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2. Kapitel
ОглавлениеMario Guderian war Jahrgang 1959, hatte ein unauffälliges Abitur gebaut und mit den halblinken Eltern gebrochen, indem er sich freiwillig zu den Waffen des Vaterlands meldete: Grenzschutz. Nach Sandkastenspielen mit der GSG 9 und Turnübungen (teils im damals noch feindlichen östlichen Ausland) mit dem BND war er aus Langeweile ausgeschieden und zu einem privaten Personen- und Objektschutz gegangen, der ihn Ende der 80er unter anderem als Bodyguard für edelblasierte Stern- und Spiegel-Reporter einsetzte, die in El Salvador und Nicaragua vorgefaßte Meinungen durch sogenannte Recherchen unterfüttern wollten. Nach Heimreise der Journaille sah er sich noch ein wenig um, beschaute vor allem die garstige Arbeit seiner amerikanischen Kollegen; eine junge Dame von der CIA ergänzte im Verlauf einer stürmischen Sechs-Wochen-Romanze (San Salvador – Managua – México D.F. – Guadalajara – Pátzcuaro – El Paso) seine undeutlichen Einzelheiten durch deutliche Anspielungen.
Wieder heim ins größere Deutschland, zuerst zurück zur alten Firma, danach nicht ganz drei Jahre Arbeit als »Sicherheitsberater« und de facto Babysitter für deutsche Millionäre, die einen Club nahe bei Estepona in Andalusien unterhielten und ihn zur Erledigung dubioser Geschäfte nach Paraguay schickten. Ein paar wilde Monate – »Rumtitschen« nannte er es – in Patagonien und Umgebung; es endete mit dem riskanten Versuch, bestimmte Leute aus der kerndeutschen Colonia Dignidad in Chile herauszuholen. Und schließlich, die letzten Jahre, die Arbeit als Privatdetektiv nicht nur, aber vor allem für Versicherungen im Großraum Frankfurt.
Er hatte längst aufgehört, über den Unterschied zwischen Job und Lebensinhalt nachzudenken. Er wußte, daß er nicht ganz schlecht war in dem, was er tat, daß er es aber nie zur Arbeits- oder Lebenseinstellung eines korrekten Bildhauers oder artistischen Rechtsanwalts bringen würde.
Einer Freundin, die nach seiner Lebensplanung fragte, hatte er schnippisch geantwortet, für die Planung sei der Zufall zuständig. Erst später begriff er, daß ihr mehr an ihm lag. Gelegen hatte; auch das war vorbei. Inzwischen war sie verheiratet, und auf die Geburtsanzeige des ersten Kinds hatte sie »ach, Mario« geschrieben.
Er bedauerte nicht, und von Reue konnte schon gar keine Rede sein. Derlei hätte Introspektion verlangt, von der er nichts hielt. Er kannte sich gut genug, um sich nicht besser kennen zu wollen. Die Monster in der Tiefe schlafen lassen ... Lesen, hin und wieder eine Kurzzeitbeziehung – drei Monate war der Längenrekord –, die nicht viel Gemüt erforderte.
Und die periodische Auffüllung des Kontos. Der neue Auftrag, so schräg er sein mochte, kam gerade recht; während er am Schreibtisch saß und das Bündel Banknoten betrachtete, ging er im Geist die Liste der Leute und Lokale durch, denen er kleinere Beträge schuldete.
Eine andere Abteilung seines Gehirns befaßte sich halbautomatisch mit den Aspekten des Falls. Er schwankte eben, ob er sich mit der Witwe ins Benehmen setzen sollte, die ihm vielleicht noch mehr Details nennen, vielleicht aber auch etwas vortrauern würde, als das Telefon klingelte.
Es war eine angenehme, kühle Altstimme. Sie sagte »Hier ist Marina Ferdinand«; dann machte sie eine Pause.
Guderian fiel nichts anderes ein als: »Ah.«
»Ich habe eben von der Versicherungsgesellschaft erfahren, daß man Sie mit den Nachforschungen beauftragt hat.«
»So ist es, gnädige Frau. Ich überlegte gerade, ob ich Sie anrufen soll.«
»Könnten Sie möglichst bald zu mir kommen, um ein paar Dinge zu besprechen?«
Durch den Salon, in dem ihn Marina Ferdinand empfing, hätte die US-Kavallerie eine Postkutsche eskortieren können. Für Indianer wäre allerdings kein Platz mehr gewesen.
