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Er stand vor der geschlossenen Tür, die Hand auf der Klinke, noch ohne sie hinunterzudrücken, und überlegte, ob er es schaffen würde,sich heimlich davonzustehlen.

Von seiner Mutter und von seiner Frau hatte er sich gestern abend verabschiedet und gleich nach dem Essen das Speisezimmer verlassen, wo sie stumm vor dem Kamin mit den halbverglühten Scheiten sitzen blieben und strickten. Rory, sein Töchterchen, hatte er allerdings am Abend nicht mehr sehen können, da er erst um neun Uhr nach Hause gekommen war, als Rory schon seit mindestens einer Stunde schlief. Aber, wie dem auch sei, jetzt konnte er sich unmöglich noch länger aufhalten lassen. Wenn er, um Rory einen Kuß zu geben, sich auch von Nives noch einmal verabschieden mußte, die in dem Zimmer schlief, das zwischen seinem und dem Rorys lag und das eigentliche eheliche Schlafzimmer war (das Zimmer seiner Mutter dagegen lag nach vorn heraus – isoliert und in gehörigem Abstand, Gott sei Dank!), ach nein, dann wollte er lieber auch auf Rorys Kuß verzichten.

Behutsam öffnete er die Tür seines Zimmers und trat hinaus.

Auf dem Korridor schaltete er das Licht ein, wandte sich um und schloß seine Tür, bevor er vorsichtig die ersten Schritte auf dem linoleumbedeckten Gang machte. Obwohl er amerikanische Militärstiefel mit ungenagelten Sohlen trug, setzte er seine Füße äußerst vorsichtig auf. Er wog ungefähr achtzig Kilo – doch heute, in seinen Jagdsachen und mit zwei Gewehren, der Browning und seiner alten Krupp Drei Ringe, wog er gut zwanzig Kilo mehr. Und das leiseste Knarren, das ein solches Gewicht dem Parkett unter dem Linoleumbelag entlockte, würde höchstwahrscheinlich genügen, daß Nives aus ihrem leichten Schlaf erwachte und ihn dann rief.

»Edgardo!«

»Pst!« machte er instinktiv.

Er hatte nicht das geringste Geräusch verursacht – dessen war er sicher –, und doch hatte ihn Nives, er wußte nicht wie, gehört. »Verdammt!« brummte er. Wenn er nicht sofort zu ihr ging, würde sie ihn bestimmt wieder rufen.

Er steckte den Kopf in das stockfinstere Zimmer. »Pst!« zischte er. »Was ist denn los? Warte einen Augenblick.«

Es war ihm unangenehm, in diesem Aufzug das Zimmer seiner Frau zu betreten: mit den Gewehren und der Patronentasche vorm Bauch, vor allem aber mit der fünfschüssigen Browning-Flinte in dem eleganten, naturfarbenen Lederfutteral, die er, seinem so oft verkündeten Sparsamkeitsprogramm zum Trotz, im vergangenen September bei Gualandi, dem ersten Waffenhändler Bolognas, gekauft hatte. Darum legte er sie ab, behutsam in jeder Bewegung, und hängte sie mit dem Schultergehänge über den Griff des Vorderfensters. Er schickte sich an, das gleiche mit der Doppelflinte zu tun, als ihm einfiel, daß er sich mit dieser ungeniert vor Nives zeigen konnte, da sie ihn damit schon in den Zeiten von Codigoro gesehen hatte, als sie, Nives, noch seine Geliebte gewesen war. Die Waffe würde ihr also wahrscheinlich gar nicht auffallen. Ganz zu schweigen davon, daß es, um Schwierigkeiten jeglicher Art zu vermeiden (möglich, daß sie irgendwelche Absichten hatte: Sie war durchaus fähig, sich dafür ausgerechnet diesen Augenblick auszusuchen!), das Allerbeste war, ihr sofort zu verstehen zu geben, daß er im Aufbruch begriffen war und keine Minute Zeit für müßiges Geschwätz hatte.

Er trat ein.

