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ОглавлениеEs war kalt im Hausflur – eine feuchte, tückische Kälte, bei der man an Brunnen und Keller dachte. Durch die Haustür, die Romeo bereits, Gott weiß, warum, weit aufgemacht hatte, fuhr der Wind in Stößen und brachte den kleinen schwarzen, schmiedeeisernen Kronleuchter an der dunklen getäfelten Decke gefährlich zum Schaukeln.
Der Hausmeister stand bewegungslos in der Tür und blickte, wie es schien, mit gespannter Aufmerksamkeit auf das Haus gegenüber, das vom Flur aus unsichtbar blieb. Was gab es da zu beobachten? Mit seinen runden Schultern – fast war es ein Buckel –, die er ihm hartnäckig zugewandt hielt (als wollte er streiken), schien er nicht nur seine Anwesenheit nicht bemerkt, sondern auch vergessen zu haben, daß er vor dem Aufbruch noch seinen Kaffee haben mußte und daß der Motor wie sonst auch, besonders aber im Winter, langsam, ohne Überstürzung, erst warmlaufen sollte.
Mitten im Hausflur stand, melancholisch-vertraut, seine alte dunkelblaue Aprilia, mit dem Kühler zur halboffenen Gittertür, die auf den Hof führte. Er ging um den Wagen herum und legte die Waffen auf der Truhe ab, die an der dem Treppenhaus gegenüberliegenden Wand stand; dann ging er zum Wagen zurück, öffnete die rechte Tür und setzte sich ans Steuer. Während er sich abmühte, den Motor in Gang zu bringen (der Anlasser wollte nicht gleich funktionieren, was natürlich an der Kälte lag, aber auch an der Batterie, die einfach zu alt war – wie der ganze Rest), wandte er nicht den Blick von Romeo, den er, eine starre, rätselhafte Gestalt, im Rückspiegel beobachtete. Seit fast dreißig Jahren, in denen Romeo seinen morgendlichen Aufbrüchen zur Fahrt aufs Land beiwohnte, hatte er sich noch nie so benommen. Hatte er sich plötzlich geärgert, daß er wieder wie einst noch vor Morgengrauen aufstehen mußte, noch dazu an einem Sonntag? Wollte er ihm das zu verstehen geben? Heutzutage war alles möglich. Dies hier war jedenfalls wieder etwas Neues und nicht besonders Angenehmes.
Endlich, nach einigem Stottern, sprang der Motor an. Behindert durch die Patronentasche, die er um den Leib gebunden trug, beugte er sich mühsam vor und suchte unter dem Armaturenbrett den Gashebel. Als er sich wieder aufrichtete, fand er sich zu seiner Überraschung Auge in Auge mit Romeo. Da stand er vor der Wagentür, leicht gebeugt, als habe er sich vor ihm verbeugt, und sah ihn an, mit einem Blick unter den schweren Lidern hervor, dem Blick einer alten Schildkröte.
»Kommen Sie auf einen Kaffee herein?« fragte er leise.
Er kannte doch den Charakter dieses Mannes durch und durch: Er war rauh, gelegentlich sogar mürrisch, aber von einer Anhänglichkeit und Treue, die jede Probe bestanden hatten. Es war also nicht nur ganz klar – und ihm wurde weit ums Herz, so erleichtert fühlte er sich –, daß Romeo nicht den geringsten Groll gegen ihn hegte, sondern mehr noch: Aus dem unbestimmten Ausdruck von Vergnügen, der um seine Augen zuckte, entnahm er – mochte seine Miene auch beherrscht und gleichmütig wie je sein –, wie froh und zufrieden er insgeheim war, daß er nach so langen Jahren das erstemal wieder auf die Jagd ging.
Er kletterte aus dem Wagen.
»Ist er schon fertig?« fragte er.
Romeo nickte. Mit einer Bewegung des Kinns auf die beiden Jagdgewehre weisend, fragte er, ob er sie im Kofferraum unterbringen solle.
