Читать книгу Langsame Entfernung - Gisela Steineckert - Страница 9

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Ich weiß es noch

Es war nie im Schlaf, weil er den nie störte. Es war nie im unpassenden Augenblick, weil er den mehr fürchtete als ich.

Es war nie mit hungrigem Magen, da kochte er lieber, nachts sogar, im Morgengrauen hatte er eine Idee, und nicht nur für uns, er konnte seine Bereitschaft für spontane Großartigkeit viel später gut gebrauchen. Da lag ich mit der Enkelin in seinem großen Bett, und er nahm nebenan mit meinem kürzeren vorlieb, die langen Beine ein Stück in der Luft, aber ehe er Ruhe fand, öffnete er noch einmal unsere Tür – was für ein überraschend langer Kellner – und es gab eine Nachfrage wegen eventueller Genüsse zur Nacht. Die gab es, und ganz treuherzig meinte das Stimmchen neben mir: »Pommfriets, darauf hätte ich Appetit.« Der Mann ging in die Küche, holte seinen Spezial­topf aus dem Schrank und servierte schließlich einen ­großen Teller mit den gewünschten knusprigen Teilchen, etwa eine Dreiviertelstunde nach der Bestellung. Es blieb kein Krümel übrig. Die beiden waren verbündete Kumpel, und schon als kleines Mädchen stellte sie ihm alle ­besonderen Fragen und holte sich seine Antwort.

Über manchen Dialog lachen wir bis heute, anderes gehört nun zu unserer Art, miteinander umzugehen. Wahrscheinlich entstehen Bräuche in anderen Familien genauso.

Es ist mir nie aufgefallen, wie oft ich das sage, wenn jemand von draußen reinkommt, »Atme erst mal aus …«, das sage ich auch zu mir selber, wenn es wieder einmal hastig zugeht – obwohl ich gerade in der Familie die ausgleichende Ruhe liebe und immer möchte, dass sie jeder im Raum findet. Ich lasse keinen seine Schuhe ausziehen, unterstelle nicht, wie es dem Besucher grade geht oder was er von uns will. Das findet sich schon. Ich bin auch keine, die zur Überraschung aller plötzlich den Mantel vom Haken reißt, um auf der Stelle etwas in Gang zu setzen, für das es morgen zu spät wäre.

Es war nicht alles so einfach wie die Gefühle. Seine Herkunft stand auf einem ganz anderen Blatt als meine, die bis heute nicht einmal klar nachweisbar ist. Das wird sich nun auch nicht mehr ändern.

Er kam aus einer »Familie«, hoch angesehen. Jedenfalls bis die Nazis kamen. Ich stand dort beim ersten Mal wie in einem fremden Salon, in dem man sich kaum hinzusetzen traut.

Seine Mutter war ein Engel für die Kinder. Es ist nicht allen gleich gut bekommen. Mancher kam sein Leben lang nicht zu sich selber. Auf Wilhelm traf das nicht zu.

»Der als dein Mann, der war ein Felsen«, sagen mir Frauen, die sich an dich erinnern. Du, immer neben mir, vor einer Veranstaltung vorher noch die Autos der Frauen umparkend, du mit den aufmerksamen Ohren für die Probleme, vorsichtig ratend, manchmal sehr kräftig empfehlend, sobald von einem egoistischen Ehemann die Rede war. Da waren oft Probleme über Jahrzehnte herangewachsen. Die waren nicht am gleichen Abend zu lösen.

»Weck ihnen den Gedanken an die Möglichkeit, aber verlange nicht Eile.«

Du hast ihnen geholfen, und mir auch. Dein Respekt und dein erstaunliches Erinnern, so wie deine unermüd­liche Bereitschaft, Leuten aus der Patsche zu helfen, das alles musste unbedankt bleiben und ist nie zu vergessen.

»Auf ihn konnte man sich verlassen.« Das höre ich bis heute.

Und manchmal tut es immer noch weh, weil es nicht immer nötig gewesen wäre – und als uns andere ­Glocken aufgehängt wurden, gab es auch Versuche, dir unlautere Motive zu unterstellen. Wenige, auch wenn ich jetzt von Bedeutungen reden möchte – aber das wäre un­gerecht.

Laura hat ihm seine Hilfe nie vergessen, es ihm ver­golten, als er hilflos war und jeden von uns brauchte.

Wem danke ich das eine wie das andere? Damit habe ich noch zu tun.

Es war nicht, als das Telefon neben uns schrillte. Er nahm den Hörer ab und wandte sich mir wieder zu.

