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1. Kapitel
Оглавление»Wissen Sie, was der Kopf eines Erwachsenen wiegt?«
Mario Guderian dachte flüchtig an Sülze und andere Dinge, die er lange nicht mehr gegessen hatte; dann konzentrierte er sich wieder auf das Gespräch. Die Stimme am Telefon, die diese aparte Frage stellte, gehörte einem Menschen, der sich mit dem Namen Krause gemeldet und gesagt hatte, er sitze in der Zentrale der Versicherung.
Guderian brauchte nicht zu fragen, welche Versicherung gemeint war. Bisher hatte er es dort immer mit einem Herrn Dammel zu tun gehabt, und meistens war es darum gegangen, Zweifel hinsichtlich bestimmter Forderungen auszuräumen oder zu erhärten. Vermutlich war Dammel krank, oder man hatte ihn in eine andere Abteilung versetzt.
»So um die fünf Kilo – schätzungsweise. Aber ich bin kein Anatom. Warum?«
»Ich brauche Sie ja auch nicht als Anatom, sondern als Detektiv. Wann können Sie herkommen, und wann können Sie reisen?«
Guderian bedachte seinen Kontostand und den ebenfalls fast leeren Terminkalender. »Kommt ein bißchen drauf an. Worum geht’s denn diesmal?«
»Ein Kunde, in Urlaub gefahren und nicht zurückgekommen, beziehungsweise« – hier machte Herr Krause eine bedeutungsschwangere und rhetorisch bedenkliche Pause – »unvollständig und leblos.«
Guderian schnalzte. »Ohne Kopf etwa?«
»Genau. Und der Körper ohne Kopf wog dreieinhalb Kilo mehr als der vollständige Kunde zu Lebzeiten. Macht uns ein bißchen mißtrauisch.«
»Wohin soll’s gehen?«
»Andalusien. Sie sprechen doch Spanisch, wenn das in den Papieren hier stimmt.«
»Wie eilig ist es?«
»Lieber gestern als heute, und viel lieber heute als morgen.«
»Ich sortiere ein paar Dinge und rufe Sie zurück in ... sagen wir zwei Stunden?«
Das war am Freitag gewesen. Er hatte zurückgerufen, ohne in der Zwischenzeit viel mehr als seine Wäsche zu sortieren, mit der er morgens einen Spaziergang zum Waschsalon unternommen hatte. Viel zu sortieren gab es bei ihm ohnehin nicht; er betrachtete seine Zweizimmerwohnung (Büro inklusive) in einer von Studenten und »seßhaften Gastarbeitern« belebten Ecke von Sachsenhausen als Übergang und hielt sie entsprechend karg.
Und nun, am Montag, stand er in dem noblen Wolkenkratzer aus Glas und Beton in einem noblen Büroraum – nicht jenem, in dem Herr Dammel ihn bisweilen mit Kaffee und Cognac begrüßt hatte – und musterte Herrn Krause.
Der Mann hinter dem Schreibtisch aus blendend poliertem Teak trug einen Armani-Anzug, und die Krawatte sah aus, als hätten handverlesene und vermutlich bucklige Chinesinnen das Rohmaterial handverlesenen und vermutlich buckligen Seidenraupen aus dem After gezupft. Oder gewrungen. Guderian fragte sich, ob der Knabe da je bedacht hatte, daß dies Objekt im Gegenwert von 200 DM nichts war als Raupenschiß. Wahrscheinlich nicht; so, wie er aussah, dachte er auf der Sonnenbank an Blondie und auf Blondie an die Gewinnbeteiligung.
Am Telefon hatte die Stimme älter geklungen als die eines 30jährigen; Guderian nahm an, daß Krause zu denen gehörte, die als Greise auf die Welt kommen und das Leben als gewinnbringenden Sinkflug in Richtung Senilität absolvieren, ohne sich mit Kleinigkeiten wie Sonnenuntergängen, Berauschungen oder Fernweh aufzuhalten.
