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8. Kapitel

Heute muss Christian allein zu Mittag essen. Seine Mutter hat einen Arzttermin. Und der Vater isst außer Haus. Rainer Schneider ist sehr beschäftigt. Der tüchtige Geschäftsmann will vor dem Urlaub noch den Scheunenladen mit Kartoffeln und Äpfeln bestücken, außerdem Petersilie, Winterrettich, Feldsalat, Kopf- und Pflücksalat säen. Es gibt neun verschiedene Kartoffelarten im Scheunenladen, sogar blaue. Rainer Schneider ist sehr stolz auf seine Kartoffelvielfalt.

Marie Schneider hat den Mittagstisch für den Sohn in der Küche eingedeckt. Die Familie benutzt das Esszimmer nur an besonderen Tagen wie Geburtstage, Weihnachten, Silvester und Ostern. Das ist im Alltag bequemer so. Ein Glas mit frisch gepresstem Apfelsaft steht neben dem Teller mit dem Hahn und Henne Motiv. Auf der weißen Papierserviette liegt das silberne Essbesteck mit dem Wellenmuster.

Christians Kosename ist eingraviert: ‚Chrissie’.

Die beiden i sind mit einem kleinen Herz verziert. Neben dem Namen steht aufrecht ein Pinguin. Christian hat das Besteck von Opa und Oma zur ersten heiligen Kommunion geschenkt bekommen. Sogar eine Obstgabel ist dabei. Christian ist sehr stolz auf das kostbare Besteck, das er jeden Tag benutzen darf.

Die fürsorgliche Mutter hat das Glas mit einem Bierdeckel abgedeckt, wegen der Fliegen. In diesem Jahr gibt es besonders viele. Es ist ein Mückenjahr, meint Frau Müller, weil es so feuchtschwül ist. Und Christian hofft, dass Frau Müller deswegen den ganzen Sommer über ihre Fenster geschlossen hält.

Am liebsten wäre es ihm, wenn es immer feuchtschwül wäre, das ganze Jahr über. Und Frau Müller die Fenster nie wieder öffnen und auch für immer in der Wohnung bleiben würde. Nach solchen Gedankengängen fühlt sich Christian oft schuldig und gemein. Dann legt er Frau Müller still und leise einen kleinen Strauß mit Gänseblümchen auf die Fußmatte vor ihrer Wohnungstür im zweiten Stock.

Das Nudelgericht für Christian steht in der Mikrowelle, das Schüsselchen mit dem Pflücksalat im Kühlschrank. Als Nachtisch gibt es Pfirsichkompott mit einem Klecks Sahne obenauf, stellt Christian freudig fest und reibt in Vorfreude mit beiden Händen über seinen Bauch.

Christian liebt das rotfleischige Pfirsichkompott von dem Baum, den er an seinem vierten Geburtstag zusammen mit seinem Vater hinter dem Haus gepflanzt hatte, sehr. Die Ernte war reichlich gewesen in diesem Jahr, die Mutter konnte viele Gläser mit Marmelade davon füllen. Und Christian durfte die Etiketten für die Gläser gestalten.

Christian hat Pfirsiche auf die Gläser gemalt, das Meer, Pinguine. Es hat ihm viel Spaß gemacht.

»Mein kleiner Künstler«, hatte die Mutter ihren Sohn gelobt. »Aus dir wird noch mal was ganz Großes. Ein Straßenkünstler vielleicht. In Paris oder New York. Oder Barcelona. Oder Amsterdam.« Dann haben Mutter und Sohn zusammen gelacht. Christian kann sich noch gut daran erinnern.

‚Hände waschen nicht vergessen’ mahnt der Zettel neben dem Wasserglas. Darunter, ein Lippenstiftküsschen von Mama. Marie Schneider haucht immer Lippenstiftküsschen auf die Nachrichten für ihren Sohn. Sie hat viele Lippenstifte. In allen möglichen Farben. Heute hat sie einen tomatenroten Stift benutzt.

Christians Mutter ist nicht krank. Sie hat nur einen Termin zur Vorsorge bei ihrer Frauenärztin, wie jedes Jahr. Christian kennt das. Er muss auch jährlich zur Vorsorge gehen, zum Zahnarzt und zum Hals-Nasen- Ohren-Arzt, wegen seiner Mandeln. Vielleicht muss er sogar operiert werden. Christian hat Angst davor. Er mag keine Krankenhäuser. Schon am Eingang wird ihm übel vom Geruch.

Großer Bruder sein

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