Es war, als wir über Politik sprachen. Er wollte in die Bade­wanne, stand aber nackt an meinem Fenster, deutete in die Windrichtungen, ließ mich kaum zu Wort kommen, und ich sah das siebte Mal mit Brille und zerzaust von meinem Buch hoch, ohne Lust auf ein Gespräch, ohne Kraft, es abzubrechen – da war es, da wusste ich, wie weit ein solcher Weg ist, welche Ungeheuerlichkeit, sich so Fleisch an Fleisch zu durchdringen und wieder voneinander zu lösen, für die Strecke Einzelwesen ohne Schutz in der Umarmung des anderen, dem du wichtig bist.

Du warst klug, wenn von einem Unterdrücker die Rede war. Das wurde mir immer berichtet, und es war daran nichts auszusetzen. Einziger Einwand von mir: was da zuhause bei denen abläuft, ist so leicht nicht zu ver­ändern. Das haben sich schließlich zwei Erwachsene so eingerichtet und geduldet.

Wir Menschen sind ohne Pelz, ohne Stachel und Stoßzahn, ohne Giftdrüse und Stampfbein; jede Biene hat feinere Sinne, die Fledermaus erst. Wenn du es mir nicht sagst, wo denn finde ich dich …

… da war es, dass einer so dasteht an meinem Fenster, wehrlos mir ausgesetzt, ohne Begierde, und schiebt das Wannenbad noch mal auf, um mich zu überreden, etwas zu sehen, wie er es sieht und bald selber nicht mehr sehen kann –

… da war es, dass ich verstand, wir schmeißen das Urteil zu, mit unserem Alltagskäse, wir achten es nicht wie eine Altardecke, und es ist doch, was uns zurücklässt, uns übersteigt – was besser ist als alles andere – dass einer dasteht, nackig und redet trotz allem, was war – und so, dass alles sein kann und sein wird, sieht mich an, eh er in die Wanne steigt, und es war nicht, als sich seine Finger in das vorteilhaft weiche Fleisch meiner Schulter gruben – als er das lange Warten mit fast wütender Vehemenz vergalt – es war auch nicht, als er seine Niederlage vom Nachmittag noch vor dem Abendessen in einen Sieg über meine Bedenken verwandeln wollte –

… es war auch ein anderes Mal nicht, als er spürte, dass wir uns nicht lieben und sich alle benötigten Teile in ungelenke Knochen und wenig hilfreiche Säfte verwandelten und der Zauberklang in prosaische Geräusche …

… als ich mich zurückzog in eine geräumige Höhle meiner Seele, die mir bis dahin unbekannt schien, obwohl niemand außer mir sie eingerichtet haben konnte –

… als uns Reue und Zärtlichkeit bewegungslos machten und seine Tränen fielen auf die meinen, weil wir uns, eben verloren, wieder fanden, und hatten es eigentlich nicht verdient …

Es war nicht, als ich ihm unwillig nachgab, weil wir so weit gegangen waren, warum eigentlich, und lieber ließ ich es zu und mich kränken, als Wirkung zu verursachen, die ich weit überschätzte – ja, das mag sein. Aber ich wollte nicht Schmerzen herbeirufen, die ich noch nicht genügend kannte und die sich umdeuten ließen. Auch das war es nicht. Kein Seidenblatt hätte damals zwischen uns Platz gehabt, als wir die Arme umeinander schlangen, in gleicher Trauer, die uns überwältigte. Mehr als alles begehrten wir den auslöschenden Moment, aber auch da war es nicht.

Als uns der Arzt nach drei Stunden Warten sein Urteil stotternd andeutete, sagte ich Nein und wiederholte dieses Wort, als ginge es um Rechtsprechung, gegen die Einspruch möglich war.

Ich habe das nicht verdient, dachte ich. Ich kann mein Leben durchforsten und werde nicht finden, in welchem Augenblick ich das verschuldet haben sollte. Es fällt auf mich, und ich kann mich nicht darunter vorwälzen.

Kann ich es absenden, wegschicken, jemandem in die Hand drücken? Nein, das konnte ich nicht. Kann ich hindern, eingreifen, helfen? Ja, später, ja – aber es würde nichts ändern.

Es war, wovor ich mich fürchtete, wenn ich den Schlaf wieder einmal übergangen hatte, und nun würde er sich lange Zeit lassen, in denen die schlimmen Bilder vorrückten. Du träumst nicht, du bildest dir nichts ein, du kannst es nicht wegschieben und nicht zerreden, und falls dir ein Wunder beisteht, wirst du es nicht jetzt erfahren.