Die Witwe trug eine hauchdünne schwarze Seidenbluse, einen hautfarbenen Rock aus Rohseide und elegante schwarze Sandalen mit kaum daumendicken Absätzen. Sie stand neben dem Flügel, auf dessen verschlossenem Deckel sie eben frische Blumen in drei Vasen arrangierte.
»Herr Guderian, vermute ich.«
Er nickte, und da sie keine Anstalten machte, ihm entgegenzukommen und eine ihrer zweifellos teuren Hände zu vergeben, blieb er zunächst neben der Kante des weitläufigen Seidenteppichs stehen.
»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Sie deutete auf die Gruppe schwarzer Ledersessel. »Kaffee oder Tee?«
Das philippinische Hausmädchen, das ihn durch die Gefilde namens Diele geleitet hatte, deutete einen Knicks an, als Guderian »Kaffee, bitte« sagte.
Frau Ferdinand stand immer noch neben dem Flügel. Guderian ließ sich in einem ächzenden Pfühl aus weichem schwarzen Leder nieder und schaute zu ihr auf. Vielleicht war es das, was sie wollte – was sie haben wollte, dachte er. Jemanden, der zu ihr aufschaut.
Der Anblick war keineswegs unerfreulich. Sie war schlank, sah eher nach Anfang als nach Ende 30 aus, und die feinen Schatten unter den Augen – wie zum Zeichen der Trauer hingetupft – mochten ebenso Nachwirkungen einer mit erotischer Gymnastik statt Witwenschlummer verbrachten Nacht sein. Einen Moment lang kaute sie mit kleinen, weißen Zähnen auf der Unterlippe, ehe sie sich an den Flügel lehnte, die Arme vor der Bluse verschränkte und sagte:
»Danke, daß Sie so schnell gekommen sind.«
»Es klang ja so, als ob es Ihnen dringend wäre.« Er versuchte ein knappes, eher höfliches Lächeln. »Mir auch, da ich morgen fliege.«
»Nach Sevilla?«
»Ja.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich will versuchen, alles zu sehen, was Ihr Mann gesehen hat. Die Strecke, die Städte, die Hotels, die Restaurants. Mit Leuten reden, die sich vielleicht an ihn oder ihn betreffende Vorgänge erinnern.«
Sie schwieg.
Nach kurzem Zögern sagte Guderian: »Vor allem will ich versuchen herauszufinden, ob er unterwegs so viel gegessen hat, daß dieses seltsame Gewicht erklärbar wird.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nicht erklären. Er hat immer gern gegessen, aber sehr maßvoll. Und sich fit gehalten.« Dann schloß sie die Augen. »Acht Kilo, in acht Tagen«, murmelte sie. »Ich weiß nicht ...«
Guderian räusperte sich. »Sind Sie denn wirklich ganz sicher, daß es Ihr Mann ist?«
»Was soll ich sagen? Ja, bin ich, wegen einiger Einzelheiten – die Form der Finger und des Nabels; oder nein, bin ich nicht, weil alles unkenntlich aufgedunsen war und der Kopf fehlt.«
Guderian lauschte mehr ihrem Tonfall als den Wörtern. Sie schien gefaßt, und er sagte sich, daß die Wochen, die seit dem schrecklichen Fund, dem Transport, der Identifizierung vergangen waren, vermutlich ausreichten, um einem Fremden gegenüber gefaßt und diszipliniert zu sprechen. Vor allem, da sie, wie sie am Telefon gesagt hatte, mit ähnlichen Problemen rang wie die Versicherung. Problemen, bei deren Lösung er helfen sollte.
»Gewißheit«, sagte sie leise. »Damit das Leben weitergehen kann.«
»Ich weiß nicht so recht, wonach ich zu suchen habe.«
Guderian wartete, bis die Filipina ihm Kaffee in die Meißener Tasse (Weinlaub) gegossen hatte. Mit einer silbernen Zange nahm er Zucker aus dem silbernen Töpfchen, goß ein wenig echte Sahne aus dem Silberkännchen, rührte mit einem winzigen Silberlöffel und trank vorsichtig, um sich nicht die Zunge zu verbrennen. Er würde sich aber, dachte er, in diesem Salon schon den Mund verbrennen müssen, wenn er etwas Faßbares erfahren wollte.
