Читать книгу Langsame Entfernung - Gisela Steineckert - Страница 13
ОглавлениеAndererseits
Es war nicht, als er mir meine Arbeit und die Abwesenheiten ungerecht vergalt.
Es war nicht, als er unwillig wurde, weil wir einen zu langen Weg geahnt mühselig zurückgelegt hatten – warum eigentlich da? Warum?
Und wieder ließ ich es zu, gekränkt zu werden, statt Wirkung zu suchen, die ich aber auch weit überschätzte. Das mag sein. Aber ich wollte nicht Schmerz bereiten, der mich gepeinigt hätte.
Es war nicht, als wir uns in die Arme nahmen, in gleicher Trauer, wegen der Nachricht, die uns überwältigte.
Aber wir mussten sie nicht aufnehmen, sie war an den Horizont zu schieben, sie war umzudeuten, war zu verdrängen.
Es war so, und es blieb unser Rezept: Liebe verständlich machen, müde gewordene Gefühle neu wecken und erfrischen. Stärken, was nie aufgegeben werden darf. Die Hingabe, die Geduld, Umsicht für alles, was der andere braucht. Und es war Arbeit. Sie bestand aus Verzicht, Zurückstecken, aus Missachtung der eigenen spontanen Wünsche und Ansprüche, aus ständigem Verändern von Geplantem.
Zu viel Verzicht schuf ein Zuwenig an Ruhe, zu wenig Zeit – es ging immer um Aufschub, immer um demnächst.
Ich ließ keinen Vergleich zu, schob die Bilder, die sich einmischen wollten, in die Schublade. So war es aufgehoben als Erinnerung, lag wie im Schrein, zur Bewahrung.
Und ich verbreitete die vorerst tröstende Unwahrheit, man könne das Urteil … Und es käme auf uns an – nein, auf mich.
Also kümmere dich darum, dass er um siebzehn Uhr Ruhe erwarten und die Nachrichten ungestört sehen oder hören kann. Sei neben ihm, mit ihm, greif ihm voraus, schieb deine Arbeit auf, lass dir den Schlaf unterbrechen, versteh seine Peinigung durch Scham, sorge immer für frisches Obst, übernimm nötige Anrufe, teile sein bevorstehendes Dunkel.
Wenn er nicht mehr sehen kann, kann er hören. Es gibt heutzutage – ja, als wir uns darum kümmerten, stießen wir auf einen Reichtum an Hörbüchern. Etwas, das ihn interessierte und beschäftigte. Und während es ihn zurückholte in vorher normalen Umgang mit dem Alltag, konnte er auch anknüpfen an seine Bildung, denn er wählte aus, er ging um mit den neuen und den alten Schätzen, die er kannte, besser als ich.
Jede Veränderung hat ihre Oberfläche, aber ob Tiefe oder Untiefe, das ist schon Auswirkung, die sich von der Ursache entfernt.
Er hat mich nicht allein gelassen damit, sondern überredete mich zum Atemholen, allein an die Ostsee zur ersten Kur meines Lebens. Daraus entstanden lange Gespräche am Telefon, erstaunliche tägliche Briefe, und eine Wiederkehr von Normalität, die für beide heilsam war.
Wir sagten uns, dass ein Teil unserer Ängste nicht als Diagnose gesehen werden kann, sondern allzu dunkle Ahnung ist, vielleicht sogar falsche Deutung.
»Das Leben meint es doch eigentlich sehr gut mit uns. Und die Wissenschaft arbeitet Tag und Nacht am Stand ihrer Kenntnisse, aus denen dann alle Möglichkeiten erweitert werden.«
»Du schickst mir tausend Küsse? Ich gebe sie Dir zurück, damit Du sie aufteilst über eine lange Zeit … weit über dieses Jahr hinaus.«
»Ich bemerke, dass ich mit dir immer über die Zukunft rede. Was sie für uns bereithält, wissen wir so genau nicht.« Sie wollte sich uns als eine Zeit aufzwingen, für die schon eine erhebliche Anzahl von »das geht dann auch nicht mehr« gesichert schien. Einiges haben wir einfach unbeachtet gelassen; anderes nun gerade gemacht, aber es wird seinen Platz einnehmen, ohne dass wir ihn eifrig zum Mittelpunkt erklären. Ich habe Sehnsucht nach dir, das ist ein sehr lebendiges Ziel, das sich nicht woanders hinschicken lässt. Ich geh noch ein paar Schritte ans Meer, dann schreibe ich dir.
Das vergessene Meer
da liegt es, von Muscheln gerändert
atmet schwer
hat sich nicht verändert
ertrinken
versinken
die Angst pocht nicht mehr wild
gelassen weiß ich die Gefährdung
es stört meinen Schlaf kein Bild
das hier ist nur zu betrachten
es zieht keine Hand hinab
wie stark und gewiss wir uns machten
vor dem heiter gewählten Grab
Wir sind wie durch Erde verbunden
im Leben und danach
für Millionen Stunden
Ich schreibe auf, was und wie es gewesen ist. Aber eben merke ich, dass beim Aufschreiben auch ein Zeitraum erscheint, in dem Bedrohung und Reichtum der Gedanken und Gefühle sich irgendwie ausglichen. Das blieb nicht so, denn es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, mit verfrühten Hoffnungen und auslegbaren Bemerkungen der Fachleute.
Mehr als ein Jahrzehnt – von der Ahnung über die Wahrnehmung bis zum Ende.
So widersinnig es scheinen mag: Wir haben es gelebt und blieben bei allem eine sehr lebhafte Familie, in der es Respekt und Liebe gab – und die eine harte Lehre annehmen musste, eine geschichtliche, und jeder mit seinem eigenen Leben und mit der Welt.
Es kamen Menschen hinzu, die zuerst dienstlich helfen sollten, dann helfen wollten – die Freunde wurden und geblieben sind. Mir sage niemand, dass der Mensch einsam und hilflos sein muss.