Читать книгу Pflegefall – der Weg nach Hause - Gisela Schäfer - Страница 5
Vorwort
ОглавлениеEigentlich suchte ich etwas ganz anderes. Plötzlich hatte ich ein Foto in der Hand, das ich an dem Tag aufgenommen habe, als ich meinen Mann aus dem Pflegeheim nach Hause holte. Es zeigt ihn mit seinem Pfleger, mit dem er sich so gut verstanden hat. Sie schauen sich gegenseitig an, und er lacht – trotz Pflegebedürftigkeit und Rollstuhl ist es ein von Herzen kommendes Lachen, dem man die Freude ansehen kann.
Mir rollen beim Anblick dieses Bildes die Tränen übers Gesicht. Wie glücklich und zuversichtlich wir waren! Es ging nach Hause! Wir hatten beide kaum noch darauf zu hoffen gewagt. Zwei Jahre hatte seine schwere Erkrankung ihn in der Klinik und danach in drei Pflegeheimen festgehalten. Sechs Monate Intensivstation waren die Hölle gewesen, vor allem für mich. Er hatte gottlob nicht viel davon mitbekommen, weil er nur selten hellwach war.
Immer wieder stand er an der Todespforte und hat doch überlebt! Noch nach acht Monaten konnten mir die Ärzte nicht sagen, ob die Gefahr vorüber war. Sein Herz war geschädigt, auch wenn der Infarkt durch vier Bypässe behoben werden konnte; seine Lunge war sein Schwachpunkt von Kind an gewesen, er litt oft unter Luftnot; seine Nieren entgifteten nicht mehr richtig nach den drei septischen Schocks; seine Blase wehrte sich gegen den Dauerkatheter, und sein Magen hatte medikamentöse Unterstützung nötig, damit er mit den vielen Tabletten, die er täglich einnehmen musste, fertig wurde.
Er war also weiterhin ein sehr kranker Mann, und doch waren wir beide voll Freude, als ich ihn nach Hause holte. Wir hofften darauf, dass die vertraute Umgebung, das Gefühl, daheim zu sein, und unsere gegenseitige Liebe noch eine Menge an Verbesserungen an seinem Zustand bewirken würden. Er selber glaubte zu dem Zeitpunkt, wie er mir später gestanden hat, in einigen Monaten würde alles wieder so sein wie vor dem Herzinfarkt und er würde den Rollstuhl nicht mehr brauchen. Eine solche Hoffnung hatte ich allerdings nicht …
Wie sehr hatten wir beide auf den Tag gewartet, an dem ich ihn heimholen konnte! Ich weiß noch, wie er nach einem Vierteljahr Intensivstation immer wieder nach Hause wollte. Er konnte nicht sprechen, weil er nach der Operation nicht alleine atmen konnte und deshalb ein Luftröhrenschnitt gemacht werden musste. Durch eine Tracheal-Kanüle war er mit einem Beatmungsgerät verbunden. Dadurch war er gottlob von der Atemnot befreit, aber die Kanüle behinderte seine Stimmbänder. Fast neun Monate lang war er stumm. Das war eine Tortur für uns beide. Oft wollte er mir etwas sagen und redete ohne Worte, nur mit Mundbewegungen, aber ich verstand es nicht. Manchmal quälte ich mich eine Stunde lang, um herauszubekommen, was er mir mitteilen wollte. Ich stellte dann immer Ja-Nein-Fragen, die er durch Nicken oder Kopfschütteln beantworten konnte, aber nur selten gelang es mir, tatsächlich herauszufinden, was er auf dem Herzen hatte.
Einzelne Wörter dagegen konnte ich meistens verstehen. So formten seine Lippen oft: „Nach Hause!“ In mir stiegen jedes Mal Tränen hoch. Was hätte ich darum gegeben, ihm diesen Wunsch erfüllen zu können! Es war doch auch mein innigster Wunsch. Aber es dauerte noch anderthalb Jahre, bis er Wirklichkeit wurde. Insgesamt war mein Mann zweiundzwanzig Monate fern von zu Hause, ein halbes Jahr im Krankenhaus (Intensivstation), vier Monate im Beatmungsheim, ein Jahr im Pflegeheim (Pflegestufe III). Zweiundzwanzig Monate bin ich – außer an einigen wenigen Tagen, als ich erkältet war – täglich bei ihm gewesen, meistens vier bis fünf Stunden. Wie oft war er nicht ansprechbar, weit abgetaucht, und ich, seine Hand haltend, träumte mit Tränen in den Augen davon, ihn wieder daheim haben zu dürfen. Dabei konnte mir niemand sagen, ob das noch einmal wahr werden konnte.