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Er konnte es kaum erwarten, Codigoro hinter sich zu lassen. Während der ganzen Fahrt von der sogenannten Prospettiva, dem Triumphbogen auf dem Corso Giovecca bis zum Stadtrand von Codigoro hatte er die Augen fast nur auf die Straße vor sich gerichtet gehabt. In Volano wartete ja bereits der Mann mit dem Boot, also mußte er sich beeilen. Aber davon abgesehen, war es so, daß er erst, wenn er über Codigoro und Pomposa hinausgekommen wäre und wenn sich im ungenauen Licht der Dämmerung nach und nach die verlassene Landschaft der Niederung abzeichnete, nur unterbrochen von ausgedehnten Flächen scheinbar stehender Gewässer – scheinbar, denn in Wirklichkeit standen sie mit dem Meer in Verbindung –, daß er erst dann sich wohl zu fühlen begänne und wieder aufatmete.

Aber gerade als er die Peripherie von Codigoro erreicht hatte und im Begriff stand, nach etwa hundert Metern in die glatte Umgehungsstraße einzubiegen, zwang ihn plötzlich ein jäher Schmerz in der Gürtelgegend, dem eine Sekunde zuvor ein leichtes Herzklopfen vorangegangen war, sich über das Steuerrad zu beugen.

»Ein Glück, daß es jetzt kommt«, brummte er vor sich hin, während er von unten mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe auf die beiden Schornsteine der Zuckerfabrik Eridania sah und auf den nicht weit davon entfernten Schornstein der Pumpwerke des Consorzio Bonifiche.

Er kannte sich. Höchstens zehn Minuten würde er aushalten können, länger nicht. Würden sie genügen?

Im Licht der ersten, in weiten Abständen aufeinanderfolgenden Straßenlaternen, die im Wind heftig über dem ländlichen Kopfsteinpflaster schaukelten, blickte er auf die Uhr. Sechs Uhr vierzig. Um diese Zeit würden die beiden Cafés an der Piazza gewiß die Jalousien schon aufgezogen haben. Um so mehr ein Grund, zunächst auf die Weiterfahrt nach Volano zu verzichten und lieber hier, in Codigoro, haltzumachen. Wenn er es erst einmal geschafft hatte, bis zur Piazza zu kommen, dann war er gerettet.

Geradeaus fahrend, erreichte er in wenigen Augenblicken das Zentrum und die Piazza. Nirgends ein Licht – er sah es sofort, in seiner Erwartung enttäuscht, gewiß, und doch absurderweise zugleich mit einer Spur von Erleichterung – weder in den beiden gegenüberliegenden Cafés auf der rechten Seite noch in dem zehnstöckigen Gebäude des Nationalen Versicherungsinstituts, der I.N.A., auf der anderen Seite, in dem Ulderico mit seiner Familie wohnte, noch in irgendeinem der anderen großen und kleinen Häuser an der Piazza. Alles geschlossen, alles dunkel. Nirgends eine Menschenseele.

Er fuhr auf die linke Seite des Platzes, um dort, vor dem großen Gebäude der früheren Casa del Fascio, aus der heute eine Kaserne der Carabinieri geworden war, zu parken. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus und schloß in aller Ruhe die Wagentür ab. Codigoro. Die Piazza von Codigoro. Seit rund zehn Jahren, seit dem Jahr 1938, war er nicht mehr zu so früher Stunde hier gewesen. Aber einen so menschenleeren Platz hatte er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie gesehen. Was hatte wohl eine solche Verlassenheit bewirkt? War es der kommunistische Terror, fragte er sich mit einem spöttischen Grinsen. Oder einfach Weihnachten?

Es war nicht kalt; und vom Wind war zumindest in dieser Ecke so gut wie nichts mehr zu merken. Seltsam – auch die Leibschmerzen hatten aufgehört. Aus dem Schatten des Laubengangs vor dem Versicherungsgebäude kam ein Hund, ein Pointer, nach seinem Gang zu urteilen. Er sah, wie er ins Freie kam und zur Mitte des Platzes hinlief (ja, es war ein alter Vorstehhund), wo er vor dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs haltmachte, gründlich am Sockel schnüffelte, bevor er das Bein hob, um dann in langsamem Trab nach rechts hin, in einer Gasse, zu verschwinden. – Und wenn er es bei Bellagamba versuchte, überlegte er, nun wieder allein auf dem Platz. Möglich, daß auch der Bosco Elìceo noch nicht geöffnet hatte, zugegeben. Andererseits aber konnte er sich schlimmstenfalls an die Glocke hängen, da es ja immerhin auch ein Hotel war (wenn er auch persönlich dort noch nie übernachtet hatte; aber er hatte des öfteren gehört, daß es oben Zimmer für Gäste gab).