»Wenn Sie mir den Wagenschlüssel geben, packe ich Ihnen das alles in den Kofferraum.«
»Das ist nicht nötig«, antwortete er, bemüht, den kühlen Ton und die gemessene Haltung zu wahren, die ihre Beziehung charakterisierten. »Legen Sie lieber alles auf den Rücksitz. Auch das hier, bitte.«
Er entledigte sich seiner Patronentasche und hängte sie ihm mit dem Riemen über den Arm; dann ging er mit raschen Schritten auf den Lichtschein zu, der durch den Türspalt drang.
Die Wohnung der Manzolis bestand aus drei ineinandergehenden Räumen, die alle in einer Reihe lagen: am einen Ende die Küche mit dem Fenster zum Hof hinaus, am anderen das Schlafzimmer, das auf die Via Mentana ging; dazwischen ein sehr geräumiges Zimmer, das die beiden Alten, nachdem sich ihre Tochter Irma verheiratet hatte und nicht mehr bei ihnen wohnte, mit hochglanzpolierten Serienmöbeln vollgestellt hatten, ohne es praktisch je zu benutzen. Seit jenem Vorfall in der Montina im April war es immer dasselbe gewesen: Er brauchte nur den Fuß in die Wohnung des Hausmeisters zu setzen – zumal in die Küche, die so sauber und ordentlich, so hell und, nicht zuletzt, so gut durchwärmt war von den glühenden Herdplatten –, und mit einem Schlag hob sich seine Stimmung. So war es auch diesmal. Hier, so stellte er, plötzlich wieder guten Mutes, fest, konnte man es sich wohl sein lassen, hier war er wirklich und wahrhaftig zu Hause! Auf die Manzolis konnte er sich verlassen!
Er setzte sich an den Tisch und begann, langsam den kochendheißen Kaffee aus der für ihn reservierten henkellosen Schale zu schlürfen (seinem Tassenkopf, wie Romeo sie nannte). Imelde indessen, das spitze Gesicht halb verborgen in den Falten ihres schwarzen Kopftuchs, wie es die Bauernfrauen im Delta trugen, hantierte eifrig weiter.
Über den Rand seiner Kaffeeschale hinweg verfolgte er aufmerksam jede ihrer Bewegungen.
Weder sie noch Romeo konnten Nives leiden. Mehr oder weniger unverhüllt mißbilligten sie alles an ihr, und diese Mißbilligung und Ablehnung erstreckte sich auch auf Ragionier Prearo, die Köchin Elsa und sogar auf Rory, mit anderen Worten auf alles und jeden, der nach dem Jahre 1938 in das Haus in der Via Mentana Nummer zwei gekommen war. Wenn sie von Nives sprachen, nannten sie nie ihren Namen; sie bezeichneten sie ihm gegenüber regelmäßig als Ihre Frau, während die wahre, die einzige Herrin des Hauses die Signora Erminia, seine Mutter, blieb und Lilla, der dreijährige Zwergpudel, der seiner Mutter sogar im Bett Gesellschaft leisten durfte, das einzige Baby im Hause, das man nach Strich und Faden verwöhnen mußte. An Nives aber ließen sie nichts Gutes. Er brauchte nur auf einen Augenblick zu ihnen hereinzukommen, und schon begannen sie mit den üblichen Beschwerden.
Vor kurzem zum Beispiel hatten sie ihm von der Angewohnheit seiner Frau berichtet, von der Einrichtung der Sprechanlage keinen Gebrauch mehr zu machen, sobald er nicht im Hause war. Das bedeutete, daß aus kleinstem Anlaß sie oder Elsa an einem der Hoffenster erschienen und sich, was sie sich mitzuteilen hatten, mit einer Lautstärke zuschrien, daß es selbst auf dem Hof der großen Mietskaserne in der Via Mortara nicht lauter zugehen konnte … Und jetzt? fragte er sich und senkte die Lider, als könnte er dadurch leichter aus dem unendlichen Vorrat seiner Geduld schöpfen. Was würde er also jetzt über seine Frau zu hören bekommen? Sicher hatte Imelde etwas auf dem Herzen.
Er schlug die Augen wieder auf.
»Was gibt es denn?« fragte er.