Nives schaltete die Nachttischlampe ein, während er sich zur Mitte des Zimmers hin bewegte, den rechten Daumen zwischen das lederne Schultergehänge und seine Jacke aus rauher schottischer Wolle geschoben. Und da, als er schon fast vor dem großen, aus rötlichem Holz geschnitzten Ehebett stand, in dem er, als einziger Sohn, von seiner Mutter empfangen worden war und in dem er selbst, in den Jahren nach 1939, so selten mit seiner Frau geschlafen hatte, ergriff ihn zum zweitenmal an diesem Morgen ein sonderbares Gefühl von Absurdität. Ja, noch einmal war es ihm, als schiebe sich zwischen ihn und die Dinge, die er sah, eine dünne, transparente Glasscheibe. Die Dinge waren alle dort – und er stand hier und betrachtete sie voller Verwunderung.

Nives gähnte. Träge hob sie den nackten Arm und bedeckte den Mund mit dem Handrücken. Der goldene Trauring war halb begraben in dem fetten, wachsbleichen Fleisch ihrer Hand und kaum zu erkennen.

»Wie spät ist es?« fragte sie schließlich.

»Zwanzig Minuten vor fünf«, antwortete er und sah ihr dabei ins Gesicht. »Ich muß gehen.«

»Du lieber Gott! Und wer weiß, wie kalt es heute ist! Ist es kalt?«

»Nein, nicht sehr. Ich glaube, es wird regnen.«

»Nimm dir ja deinen Tarnregenmantel mit, Edgardo!«

»Er liegt schon im Wagen.«

»Auch deine langen Gummistiefel?«

»Ja, die auch.«

Sie sahen sich in die Augen, während sie miteinander sprachen. Er stand, mit den Händen auf das Geländer des Bettes gestützt, und Nives lag wie immer auf ihrer Seite des Bettes, der rechten. Aber – dies war klar – was sie sagten, war völlig unwichtig. Auch ihr diente es nur dazu, Zeit zu gewinnen. Auch sie prüfte, erwog und überlegte.

»Ich kann einfach nicht verstehen, was für ein Vergnügen es sein soll, im Winter auf die Jagd zu gehen«, sagte Nives. »Noch dazu in diesen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr! Willst du durchaus mit einer Lungenentzündung nach Hause kommen?«

»Aber nicht doch, wieso denn? Man muß sich nur warm anziehen.«

»Hast du wenigstens wollenes Unterzeug angezogen?«

»Ja. Dafür hat Mama gesorgt. Sie hatte mir alles zurechtgelegt.«

Er hatte sich nichts bei diesen Worten gedacht; das hätte er beschwören können. Aber Nives zog ein Gesicht.

»Weil deine Mutter immer für dich sorgen will, hätte ich es für unhöflich gehalten, wenn ich ihr zuvorgekommen wäre«, erklärte sie und nickte dazu mehrmals mit dem Kopf, der voller Lockenwickel steckte.

Glücklicherweise wechselte sie gleich wieder den Ton.

»Wie kann man nur fünf, sechs Stunden hintereinander im Wasser bleiben? Herrgott, du mußt doch einmal daran denken, daß du kein junger Mann mehr bist! Bei dem bloßen Gedanken überläuft es mich eiskalt. Brrr.«

Sie sah ihn lachend an, mit den kleinen grauen, ausdruckslosen Augen blinzelnd. Und als er da so stand und neugierig ihre Augen musterte und darauf die Nase – sie war kurz und gebogen wie der Schnabel eines Raubvogels –, schließlich den Mund mit der fast unsichtbaren dünnen Oberlippe und der dicken aufgeworfenen Unterlippe (ein Mund, von unten nach oben gesehen, ein verkehrter Mund, wie er fand), da wurde sein Erstaunen immer größer. Zwar war er sich vollkommen klar darüber, wie es dazu gekommen war, daß diese Frau vom Lande, zwischen dreißig und vierzig Jahren alt, seine Frau geworden war – und ob er sich klar war! Doch zugleich konnte er es nicht fassen, daß es wirklich so war, wenn er hörte, wie sie da vor ihm die Dame der feinsten Gesellschaft der Stadt spielte, die noch nie einen Fuß aufs flache Land gesetzt hatte, von der Bassa ganz zu schweigen. Das war seine Nives? Wie hieß sie noch mit ihrem – also: Familiennamen? Ach ja: Pimpinati. Pimpinati Nives.