Er öffnete den Kofferraum, entnahm ihm eine graue Astrachanmütze (ein altes Stück, das er schon als junger Mensch getragen hatte, zur Jagd in den Valli ebenso wie zum Skilaufen im Gebirge), die er sich nun auf den Kopf stülpte, und ging dann die etwa zwanzig Meter bis zur Ecke, die das einstige Parteihaus, die heutige Carabinieri-Kaserne, mit der nächsten Querstraße bildete. Er spähte zum Bosco Elìceo hinüber: Nein, er hatte sich nicht getäuscht, auch er war noch geschlossen. Also würde ihm tatsächlich nichts übrigbleiben, als so lange zu läuten, bis man ihm aufmachte. Denn hier haltmachen mußte er unter allen Umständen; also blieb ihm keine Wahl.

Aber als er dann vor den herabgelassenen Rolladen stand, über seinem Kopf das leuchtende Neonschild, da genügte die Vorstellung, plötzlich von Angesicht zu Angesicht Bellagamba gegenüberzustehen – es war ja keineswegs ausgeschlossen, daß er ihm selbst die Tür öffnete –, um ihn doch noch zurückzuhalten.

Er erinnerte sich an Bellagamba aus den Jahren 1938 und 1939, als er die Uniform eines Korporals der faschistischen Miliz trug (Gino hieß er, wenn er sich nicht irrte, Gino Bellagamba), den Fes in den glattrasierten Stiernacken geschoben, so daß ihm die schwarze Quaste halb über den Rücken hing. Er erinnerte sich an seine Physiognomie: Man dachte an einen ländlichen Bramarbas, der dank der Ereignisse wieder in den aktiven Dienst eingestellt worden war. Fast den ganzen Tag stand er auf der Piazza, wie ein Wachhund, genau vor der Casa del Fascio. Er erinnerte sich der drohenden, verachtungsvollen Blicke, mit denen er damals auch ihn bedacht hatte, weil er Jude war, weil er unpolitisch war und weil er Grundbesitzer war, wenn er auf dem Weg in die Montina durch Codigoro kam und das Pech hatte, ihm über den Weg zu laufen … Nein, diesem Mann plötzlich gegenüberzustehen, mit dem er übrigens in seinem ganzen Leben noch nie ein Wort gewechselt hatte, und ihn darum bitten zu müssen – nämlich um die Erlaubnis, seine Toilette zu benutzen –, das würde alles andere als angenehm für ihn werden. Er war nahe daran – wenn es nur ein bißchen später wäre – kehrtzumachen und bei seinem Vetter Ulderico zu läuten.

Und wohin sonst hätte er gehen können? Und übrigens, lohnte es sich, offen gesagt, wirklich, es sich selbst so schwerzumachen? Er hatte es seinerzeit immer vermieden, die Mitgliedskarte der Faschistischen Partei zu erwerben (nicht weil er je dagegen gewesen wäre, um die Wahrheit zu sagen, sondern nur so, aus jenem gewissen Zug seines Charakters heraus: dem Mangel an sozialem Empfinden); in dieser Hinsicht hatte er es anders gemacht als Ulderico, der es sich nicht zweimal hatte sagen lassen, als man ihm im Jahre 1932 die Mitgliedschaft anbot; er hatte sofort zugegriffen. Aber, wenn man es recht bedachte, waren die Faschisten von vor 1943 wirklich so viel schlechter als die Kommunisten von heute? Und die heutigen Gewerkschaften, eingerichtet als Zentren der Anmaßung und der Übergriffe gegen den, der etwas hatte, waren sie vielleicht besser als die faschistischen Organisationen? Im Falle Bellagambas allerdings stimmte vielleicht sogar, was Nives behauptete: daß er sich nach dem Zwischenspiel Badoglios zu den Faschisten von Salò geschlagen hatte. Durchaus möglich. Aber wenn selbst die Kommunisten, die heute die absoluten Herrscher von Codigoro waren, ihn in Ruhe ließen, warum sollte da ausgerechnet er Geschichten machen? Außerdem war es ja bekannt, daß Nives die Manie hatte, ihren Landsleuten eins auszuwischen. Dazu war ihr jede Gelegenheit recht …