Aber er hatte sich wieder geirrt; auch diesmal hatte er falsch vermutet. Imelde hatte rotgeweinte Augen und führte fortwährend das Taschentuch an ihre Nase. Aber kaum trat Romeo vom Hausflur aus in die Küche, als sie plötzlich begann, einen gewissen William laut zu verwünschen, diesen Tagedieb und Kommunisten, der zwar sein Diplom als Elektrotechniker gemacht, aber keine Lust zur Arbeit hatte und alles Geld im Bordell verjubelte. Er lebte mit seiner Frau praktisch auf ihre Kosten, auf Kosten ihrer armen alten Eltern!
Er wandte sich Romeo zu.
»Wer ist dieser William?« fragte er.
»Irmas Mann«, antwortete er lakonisch und beugte den Kopf, so daß das Licht auf sein silbernes Haar fiel.
Einen Augenblick verstand er nichts. Es war, als wolle sich ihm das Gedächtnis versagen, um so seine Ruhe zu verteidigen.
Aber dann kam die Erinnerung.
Richtig, der Mann, der die Tochter der beiden geheiratet hatte. Wie konnte er das nur vergessen haben? Es war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, erinnerte er sich – schmächtig, schmutzigblond, von gewandter Ausdrucksweise und guten Manieren; es war noch nicht lange her, daß er ihn ziemlich häufig zwischen Hof und Hausflur herumlaufen sah und daß sich der junge Mann einmal sogar nicht nur erboten hatte, ihm das Auto zu waschen, sondern sich auch geweigert hatte, irgend etwas dafür anzunehmen. Kommunist? Das konnte sehr gut stimmen. Um auf diesen Verdacht zu kommen, brauchte man sich nur sein Gesicht mit den hageren, bleichen Wangen anzusehen, das wie verzehrt schien von einer Art Gier und weiß Gott welchem geheimen Groll. Und man brauchte ihm nur zuzuhören, wie er sich in seinem Radio-Italienisch ausdrückte, glatt und ungezwungen, gewiß, aber auch wenig vertrauenerweckend. Das erstaunliche aber war, daß gerade Irma, ein so sanftes, feines und anständiges Mädchen, das in der Nähschule der Schwestern der Via Borgo di Sotto erzogen worden war und das rot wurde, sobald jemand, ich sage nicht, das Wort an sie richtete, sondern ihr nur auf der Straße begegnete und sie grüßte – daß gerade sie sich von einem Menschen dieses Schlages hatte betören lassen.
Und jetzt war Irma im sechsten Monat, wie ihm Imelde erklärte, und trotzdem mußte sie ihrem Nichtsnutz von Mann das Geld für sein ausschweifendes Leben besorgen, indem sie von früh bis spät als Hausschneiderin arbeitete …
Obwohl er sich immer unbehaglicher fühlte, blieb er auf seinem Platz sitzen und konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen. Er sah auf die Uhr: fünf Uhr fünfunddreißig. Ulderico hatte sich am Telefon sehr bestimmt ausgedrückt: Der Mann, den er ihm als Jagdbegleiter vermittelt hatte und der ihn im Boot von Lungari di Rottagrande bis zu seiner Tonne bringen sollte (ein gewisser Gavino, wenn er richtig verstanden hatte), würde ab sechs Uhr fünfzehn in Volano auf ihn warten, vor dem Tuffanelli-Haus. – Fünf Uhr fünfunddreißig. Es war ausgeschlossen, daß er die Verabredung um Viertel nach sechs einhalten konnte. Nicht vor halb, spätestens dreiviertel sieben würde er da sein. Zu schweigen davon, daß man, soweit er sich erinnern konnte, vom Tuffanelli-Haus bis Lungari di Rottagrande wenigstens zu einem Drittel um die Valle Nuova herumfahren mußte, was noch eine gute halbe Stunde mehr bedeutete. Kurz und gut, wenn alles glattging, konnte er frühestens Viertel nach sieben oder halb acht in die Tonne steigen, das hieß, bei hellem Tageslicht. Aber auch das nur unter der Voraussetzung, daß er unverzüglich aufbrach.
