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4. Kapitel

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Mehr als sich vorsehen und abreisen konnte er im Moment nicht tun. Sagte er sich. Vor der Abreise gab es noch ein paar andere Dinge zu erledigen. Wichtige und unwichtige. Mit der Reisetasche verließ Guderian die Wohnung, ohne Kaffee zu trinken oder gar zu frühstücken, von Telefonaten nicht zu reden.

Nach kurzem Überlegen ließ er seinen Wagen stehen, wo er stand; er näherte sich ihm nicht einmal. Wenn Gustav die Wahrheit sagte – warum sollte er lügen? –, dann konnte jemand in der Nähe des Corolla warten. Oder vielleicht hatte sich schon jemand an der Zündung des Wagens zu schaffen gemacht.

Andererseits: Wenn Gustav auch die Wahrheit sagte, war doch nicht auszuschließen, daß sein Gewährsmann log. Und ganz gleich wie lange Guderian grübelte, er fand keinen Grund dafür, daß ihn jemand auf eine Abschußliste gesetzt haben sollte. Er konnte aber weder für die eine noch für die andere Annahme so etwas wie Gewißheit finden.

Zwei Busse und die Bahn brachten ihn zum Flughafen. Dort, im Gedränge, fühlte er sich ausreichend sicher, um bis zum Abflug der Iberia-Maschine die Zeit mit Kaffeetrinken, Frühstücken, einer Zeitung, Telefonieren und Trödeln zu verbringen.

Das erste Telefonat galt Lorenz Dammel. Der wegrationalisierte oder wegen Überschreitens der Altersgrenze von 50 nicht mehr verwendbare Versicherungskaufmann hatte ihn immer wie einen alten Bekannten behandelt, nicht wie einen lästigen Handlanger. Guderian machte sich keine großen Hoffnungen, von Dammel etwas Substantielles zu erfahren, wollte aber auch nichts unversucht lassen.

Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine Dame mit einem uneindeutigen »Hallo«.

»Spreche ich mit Frau Dammel?«

»Wer will das wissen?«

»Mario Guderian. Ein alter Bekannter von Meister Lorenz.«

»Moment, bitte.«

Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis er die beinahe vertraute Stimme des Mannes hörte.

»Guderian? Ich bin in hohem Maße unzuständig, wenn Sie’s noch nicht wissen sollten.»

»Weiß ich. Muß man Sie dazu bedauern oder beglückwünschen?«

Ein Glucksen. »Fragen Sie meine Frau.«

»Mach ich gern. Sobald wir fertig sind.«

Noch ein Glucksen. »Soll ich Ihnen die Nummer geben?«

»Ah.«

»Genau. Ah.«

Guderian zögerte einen Moment. Dann sagte er: »Die Stimme der Dame eben klang ganz freundlich und irgendwie unverheiratet; also sollte ich Sie wohl beglückwünschen.«

»Von mir aus. Was wollen Sie für mich tun?«

»Was immer ich kann. Hängt von ein paar Fragen ab.«

»Schießen Sie.«

»Ein Kunde. Ist kopflos heimgekehrt, und Ihr Nachfolger ...«

»... der famose Herr Krause?«

»Der nämliche. Krause schickt mich nach Andalusien, um zum Kopf den Kragen zu suchen. Oder so.«

Dammel sagte nichts.

»Fällt Ihnen dazu was ein?«

»Nee. Nicht einfach so. Da müßten Sie schon ein bißchen mehr ausspucken.«

»Ferdinand. Gregor.«

»Scheiße.«

Guderian kicherte halblaut. »Sag ich auch. Jemand hat mich auf eine Abschußliste gesetzt, weil ich mich um Ferdinand kümmern soll. Also, Scheiße unterstreich ich.«

»Wie kommen Sie auf mich?« Dammel klang seltsam gebremst, verdrossen, unwillig.