Während er so noch dastand, unschlüssig, aber auch in Unruhe wegen der beiden Jagdgewehre, die er für jedermann sichtbar auf dem Rücksitz seines Autos hatte liegenlassen (vielleicht sollte er doch lieber sofort zurückgehen und die Flinten zusammen mit der Patronentasche in den Kofferraum schließen), glaubte er auf einmal, aus dem Innern des Lokals Geräusche zu hören. Es war ein Ächzen, Stöhnen und Knarren, als ob da drinnen jemand mit großer Anstrengung Möbel rückte.

Er wartete eine Pause ab; dann klopfte er bescheiden mit den Knöcheln an das Wellblech.

Eine Stimme fuhr ihn an, laut, zornig und doch zugleich auch Angst verratend:

»Wer ist da?«

»Ich«, antwortete er leise.

»Wer ist ich?«

Er zögerte. Er hörte da drinnen Schritte näher kommen, die schließlich stockten.

»Limentani«, sagte er.

»Wer?«

»Li-men-ta-ni«, wiederholte er, ohne die Stimme zu erheben und plötzlich verwundert über seinen eigenen Namen und darüber, wie fremd die Silben im Freien widerhallten.

Mit einem Ruck wurde der Rolladen hochgezogen.

Es war wirklich Bellagamba; er erkannte ihn gleich; er war nur noch stärker, dicker und stierhafter geworden. Unter dem Unterhemd zeichnete sich seine Brust wie die einer Frau ab. Jäh von seinem alten Widerwillen gepackt, war er drauf und dran, sich umzudrehen und wieder zu gehen. Vielleicht war jetzt noch Zeit dazu.

Aber es war schon zu spät. Der andere riß die Augen auf (hellblaue Augen); er hatte ihn erkannt.

»Das ist aber eine Überraschung!« erklärte er mit gedämpfter Stimme.

Er lächelte ihm zu, wie von der Freude übermannt, wobei er seine kleinen kräftigen Boxerzähne zeigte.

»So eine Überraschung!« wiederholte er. »Aber wissen Sie, Herr Rechtsanwalt«, fuhr er flüsternd fort und blinzelte ihm, höflich beiseite tretend, komplizenhaft zu, »wissen Sie, daß Sie mir beinahe einen Schrecken eingejagt haben? Aber kommen Sie doch herein, ich bitte Sie! Es ist kalt draußen. Treten Sie näher!«

Alles hätte er erwartet, nur nicht diesen herzlichen und so wortreichen Empfang (merkwürdig: Auch Bellagamba sprach wie jener William, der Mann Irma Manzolis, ein gewandtes, flüssiges, korrektes Italienisch). Wie dem auch sei, er war darüber nicht glücklich. Fast wäre ihm ein schlechter, feindseliger Empfang noch lieber gewesen, bei dem es ihm überlassen geblieben wäre, dann die Rolle des großmütig Verzeihenden, des vornehmen Herrn zu spielen, der über gewisse Dinge hinwegsieht. Und was sollte diese Pose des Mitverschworenen, in der sich Bellagamba gefiel? Rechnete er etwa damit, er könne ihn, wenn er ihn erst einmal in seine Höhle gezogen hatte, dazu bewegen, mit ihm gemeinsam den schönen Zeiten des faschistischen Imperiums oder gar der Republik von Salò nachzuweinen? Sicher wußte auch Bellagamba so gut wie jeder andere in Codigoro genau, was ihm im vergangenen April in der Montina zugestoßen war. Aber wenn er sich jetzt vielleicht einbildete, er würde bei ihm seinem Herzen Luft machen, dann hatte er sich gründlich geirrt. Er hatte gegen niemanden etwas, und schon gar nichts gegen Bellagamba. Aber, wohlverstanden, keine plumpen Vertraulichkeiten!