»Ist Herr Dammel nicht mehr im Rennen?« sagte Guderian, sobald sie die aufwendige Begrüßung – gegenläufiges Nicken – erledigt hatten. Dabei bedachte er, daß Krause ihn wohl mindestens ebenso nebensächlich oder widerwärtig fand wie umgekehrt.
Mit dem manikürten Nagel des Zeigefingers tippte Krause auf einen Papierstapel, der in genau proportionierten Abständen zu den Schreibtischkanten vor ihm lag. »Er hat saubere Unterlagen hinterlassen; ich habe schon gesehen, daß Sie gute Arbeit für uns geleistet haben.« Er deutete auf den Sessel (Stahlrohr und Wildleder) vor dem Schreibtisch.
Guderian setzte sich. »Klingt wie ein Nachruf auf mich und auf Ihren Kollegen. In einem Atemzug.«
»Sie werden noch gebraucht, und der Kollege Dammel ist aus Altersgründen ausgeschieden. Soweit ich weiß, geht es ihm gut.«
Krause blickte ein wenig mißmutig; der Mißmut mochte sich darauf beziehen, daß Guderian sich nun in Jeans und kurzärmeligem Khakihemd in dem noblen Sessel fläzte, oder auf die Erwähnung des Kollegen. Dammel konnte noch keine fünfzig gewesen sein.
Guderian, der im Herbst vierzig werden würde, runzelte kurz die Stirn.
Krause nahm einen Umschlag aus einer Schublade des Schreibtischs. »Zuerst die Formalitäten. Ihr Flugticket und fünftausend Mark.« Er warf Guderian den Umschlag zu. »Zehn Tagessätze, wie vereinbart. Wenn Sie die Sache schnell klären können, werden wir das mit den Spesen verrechnen; wenn Sie länger brauchen ...« Er hob die Schultern.
»Erzählen Sie mir möglicherweise ein bißchen mehr als am Telefon?«
Krause schloß die Schublade, aus der er den Umschlag genommen hatte, und öffnete eine zweite.
»Die Unterlagen.« Er klappte den giftig-orangen Aktendeckel auf, der einen etwa zwei Zentimeter dicken Stoß von Papieren, Zetteln und Fetzen enthielt. Und ein Foto, das Krause mit spitzen Fingern anhob und Guderian reichte.
»Gregor Ferdinand«, sagte er.
Guderian betrachtete das Farbbild des Mannes, dessen Leichnam die Lebensversicherung zu interessanten Zweifeln inspirierte. Es war ein sattes und dabei karges Gesicht, die beherrschte Maske eines Erfolgsmenschen, der alle notwendigen Dinge besessen hatte und ein paar überflüssige dazu. Das Gesicht eines Mannes, der gut gelebt hatte, einiges von Fitness hielt und nun tot war. Vermutlich jedenfalls. Wohlgenährt, gepflegt, getönt – Sport oder Studio? –, und dazu muskulöse Straffheit. Gerade Nase, schmale Lippen, graublaue Augen, nichts Besonderes.
»Zweiundvierzig«, sagte Krause. »Eins fünfundsiebzig groß, wog vor seinem Aufbruch zu einem Kurztrip nach Andalusien um die fünfundsiebzig Kilo ...«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Auskunft seiner Frau, bestätigt von seinem persönlichen Fitness-Trainer.«
»Hm.«
»Wie schon am Telefon gesagt: Seine Leiche wurde in der Nähe von Córdoba gefunden. Falls es seine Leiche ist – ein Leichnam ohne Kopf.«
»Fingerabdrücke?«
Krause rümpfte die Nase. »Liegen nicht vor. Der Mann ist nie mit der Polizei ins Gemenge geraten. Er war gesund, deshalb gibt es keine Gewebeproben in irgendwelchen Labors. Kein Sperma auf der Samenbank, nichts. Auch keine Kinder, aus deren genetischem Material man das des Vaters erschließen könnte.«
Guderian nickte. »Und kein Kopf, also kein Gebiß.«
»Sie sagen es. Die Witwe – eh, die mutmaßliche Witwe ist nach Spanien geflogen, um ihn für die Polizei in Córdoba zu identifizieren.»