»Hoffnung. Die lautere Hoffnung. Wir hatten immer einen guten Draht, deshalb wage ich zu hoffen, daß Sie mir etwas sagen können, was mich weiterbringt. Was mir hilft, den Kopf aus dieser Listenschlinge zu ziehen. Ich stehe nicht gern auf Abschußlisten.«

»Verständlich.«

»Außerdem ... Ihr Nachfolger ist ein arrogantes Arschloch, und ich finde nicht, daß Leute Ihres Alters abgehalftert gehören ... »Er sprach nicht weiter.

Dammel meldete sich erst, als die rhetorische Pause ein paar Sekunden gedauert hatte. »Äh ja, hm, danke. Und weiter?«

»Der Verschwundene hat eine sehr teure Lebensversicherung abgeschlossen. Und Krause hat alles, was er mir zu erzählen hatte, säuberlich abgelesen.«

»Hmf. Ha.«

»Das kenn ich von Ihnen anders. Ich nehm also an, es handelt sich um eine Sache, mit der Krause entweder noch nicht sehr vertraut ist, oder mit der er geradezu wahnsinnig vertraut ist, was er aber nicht zugeben will. Könnte es sein, daß dieser Gregor Ferdinand, der sich kopflos für eine Million versichert hat, ein alter Kunde von Ihnen ist? Und daß Sie mir dazu etwas sagen können?«

Dammel murmelte etwas; es klang, als ob er jemanden – wahrscheinlich die Dame, die das Gespräch entgegengenommen hatte – wegzugehen bäte.

Guderian wartete.

»Na ja«, sagte Dammel schließlich. »Unter uns, ja? Sie können mich da nicht zitieren.«

»Hab ich nicht vor. Hauptsache, es hilft.«

»Weiß ich nicht. Müssen Sie selber sehen. Also. Was hat Krause Ihnen gesagt?»

Guderian schloß die Augen. Im Hintergrund hörte er den Lärm des Flughafens und die wie immer unverständlichen Lautsprecherdurchsagen. Sie förderten die Konzentration nur unwesentlich.

Er zählte die Dinge auf, die ihm wichtig erschienen. Als er fertig war, knurrte Dammel leise.

»Hat er Ihnen nichts von der Agentur erzählt?«

»Agentur? Meinen Sie die Reiseagentur?«

»Nein. Es gibt da noch eine. Ich weiß nicht, was die genau macht, aber da scheint es ein bißchen Ärger gegeben zu haben.«

»Inwiefern Ärger?«

Dammel seufzte. »Ich war nicht mehr damit befaßt; das ist passiert, als ich schon zum Abschuß freigegeben war und alle größeren Sachen an meinen edlen Nachfolger zu übergeben hatte. Eine Agentur, die irgendwas mit Ärzten oder Apothekern zu tun hatte und bei der unser Verein sich zunächst mal geweigert hat, die Haftpflicht zu versichern.«

»Mehr können Sie mir aber nicht sagen?«

»Ich würde, wenn ich mehr wüßte. Aber ich bin ja schon eine ganze Weile raus.«

Guderian dankte ihm, legte auf und wählte eine weitere Nummer. Es war die des Hackers, der ihm schnell, beinahe ohne zwischendurch Luft zu holen, Daten und Zahlen nannte. Guderian notierte; er sah voraus, daß ihm der ganze Wust nicht helfen würde, aber am Ende dankte er höflich.

Alle verfolgbaren Zahlungen, Überweisungen, sonstigen Geldbewegungen schienen korrekt zu sein, die Konten waren mehr oder minder im Plus, und größere Transfers ins Ausland – etwa nach Spanien – hatte es nicht gegeben.

Der dritte Anruf, bei der Versicherung. Herr Krause klang ein wenig indigniert, als Guderian sagte, da sei noch die Rede von irgend einer Agentur.

»Wo da?«

»Im Volksmund, gewissermaßen. Angeblich soll es damit Ärger gegeben haben, versicherungsmäßig.«

»Moment mal.«

Es klang nicht, als ob Krause furchtbar wühlen müßte – eher schien er eine Denkpause einzulegen.