»Die Versicherung möchte wissen, ob Ihr Mann wirklich tot ist; andernfalls wird sie nicht zahlen. Sie möchten Gewißheit haben, um weiterleben zu können, wie Sie sagen. Und ich ...« Er zögerte.
Frau Ferdinand stieß sich, beinahe mühsam und widerstrebend, vom Flügel ab und kam zur Sitzgruppe. Guderian empfand den Gang eher als ein Schweben, und sie setzte sich nicht, sondern glitt oder ergoß sich in den Sessel.
»Sie brauchen keine Rücksicht zu nehmen.« Sie strich den Rock glatt, bis er einen Teil der Knie bedeckte, und faltete die Hände im Schoß. »Das ist ja kein Kondolenzbesuch. Was wollen Sie wissen?«
»Wenn Ihr Mann tot ist, müßte es dafür Gründe geben. Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, daß jemand – Pardon – einfach so zum Spaß geköpft wird. Ein zufälliges Verbrechen ... was in den USA random shooting heißt, hm, ich meine, das läßt sich nie ausschließen, aber dann hätte man vermutlich einen kompletten Leichnam gefunden.«
Sie nickte. »Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Jemand muß einen Grund gehabt haben, meinen Mann zu ermorden. Und Sie fliegen nach Spanien, um da entweder einen lebenden Gregor Ferdinand zu finden oder jemanden, der ein Motiv gehabt hätte, ihn zu töten.«
»Was ist mit den Geschäften?«
Sie hob die Brauen. »Ich nehme an, die Versicherung hat Ihnen alles mögliche an Unterlagen zusammengestellt. Dann wissen Sie auch, daß alles so weit ... gedeiht.«
»Ein hübsches altes Wort.«
»Ja, nicht wahr?« Das flüchtige Lächeln galt nicht ihm, sondern dem Nachhall des erlesenen Verbs.
Guderian leerte seine Tasse. »Ein vorzüglicher Kaffee, nebenbei.«
»Jamaica Blue Mountain.«
Er wies auf die Silberkanne. »Darf ich?«
»Bitte.«
Sie machte keine Anstalten, ihm den Kaffee einzugießen. Er wußte, was er für sie war: Ein Teil der Gruppe namens Domestiken, von besseren Menschen zu bestimmten Zwecken abgerichtet und gehalten.
»Der teuerste Kaffee, den es überhaupt gibt«, sagte er. »Dieses Haus am Taunushang und Blue Mountain und der Seidenteppich und Immobilien und das Reisebüro und die PR-Agentur ... Bestimmt habe ich was vergessen, aber man könnte den Eindruck haben, daß Sie die Million von der Versicherung nicht dringend brauchen.«
Sie verzog keine Miene. »Brauche ich nicht, richtig – aber mein Mann hat teure Prämien gezahlt, also muß ich das auch nicht verschenken.«
»Außerdem kommt die zehnte Million vor allem daher, daß man auf die neunte nicht verzichtet, oder?«
Frau Ferdinand hob die Hand vor den Mund, um ein Gähnen eher anzudeuten als zu verbergen. »So sagt man. Es geht mir aber in erster Linie darum, zu wissen, ob er wirklich tot ist. Die Geschäfte sind alle so organisiert, daß ich sie mit Hilfe seiner Mitarbeiter eine Weile weiterführen kann, aber irgendwann sind sicher Dinge zu entscheiden, für die entweder seine Gegenwart nötig ist oder sein ... sein amtlich beglaubigtes Ableben.«
»Sie klingen recht kühl. Wenn ich das sagen darf.«
»Ich kann Sie nicht daran hindern. Aber was erwarten Sie? Daß ich in den Teppich beiße oder Ihr scheußliches Khakihemd mit meinen Tränen benetze?«
Guderian lachte. »Ich bin heute großzügig und erlasse Ihnen das. Können Sie mir noch etwas Hilfreiches sagen?«
Sie schob die Unterlippe vor. »Was heißt hilfreich? Haben Sie alles an Unterlagen gekriegt, was die Versicherung über seine Reise hat?«
»Ja. Glaube ich jedenfalls.«
»Route? Hotels? Ziele?«
»Mhm. Es sei denn, Sie wüßten noch etwas, was nicht in den Unterlagen und seinen Notizen steht.«
»Nein.« Sie blickte an ihm vorbei, aus dem Fenster auf den gepflegten Garten. Durch die offene Tür zur Terrasse hörte Guderian Vögel zwitschern. Oder kreischen, je nach Geschmack. »Können Sie überhaupt Spanisch?«
»Sonst hätten die mich kaum angeheuert.«
»Ohne Sprachkenntnisse wären Sie da unten auch ziemlich hilflos. Was haben Sie denn früher gemacht?«
»In einem anderen Leben? Oder bevor ich angefangen habe, für Versicherungen zu arbeiten?«
»Seien Sie nicht albern.«
»Warum nicht? Mögen Sie das nicht?«
Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, daß sie ihn tatsächlich anschaute, vielleicht sogar wahrnahm.