»Hat sie das getan?«
»Sie hat, soviel ich weiß, ein paar Blicke auf Hände und Füße geworfen.«
»War der Leichnam schon reifer?«
»Er hat zwei oder drei Tage im Wasser gelegen, zuerst mal.« Krause schloß einen Moment die Augen.
»Und danach hat es noch ein bißchen gedauert, bis man ihn ins Gefrierfach stecken konnte, was?«
Krause verzog das Gesicht. »Ihn zu identifizieren ist also schwierig. Aber wir möchten es trotzdem zu gern genauer wissen.«
»Wieviel hielt er von sich?«
Krause stutzte; dann lächelte er kaum sichtbar. »Ah, das meinen Sie. Er hielt viel von sich, ja; eine komplette Million.«
»Guter Grund für ein paar Zweifel.«
»Zwei Prozent für Sie, wenn wir nicht zahlen müssen.«
Guderian grinste. »Fünf.«
Krause hob die Schultern, verdrehte die Augen und stöhnte leise. »Feilschen können wir später«, sagte er. »Erst die Einzelheiten.«
Er preßte den Nacken gegen das feine narbige Leder seines Chefsessels und peilte einen imaginären Punkt eine Handbreit über Guderians Kopf an. Dann räusperte er sich, senkte den Blick auf die Papiere und begann zu reden. Beziehungsweise vorzulesen.
Er sprach konzentriert und druckreif, fast fünf Minuten lang; er schien seine Hausaufgaben gründlich gemacht zu haben, dachte Guderian, aber bei dem Preis ... Während er lauschte, fragte er sich, wieviel Prozent Krause bekommen würde, falls die Versicherung tatsächlich nicht zahlen müßte.
Gregor Ferdinand hatte sein erstes Päckchen Geld in einer Bank und an der Börse verdient; es klang wie eine der typischen Yuppie-Karrieren aus den frühen Achtzigern. Mit eigenem Geld und dem einiger seiner hochmögenden Frankfurter Kunden beteiligte er sich an einer kleinen, aber feinen Werbeagentur, spezialisierte sich auf PR-Beratung – Krause (oder Ferdinand?) sprach von personality profile, und Guderian bildete sich ein, im Hintergrund die Fanfaren des Ruhmes zu hören – und zahlte nach etwas mehr als zwei Jahren seine bisherigen Partner aus.
Zugleich steckte er einen größeren Betrag in ein kleineres Reisebüro, das allerlei Spezialangebote für Geschmäckler und Prominente austüftelte: Besichtigung der Chinesischen Mauer mit einem mongolischen Lama als Führer und anschließendem intimen Abendessen mit zwei Ministern, die gern über joint ventures reden wollten; eine dreiwöchige Tour durch sämtliche Luxusbordelle Südostasiens (mit garantiertem Zugang zu den jeweils herrschenden Kreisen und dem zusätzlichen Anreiz, daß zehn Prozent der »Lustgebühren« von den Etablissements als dividendenberechtigtes Beteiligungskapital betrachtet wurden); andere interessante Kombinationen aus Touristik und Investment, zum Beispiel die Anlage eines steuersparenden Golfclubs irgendwo bei Málaga ...
»Aber ich muß Sie jetzt nicht mit jeder einzelnen kleinen Firma behelligen, in der er Finger stecken hatte, oder?«
Ein weiteres Päckchen Geld hatte Ferdinand geheiratet: Seine Frau Marina, 38, brachte als einziges Kind eines inzwischen verstorbenen Notars aus Königstein ein halbes Dutzend Häuser in besten Taunuslagen mit.