»Wann kommst du heute abend zurück?«

»Ich weiß nicht. Nach fünf.«

»Besuchst du auch deinen Vetter?«

Natürlich war nichts dabei, daß sie ihm eine solche Frage stellte. Denn daß er sich nach beinahe zehn Jahren endlich entschlossen hatte, die Beziehungen zu Ulderico wieder aufzunehmen (wenn auch zunächst nur telefonisch und unter dem Vorwand, ob er ihm nicht jemanden nennen könne, der bereit wäre, ihn zur Jagd in den Valli im Boot zu begleiten – aber das Eis war jedenfalls damit gebrochen), war gewiß kein Geheimnis geblieben! Immerhin mußte ihr die Frage doch in gewisser Hinsicht gewagt und taktlos erschienen sein. Zwar tat sie so, als messe sie dieser Frage kein Gewicht bei, aber er kannte sie zu gut: Wer weiß, was ihr jetzt so durch den Kopf ging. Der arme Ulderico! Wahrscheinlich konnte sie es ihm noch immer nicht verzeihen, daß er 1939 alles getan hatte, um ihm von der Heirat mit ihr abzuraten …

»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Vielleicht.«

»Und wie machst du es mit dem Essen? Wo willst du essen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht in Caneviè … Oder in Codigoro, wie gewöhnlich im Bosco Elìceo. Groß ist die Auswahl ja nicht.«

Sie rümpfte die Nase.

»Bei diesem alten Faschisten Bellagamba?« fragte sie. »Zu diesem Schwachkopf von einem Wirt. Entschuldige bitte, aber dann kannst du doch besser zum Essen zu uns aufs Gut gehen. Du könntest dir von der Frau von Benazzi etwas machen lassen: einen Teller Pasta asciutta, ein Stück Fleisch … Schließlich«, fuhr sie fort, und in ihre Augen kam ein Ausdruck von Härte, und sie sprach nun, als beträfe die Sache sie persönlich, ja weit mehr sie als ihn, »schließlich gehört ja die Montina, wenn ich nicht irre, immer noch uns!«

Worauf wollte sie wohl hinaus?

»Ich weiß, daß ich das könnte«, antwortete er mit einem gewissen Unbehagen und wandte den Blick ab. »Aber wenn ich vielleicht erst um drei Uhr dort hinkomme, oder halb drei, oder vier Uhr, was auch möglich ist, so wären das zu viele Umstände. Für alle Beteiligten. Da esse ich lieber irgendwo unterwegs. Ich werde schon etwas finden!«

»Wie du willst«, gab sie nach und lächelte mit zusammengepreßten Lippen.

»Du mußt ja selber wissen, was du zu tun hast. Trotzdem: Weißt du was? Die Genugtuung, mich von Zeit zu Zeit da draußen, in der Montina, sehen zu lassen, meinetwegen in Begleitung von irgend jemandem, die würde ich mir an deiner Stelle nicht entgehen lassen. Alles schön und gut soweit. Aber weil du immer nur Rücksicht nimmst, weil du nicht stören möchtest, wird das Ende vom Lied sein, daß sich die da allmählich unser Gut aneignen. Und das ohne jeden Streit, du wirst sehen.«

Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder wußte sie nicht, was ihm im April in der Montina widerfahren war, und in diesem Fall hatte sie mit ihrem die da (beim Ansprechen hatten ihre Lippen die Form eines Zirkumflex angenommen, wie er bemerkte) ganz allgemein die Tausende und aber Tausende von Pimpinatis, Benazzis, Callegaris, Callegarinis, Patrignanis, Tagliatis und so fort im ganzen Delta zwischen Ferrara und der Küste gemeint, unter denen es seit mehr als einem Jahr gärte und die immer wieder neue Forderungen an die Grundbesitzer stellten. Oder aber sie wußte Bescheid, und dann bedeuteten ihre Worte die Aufforderung an ihn zu sprechen, sich ihr zu eröffnen und ihr seine Sorgen anzuvertrauen.

Aber gerade diese Aussicht erfüllte ihn plötzlich mit einigem Schrecken. Sich Nives anvertrauen! Und was hätte er ihr eigentlich sagen sollen?

»Hör dir einmal an, was mir gestern abend Ragionier Prearo gesagt hat«, fuhr Nives fort. »Folgendes hat er mir erzählt …«

»Darum geht es ja nicht«, unterbrach er sie. »Aber ich möchte nicht gern noch zehn Kilometer weiter fahren müssen. Und wenn es regnet, riskiere ich obendrein, im Schlamm steckenzubleiben.«

Mit einer jähen Bewegung richtete er sich auf, trat vom Bett und wandte sich zum Gehen.