»Alles zu seiner Zeit. Im Moment ist mir eher nach Ernsthaftigkeit«, sagte sie. »Also, was haben Sie vorher gemacht?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
Sie lächelte eisig. »Nicht aus Interesse an Ihrer Person oder Ihrem Charakter. Nein, ich möchte einfach ein wenig mehr wissen, damit ich mir ein Bild von Ihnen machen und entscheiden kann, ob ich Ihrem Andalusien-Trip mit oder ohne Hoffnung entgegensehen soll.«
»Was zahlen Sie mir? Davon haben wir noch nicht gesprochen.« »Was ist Ihr normaler Satz – so nennt man das doch, oder? Und was kriegen Sie von der Versicherung?«
»Fünfhundert pro Tag.«
»Ah ja.« Sie runzelte die Stirn. »Und mit wieviel Zeit rechnen Sie?«
»Kann ich nicht sagen. Ich werde wahrscheinlich die ganze Route abfahren müssen – also mindestens so lange unterwegs sein wie Ihr Mann. Acht Tage, zehn Tage? Kommt drauf an, was ich dabei rauskriege.«
»Sagen wir geschätzte zwei Wochen. Siebentausend von der Versicherung? Ich zahle Ihnen fünf pro Woche, also zehn für zwei Wochen. Und für jeden weiteren sinnvoll nachgewiesenen Tag noch mal tausend.«
Guderian pfiff leise. »Arg üppig. Und was erwarten sie dafür von mir?«
»Daß Sie zuerst mich und danach die Versicherung informieren, wenn Sie etwas ... Relevantes finden.«
»So weit kein Problem.« Er räusperte sich. »Was mich angeht – ich war bei den Verteidigern des Vaterlands, danach diverse Kampfsportgeschichten und Sicherheitsjobs. Aufpasser für Millionäre, die einen Club in Andalusien unterhalten. Für die war ich auch in Südamerika – Paraguay, wenn Sie’s genau wissen wollen. Falls Sie Referenzen brauchen: Der Sekretär des Clubs heißt Meininger, Fred Meininger; sitzt normalerweise in Frankfurt.«
Sie winkte ab. »Ich bin ihm mal bei einem Empfang der Deutschen Bank begegnet. Danke.« Sie stand auf. »Das wär’s wohl im Moment, nicht wahr? Ah, eine blöde Frage. Guderian ... Sind Sie mit Hitlers Panzerchauffeur verwandt?«
»Um drei Ecken.«
Sie geleitete ihn zum Ausgang aus dem Salon. Dabei sagte sie, wie nebenher: »Haben Sie schon eine Meinung zu dem Ganzen?«
Er blieb stehen und sah sie von der Seite an. »Nicht direkt.«
»Soll heißen?«
»Wenn die Geschäfte nicht so gut gingen bei Ihnen beziehungsweise Ihrem Mann, läge der Gedanke an Versicherungsbetrug nahe. Eine Leiche mit Übergewicht und ohne Kopf ... Ist in Andalusien im Zweifel für weit weniger als eine Million aufzutreiben. Aber ich sehe im Moment auch kein Motiv für einen Mord. Es sei denn, Ihr Mann hätte in Spanien wilde Dinge angestellt.«
»Finden Sie es heraus. Ich gebe Ihnen einen Scheck über zehntausend mit, für die beiden ersten Wochen. Einverstanden?«
»Mit Geld immer.«