»Hier«, sagte er schließlich. »Eh, wo stecken Sie eigentlich?«

»Schon fast in Bilbao.«

»Sehr witzig. Also. Die Agentur nennt sich Loophole ...«

»... wie ein englisches Schlupfloch?«

»Genau. Und sie ist organisatorisch eine Unterabteilung, oder wie man das nennen will, des Touristik-Büros von Herrn Ferdinand.«

»Was schlüpfen oder lochen die denn?«

»Bitte?«

»Diese Agentur – was machen die?«

Krause klang ein wenig pikiert. »Ich glaube, das nennt sich gegenseitiger Versicherungsabgleich oder so. Die bringen Leute zusammen und zahlen zum Beispiel Vorschüsse zu Lebzeiten auf Versicherungen für den Todesfall.«

Guderian pfiff durch die Zähne. »Gibt’s in Amerika, oder? Leute mit AIDS und Krebs, so was?«

»Hm.«

»Kein Ärger?«

Krause sprach durch die Nase, gewissermaßen mit geblähten Nüstern. »Ärger? Nicht daß ich wüßte. Wie kommen Sie darauf?«

»Ach, die braven Gewährsleute. Na gut. Danke, und bis die Tage.«

Der Iberia-Flug von Frankfurt nach Bilbao hatte einige Sitzreihen für eine vom Aussterben bedrohte Spezies vorgesehen, Raucher; von Bilbao (wo alle Passagiere aussteigen mußten, um die zweisprachigen Hinweisschilder des Abfertigungsgebäudes zu bewundern) nach Sevilla war dieselbe Maschine ein nikotinfreies Vehikel für Inlandsflüge.

Guderian als Nichtraucher und Nichtbaske hätte im Zweifel lieber unparfümierten schwarzen Tabak geschnüffelt als baskische Brocken entziffert; ihn beschäftigte Gustavs karge Mitteilung aber so sehr, daß er nichts ans Schnüffeln dachte.

Mario Guderian stand also auf jemandes Abschußliste, und Gregor Ferdinand hatte auf einer gestanden, war aber gestrichen oder erledigt oder begnadigt. Tot, wahrscheinlich. Eine Liste, für die Spanier zuständig waren – in Spanien? In Deutschland? Beides? Jemand setzt Ferdinand auf eine Liste, streicht den Namen nach dem Ableben, setzt Guderian auf die Liste, der sich um das Ableben kümmern soll – ergab das Sinn? Irgendwie; aber sehr irgendwie.

Und warum war Gustav so wortkarg gewesen? Hatte er ihn selbst auf die Liste gesetzt? Kaum. Wenn es Gustavs Liste wäre, hätte der Kroate es Guderian gesagt. Oder nicht erst mit ihm gesprochen, sondern gleich geschossen. Oder die Hunde losgelassen. Die Hunde gefüttert.

Er bemühte sich, in den ihm bekannten Gremien der Halb- und Unterwelt von Frankfurt und Umgebung jemanden zu finden, vor dem Gustav Angst haben könnte. Oder zumindest soviel Respekt, daß er eine Bitte oder Weisung, nichts Genaues zu sagen, so strikt befolgte.

Denn darauf lief es hinaus: Jemand, der mehr Muskeln, Geld oder Leute hatte als der Kroate, mußte Mario auf eine Abschußliste gesetzt haben. Spanier vielleicht – aber wer? Gustav hatte es erfahren, als er sich nach Informationen über Gregor Ferdinand umtat. Die logische Annahme war die, daß Guderians Kopf mit dem von Ferdinand verbunden war; sie überzeugte aber nicht ganz. Genauso gut mochte jemand, der wußte, daß Gustav Guderian kannte, sich an diesen gewandt haben: »Eh, hör mal, du kennst doch ...« Die andere, wahrscheinlichere Verknüpfung amüsierte Mario nicht besonders. Nicht mehr als die unwahrscheinlichere.

Andalusischer Abgang

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