Indessen war er eingetreten, übrigens mit dem Gefühl – vielleicht auch des ungemein starken Geruchs nach gebratenem Fisch wegen, der ihm schon auf der Schwelle schier den Atem benahm –, tatsächlich in eine Höhle zu kommen, in den Bau eines wilden Tieres. Er nahm seine Pelzmütze ab und sah sich um. Er befand sich in einem mittelgroßen, saalartigen Raum, der in fast vollkommene Dunkelheit getaucht war. Nur an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite verbreitete auf einer Art Katheder eine Tischlampe mit grünem Seidenschirm ein wenig Licht.

Das Katheder war freilich, wie er bald begriff, nur die Rezeption des Hotels; alles funkelnagelneu. Hinter dem Tisch, an der Wand, hingen an numerierten Haken, die in doppelter Reihe in der frisch gekalkten Wand angebracht waren, zehn oder zwölf Schlüssel. Mehr konnte er in dem schwachen Lichtschein nicht erkennen, aber es genügte ihm. Ihm genügte der Tisch der Rezeption mit den Schlüsseln an der Wand, um sich bewußt zu werden, wie wenig dieses Lokal, das der einstige Korporal der faschistischen Miliz zu einem Restaurant und Hotel gemacht hatte, der anspruchslosen ländlichen Schenke glich, wie sie in seiner Erinnerung existierte.

Bellagamba war zurückgeblieben. Er hörte ihn leise fluchen: Der Rolladen wollte sich nicht wieder herunterziehen lassen. Dazwischen rief er ihm in Abständen zu, ja vorsichtig zu sein. Auf dem Fußboden stehe eine erst halb geöffnete Kiste mit etwas Schwerem darin – einer Schnellwaage; sie war gestern abend mit der Post aus Mailand gekommen. Er möge also aufpassen, daß er nicht darüber stolperte und sich weh tat.

Aber schließlich kam auch Bellagamba. Er ging an ihm vorbei, nicht ohne ihn versehentlich anzustoßen und ihn in dem Augenblick, in dem er ihn streifte, mit dem Geruch seiner Achselhöhlen zu belästigen. Hinter der Bank der Rezeption drehte er einen neben den Schlüsseln befindlichen Schalter an. Dann saßen sie sich endlich bei dem nicht sehr hellen Licht einer großen Neonröhre gegenüber, die in der Mitte der Decke angebracht war, er in einem kleinen Sessel aus Kunstleder und Bellagamba sozusagen in seinem Büro, die breite Kieferpartie wie halbiert von dem gelben Licht der Lampe auf der Tischplatte vor ihm.

Mehr denn je mit dem Gefühl, sich außerhalb der Welt zu befinden, wußte Edgardo nicht, wie beginnen. Irgend etwas zu sich zu nehmen kam nicht in Frage. Er hatte das Empfinden, daß sich sein Magen wie eine Faust geschlossen hatte.

Doch Bellagamba kam ihm zu Hilfe.

»Aber was hat Sie«, fragte er in einschmeichelndem Ton und auf einmal in den Dialekt übergehend, wobei er die wasserhellen Augen halb schloß, »entschuldigen Sie, was hat Sie in diese Gegend verschlagen? Sind Sie vielleicht zur Jagd nach Codigoro gekommen?«

Angesichts seiner Kleidung erübrigte sich die Frage eigentlich. Aber der Ton, in dem sie gestellt worden war, einschmeichelnd und demütig – der Ton, in dem sich noch vor ein paar Jahren ein Bauer auf seinem Besitz an ihn hätte wenden können –, dieser Ton gab ihm ein Minimum an Selbstvertrauen zurück.

Er nickte.

»Ja«, bestätigte er dann. Tatsächlich sei er aus diesem Grunde gekommen – um ein paar Schüsse abzugeben. Aber ob er dazu noch kommen würde, fügte er in fragendem Ton hinzu und zweifelte plötzlich wirklich daran. Er habe sich verspätet, fuhr er fort. Um diese Zeit habe er längst in Volano sein wollen, ja schon um Viertel nach sechs. Wohingegen es jetzt (und er schob mit einem Finger den Ärmel zurück und warf einen Blick auf seine Armbanduhr) bereits nach sieben sei.

Endlich entschloß er sich.

Mit einem suchenden Blick rundum stand er auf.

»Dürfte ich einen Augenblick die Toilette aufsuchen?« fragte er.

Der Reiher

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