verlängerung seiner Erlaubnis beantragt. Und 1945, nach der Befreiung, hatte er sich gehütet, den Fehler zu begehen und sich sogleich einen neuen Waffenschein ausstellen zu lassen.
Er rasierte sich mit der gewohnten Sorgfalt. Dann – da es noch eine Weile dauern würde, bis sich die Wanne mit warmem Wasser gefüllt hatte, streifte er die Pyjamahose ab und setzte sich aufs Klo. Seit ein paar Jahren hatte er mit seiner Verdauung morgens Schwierigkeiten. Blieb sie aus – sei es, daß er am Abend zuvor zu reichlich gegessen hatte, sei es, daß er zu zeitig aufgestanden war –, war er den ganzen Tag über schlechtester Laune; es konnte sich sogar Herzklopfen einstellen. Wie er hätte voraussehen können, war dies ein widriger Morgen. Aber so konnte er unmöglich losfahren; er riskierte dabei, unterwegs halten zu müssen, womöglich ohne Gelegenheit, sich waschen zu können.
Also harrte er aus, indes sich das Wasser mit Getöse in die Wanne ergoß und er den stetig steigenden Wasserspiegel in der Wanne nicht aus dem Auge verlor. Er dachte an die Jagd in den Valli – daran, wie sie vor dem Krieg gewesen war und wie sie vermutlich heute geworden war. Wenn vor dem Krieg ein Herr aus Ferrara am Sonntag in der Gegend von Codigoro oder Comacchio auf die Jagd ging, konnte er überall einer freundlichen Aufnahme und des allgemeinen Respekts sicher sein. Und darüber hinaus, was die praktischen Dinge, die Organisation, anging, so war alles zum besten bestellt und vorbereitet – es war deutlich, daß man seit Jahrhunderten an diese Jagdbesuche gewöhnt war –, kurz, es war dafür gesorgt, daß der Gast aus Ferrara sich ohne Schwierigkeiten überall bewegen, daß er sich stärken konnte und an Ort und Stelle alles fand, was er irgend brauchen mochte. Doch heutzutage? Ganz abgesehen davon, daß es schon ein Wagnis war, im Auto über Land zu fahren (genauso wie in den Jahren 1919 und 1920 war es vorgekommen, daß man einem Autofahrer die Windschutzscheibe mit einem Stein eingeworfen hatte, der von unbekannter Hand hinter einer Hecke hervorgeschleudert wurde), was konnte man, wenn man sich, ob mit oder ohne Doppelflinte, in jener Gegend zeigte, anderes erwarten als scheele Blicke, als Menschen, die einem die kalte Schulter zeigten oder gar frech und feindselig anstarrten? Die Zeiten des Lächelns, in denen man höflich den Hut zog und sich verbeugte, waren vorbei. Für alle vorbei: politisch oder rassisch Verfolgte des faschistischen Regimes nicht ausgenommen.
Er konnte auch nicht umhin, wieder einmal – wie schon so oft seit einigen Monaten – an das böse Abenteuer zu denken, das ihm, ausgerechnet ihm, widerfahren war, als es ihm im vergangenen April in den Sinn gekommen war, sich in der Montina einmal selbst vom Fortgang der Planierungsarbeiten zu überzeugen.
Es war alles ganz plötzlich geschehen, sozusagen ohne die geringste Vorwarnung.
Er sah sich wieder am Grabenrand sitzen, in der endlosen Weite der Felder, umringt von mindestens dreißig Landarbeitern (fast alles Gesichter, die ihm seit vielen, vielen Jahren bekannt waren), die mit erhobener Hacke – bereit, sie ihm über den Schädel zu schlagen – von ihm die sofortige Änderung der Lohnverträge forderten. Natürlich hatte er zunächst einmal nachgegeben, und Galassi-Tarabini, sein Anwalt, den er gleich nach seiner Rückkehr in die Stadt konsultierte, hatte seine Taktik vollkommen gebilligt, jedoch im gleichen Atemzug den Rat erteilt, sich um das gegebene Versprechen nicht weiter zu kümmern, vielmehr die ihm widerfahrene Bedrohung bei den Carabinieri von Codigoro anzuzeigen. Daraufhin aber hatte er seit jenem Tag nicht mehr den Mut gehabt, sich auf der Montina sehen zu lassen (statt dessen hatte er von Zeit zu Zeit seinen Verwalter, Ragionier Prearo, geschickt, der mit Benazzi, dem Pächter, über die kleinen Beträge abrechnete, um die es sich da handelte); und da 1939 der gesamte Grundbesitz des verstorbenen Leone Limentani auf seine Schwiegertochter Nives überschrieben worden war – Pimpinati Nives, katholisch, arisch und damals im achten Monat –, mußten nunmehr Leones Erben in direkter Linie, sein Sohn Edgardo und seine Witwe, Erminia Calabresi, die gut vierhundert Hektar der Montina – wenn nicht gar das Haus in der Via Mentana in Ferrara, in dem sie schlecht und recht noch immer wohnten – definitiv als fremdes Eigentum betrachten.
Außer mit Galassi-Tarabini und selbstverständlich mit Ragionier Prearo hatte er mit niemandem über den Zwischenfall auf der Montina gesprochen, weder mit seiner Mutter noch mit seiner Frau. Seine Mutter – nun, man brauchte nur zu sehen, wie ruhig sie war – hatte bisher nichts von alledem erfahren. Aber Nives? Ob sie nicht vielleicht durch Prearo, mit dem er sie letzthin so oft im Büro der Verwaltung im vertraulichen Gespräch sah, bereits ausführlich über den Zwischenfall unterrichtet war? Und was erst die Landbevölkerung betraf, von Codigoro und Umgebung bis mindestens Pomposa – vor allem war hier natürlich an das ländliche Proletariat zu denken –, so müßte es ja nicht mehr mit rechten Dingen zugehen, wenn sich die Gewerkschaft nicht sofort auf den Fall gestürzt und den Leuten damit gehörig eingeheizt hätte!
Aber eben darum: Wenn es so stand, warum mußte er sich dann – so fragte er sich – irgendwelchen Gefahren aussetzen? War es wirklich der Mühe wert, sich weitere Unannehmlichkeiten zuzuziehen, vielleicht sogar physischer Art, nur um dem Vergnügen frönen zu können, ein paar Flintenschüsse abzufeuern?
Was war denn nun wichtiger, die Jagd oder …
Mißmutig erhob er sich. Er gab es auf, dort länger sitzen zu bleiben (»Es ist ja doch zwecklos«, brummte er vor sich hin). Er beugte sich über die Wanne, um die Hähne zuzudrehen.
Das Badezimmer hatte sich inzwischen mit einem dichten, lauwarmen Nebel gefüllt.