Als Krause fertig war, schüttelte Guderian langsam den Kopf.
»Alle Achtung. Das klingt, als ob der gute alte Midas von ihm etwas hätte lernen können.«
»Wer ist das?«
Guderian zuckte mit den Schultern. »Ein Kollege von Onassis. Sagt die Polizei etwas dazu? Die in Córdoba?«
Krause blätterte. »Der zuständige Mensch heißt, uh, Carmona. Omar Carmona. Ich nehme an, Sie wollen mit ihm reden, nicht wahr? Sollen wir Sie ankündigen?«
»Nein, das mache ich selbst. Ein schriftlicher Auftrag von Ihnen, mit dem ich mich ausweisen kann, ist ja dabei. Telefonnummern und so was auch, nehme ich an.«
»Natürlich. Also, die Polizei sagt nicht viel. Es steht alles in den Unterlagen, die Sie mitnehmen können. Nicht die Originale, die kriegen Sie nicht, aber einen vollständigen Satz Kopien.« Krause klopfte auf den Inhalt der orangen Mappe.
»Was ist da drin?«
»Aufzeichnungen der Reise. Hotelrechnungen, Restaurants, Mietwagen, derlei. Sieht ziemlich vollständig aus. Belege für alles, wofür er seine Kreditkarten eingesetzt hat.«
Guderian nahm die Mappe, die Krause mit spitzen Fingern über den Schreibtisch schob. Schweigend blätterte er eine Weile; schließlich hob er die Augen von den Papieren, traf Krauses undeutlich geringschätzigen Blick und sagte:
»Sieht alles ein bißchen sehr vollständig aus. So schnell rechnen doch die Kreditkartenleute sonst nicht ab.«
Krause hüstelte. »Sie wissen, wir haben da unsere Mittel und Wege ...«
»Was ich nicht verstehe: das Motiv. Für einen Versicherungsbetrug, für Ihre Zweifel. Der Mann hat Knete bis zum Abwinken; Sie haben offensichtlich alles überprüft, nicht wahr? Seine diversen Unternehmen sind gesund, er hat keine nennenswerten Schulden, also warum sollte er den eigenen Tod vortäuschen? Für eine Million, wenn er doch schon mehrere hat?«
»Wer hat schon je genug?«
»Und die Frau ... Warum sollte sie ihn umbringen lassen, wenn’s denn das wäre? Sie hat eh die Hälfte von allem und kann weitermachen, auch ohne amtliche Bestätigung des erfolgreichen Ablebens des Gemahls. Sieht doch alles so aus, als hätte niemand was davon; wozu sollte also jemand daran drehen?«
Krause nickte; ein wenig grämlich sagte er: »Nennen wir es meine Nase. Das ist alles zu sauber, wenn Sie verstehen, was ich meine. Mich stört der nicht eindeutig identifizierbare Leichnam.« Er machte eine kurze Pause, faltete die Hände auf dem Schreibtisch und beugte sich vor.
»Und?« sagte Guderian.
»Und mich stört, daß der auf Fitness bedachte Mann, wenn er es denn ist, keine zehn Tage nach dem Aufbruch zur Reise drei Kilo mehr wiegt, und zwar ohne Kopf, als vor dem Aufbruch intakt.«
»Noch einmal: Was sagt die Polizei? Davon steht nämlich nichts hier, wenn ich mich nicht irre.«
»Sie gibt sich damit zufrieden, daß die spanischen Kollegen die vorgeschriebenen Papiere ausgefüllt haben. Und daß die Witwe keine Anzeige gegen Unbekannt erstattet.«
»Keine Obduktion?«
Krause schnaubte. »Obduktionen dienen in der Regel dazu, die Ursache für ein jähes Ableben zu klären. Meinen Sie, Enthauptung mit einem scharfen Gegenstand wäre als Todesursache nicht eindeutig genug?«