Er blickte wieder auf die Uhr, um sich selbst zur Eile anzutreiben und die Kraft zum Aufbruch zu finden. Umsonst. Eine unsägliche Trägheit, die stärker war als jede Willensanstrengung, hielt ihn auf dem strohgeflochtenen Küchenstuhl, als sei er an ihn festgebunden. Wenn er doch, allem zum Trotz, hier in der behaglichen Wärme der Hausmeisterwohnung bis zum Abend bleiben dürfte, ohne daß es jemand im Hause oder überhaupt jemand wußte! Dafür hätte er alles gegeben.
Er hob den Kopf und sah Imelde an.
»Aber nun erklären Sie mir doch einmal«, sagte er, »warum Ihr Schwiegersohn nicht arbeiten will.«
Imelde zuckte die Achseln. »Was weiß ich«, sagte sie. Nur etwas wisse sie genau, fuhr sie fort, daß ihr Schwiegersohn den ganzen Tag im Bett liege, und wenn ihre Tochter es sich etwa herausnehmen sollte, ihm deshalb Vorwürfe zu machen, er imstande wäre, sie zu prügeln, dieser Spitzbube von einem Kommunisten!
Dies sei die Wahrheit, beteuerte sie. Dafür bürgten ihnen allein die Gesichter der beiden, von kaum zurückgehaltener Wut verzerrt das seine, und erst recht das Gesicht ihrer Tochter mit den Augen der Frau, die zum Opfer bestimmt ist – und damit vielleicht obendrein insgeheim einverstanden ist.
Verwirrt machte er Anstalten aufzustehen.
»Wenn er nicht arbeitet«, gab er zu bedenken, »ist der Grund vielleicht, daß er keine Arbeit findet.«
»Ach was«, mischte sich Romeo ein und schüttelte den Kopf. »Er hat einfach keine Lust, etwas zu tun.«
»Aber warum lassen Sie dann nicht Ihre Tochter –« und damit wandte er sich an Imelde, »wieder zu Ihnen kommen?«
Imelde seufzte. Sie habe es ihrer Tochter unzählige Male vorgeschlagen, sagte sie. Aber Irma sei hart, härter als Stein. Sie wollte nicht einmal davon reden hören.
»Sie ist verliebt«, schloß sie und verzog die dünnen Lippen zu einer Grimasse der Verachtung.
Verliebt, selbstverständlich – wie er übrigens bereits vorher verstanden hatte. Und jetzt war auch die Küche der Manzolis plötzlich unbewohnbar für ihn geworden, auch sie ein Ort, den er zu räumen hatte. Und das sofort.
In dem Schweigen, das den letzten Worten Imeldes folgte (vom Hausflur drang durch die Mauern nur gedämpft das Brummen des Motors seiner Aprilia), blickte er wieder auf die Uhr. Fünf Uhr zweiundfünfzig.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte er, umklammerte mit beiden Händen die Tischkante, richtete sich auf und machte die ersten Schritte. Und als Imelde ihm nachkam und ihn anflehte, doch irgend etwas für ihre Irma zu tun (wenn er vielleicht ihren Schwiegersohn einmal zu sich bestellte und ein Wort mit ihm redete – wer weiß, ob der Unglücksmensch dann nicht doch zur Einsicht kam und sein Leben änderte?), antwortete er nur mit einem mal sehen, das, wie er selbst am besten wußte, überhaupt nichts bedeutete.
Diesen Kerl sollte er zu sich bestellen, fragte er sich, während er auf den Hausflur trat und auf seinen Wagen zuging, und ein Wort mit ihm reden? Wenn er sich vorstellte, er sollte sich mit dem jungen Elektriker mit dem totenblassen Gesicht unterhalten, überkam ihn eine Art Widerwille. Ein Widerwille, in den sich Furcht mischte.
Er setzte sich ans Steuer, schaltete die Scheinwerfer ein. Mit einer winkenden Bewegung der Hand den respektvollen Gruß Romeos erwidernd, der das Manöver Schritt für Schritt bis auf die Straße hinaus verfolgt hatte und ihn nun, das dünne Licht der Einfahrt im Rücken, vom Rand des Bürgersteigs her stumm ansah, wechselte er den Gang und fuhr los.