»Wenn du noch nach fünf unterwegs bist, dann gib auf den Nebel acht, hörst du?« rief sie ihm mit lauter Stimme nach.

Er drehte sich kaum um, mit einer Handbewegung, die sie mahnen sollte, nicht solchen Lärm zu machen.

»Schon gut. Ja, ich habe verstanden.«

Seitdem sie allein schlief, hatte sie sich nach eigenem Geschmack eingerichtet. Auf ihrem Nachttisch standen neben einem Bild der Hilfreichen Madonna, der die Hauptkirche von Codigoro geweiht war, ein kleiner Radioapparat, ihr Nähkorb, die Fotografien ihrer Eltern und ein Kartenspiel. – Warum, fragte er sich im Hinausgehen, lebten sie noch zusammen, warum trennten sie sich nicht endlich?

Draußen, auf dem Korridor, blieb er wieder einen Augenblick unschlüssig vor der Browning stehen. Er sah auf die Uhr (eine goldene Armbanduhr, eine Vacheron Constantin – auch sie ein Andenken aus der Schweiz): Es war vier Uhr achtundfünfzig. Spät, sehr spät, sagte er sich, und trotzdem … Und plötzlich zog er eine Taschenlampe aus der Jackentasche, ließ das Gewehr am Fenstergriff hängen und ging auf das Zimmer seines Töchterchens zu.

Er löschte das Licht auf dem Gang und knipste seine Taschenlampe an; dann drückte er die Klinke nieder und trat leise und behutsam in das Zimmer. Ja, sich trennen – dachte er, während er sich auf Zehenspitzen in dem vagen Geruch von Talkpuder, Schulheften, Kreide und Bohnerwachs, der immer in diesem Zimmer hing, voranbewegte –, Trennung, das war leicht gesagt. Aber praktisch gesprochen: Wie erreichte man sie? Was würde sie allein an Anwaltshonoraren kosten: nicht gerade wenig. Und wie wollte er, der doch zum Habenichts geworden war, die nötigen Summen aufbringen? Schließlich gehört, wenn ich nicht irre, die Montina immer noch uns, hatte Nives gerade gesagt und dabei die Worte irre und uns besonders betont. Wirklich, sie hätte nichts sagen können, was ihn lebhafter daran erinnerte, wie die Dinge tatsächlich lagen.

Aber abgesehen davon – was würde aus Rory werden?

Vor ihrem kleinen Bett blieb er stehen. Fast ohne zu atmen, während ihm das Herz bis zum Halse schlug, richtete er den Strahl seiner Taschenlampe erst auf den kleinen Weihnachtsbaum, der in einem Topf neben dem Kopfende ihres Bettes stand, dann auf ihren kleinen Körper unter der Decke aus weicher rosa Angorawolle. Er fing bei der winzigen Wölbung der Bettdecke am Fußende an und lenkte dann den Lichtstrahl langsam weiter nach oben, bis zu den Schultern und der unteren Gesichtshälfte. Als er Rory betrachtete, immer wieder überrascht, sie so schön, so lebendig und so kräftig zu finden (doch: Ihr Gesicht hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem eigenen, besonders die Augen – nur daß sie größer waren, sie hatte so große Augen! – und dann die Zeichnung des Mundes), überkam ihn auf einmal eine tiefe Beklommenheit, eine unsagbare Verzweiflung, für die es kein Heilmittel gab. Er wußte nicht, warum. Es war, als habe sich jemand plötzlich, schweigend, auf ihn gestürzt; als habe ihn ein wildes Tier gepackt.

Er beugte sich über das kleine Mädchen und drückte leicht die Lippen auf seine Stirn. Dann verließ er wieder das Zimmer und trat zum drittenmal auf den Korridor hinaus. Er drehte den Lichtschalter und blickte auf die Uhr. Es war fünf Uhr fünf. Er nahm die Flinte vom Fenstergriff, hängte sie sich über die linke Schulter und machte sich auf den Weg. Wenige Sekunden später stieg er mit dem Gefühl, sich in einen Brunnen fallen zu lassen, die große, dunkle, spiralförmige Treppe hinab, die zum Hausflur führte.

Der Reiher

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