Schöner Unglaube, dass Hoffnung alles verwischen könnte. Wenn niemand Genaues weiß, dann können wir uns doch lauter helfende Vorgänge ausdenken.

Vielleicht Änderungen, ein zukünftiges Programm für beide mit viel mehr für uns, viel weniger für die ganze Welt, die wir nicht ändern werden.

Das können wir nicht besonders gut. Du hast als Chef im Rundfunk deiner Mitarbeiterin einen Auftrag erteilt: Sie habe ab jetzt jeden Tag um 14 Uhr den Rundfunk dienstlich zu verlassen, weil ihr kleiner Sohn immer als Letzter aus dem Kindergarten abgeholt wurde, wegen der langen Wege von Mama.

Du hast mir das unwillig erzählt, und dann fiel uns noch die wichtige Zentralbibliothek ein, da hatte sie, scheinbar, dann auch viel zu tun. Wenn das so selbstverständlich war, warum weiß ich es bis heute und habe damals deine Gefühle und Entscheidung dankbar geteilt? Weil du so warst, immer so warst.

Man nennt das Gutmütigkeit, aber dieser Begriff passt nicht. Besonders groß und besonders stark. Aber du hast das nie gegen einen Schwächeren benutzt. Nie? Naja, aber ich war deine Frau, und manchmal ergab es sich … nein! Wenn du den Arm seitlich ausgestreckt hast, dann konnte ich drunter weglaufen, und du hast mich nie festgehalten.

Vielleicht erfindet oder findet in diesem Moment ein künftiger Nobelpreisträger den winzigen Stein, der ins Rollen gebracht werden kann. Was heute alles geheilt wird, das bedeutete früher … ja, weiß ich.

Schöner Unglaube, alles verwischen zu können, es ungenau zu machen, irgendwie lösbar.

Mach aus seiner Niederlage, seiner Erniedrigung einen häufigen Fall, mehrere ganz normale Wunder. Er ist doch nicht irgendjemand. Sein jüdischer Großonkel hat in England die Milchstraße entdeckt und außerdem war er ein weltberühmter Dirigent, der junge Herschel. Da kommt er her, und jener Urahn hatte eine Schwester, die alles für ihn getan hat. Ich kann auch eine Schwester sein.

Das war nicht gut, in solchem Ton redet man mit ihm nicht. Ja, weiß ich.

Mach eine Alltäglichkeit, erfinde sie. Du darfst ihn nicht in deine Beobachtungen ziehen, nicht in die Ängste, wiederhole nicht, was ein Schlaumeier gesagt hat. Mach einen großartigen Einfall daraus, eine Art Inszenierung für den Alltag, wir können alles ändern, unsere Zeit anders einteilen, das Überflüssige endlich mal leichten Herzens unterlassen … Ich muss doch nicht überall antanzen, nur weil ich, wie viele andere, ge­rufen werde, um am Ende eine Stimme mehr zu ergeben. Ich muss gar nichts machen, was wir eigentlich nicht ­wollen …

Er hat gesagt, so ein Urteil ist auslegbar. Mir haben sie doch schon mal Knochenkrebs unterstellt, erinnerst du dich? Du hast gleich nein gesagt, und dann war es ein Fehler im Röntgenfilm. Weißt du noch?

Ja, und ich habe das Krankenhaus mit zitternden Knien verlassen und dann so getan, als wäre meine nahe­zu erzürnte Abrede aus heimlichem Wissen gekommen und nicht aus dem Schreck.

Du hast gesagt, ich müsse mich einfach ausruhen, mich mal nur um mich kümmern.

Ich muss denken, das ist richtig. Und schlafen, einfach hinlegen und schlafen, möglichst, ohne dauernd aufzuwachen und wieder alles von vorn denken zu müssen.

»Das machst du? Warum?«

»Weil das schon immer mein Problem war und nun unser Problem ist.«

»Aber mit uns ist doch alles in Ordnung!«

»Sag ich ja!«

Es war nicht, als er im Riesengebirge lachend und pitschnass auf dem Rückweg den Berg herunterkam, nachdem er den Tagesausflug unbedingt allein machen wollte, meinen Mangel an Begeisterung für solche Unternehmungen achtend. Und dann stand ich auf einmal vor ihm, auch eingeregnet. Wenigstens einen Teil des Weges hatte ich bewältigt, da war es, wie er auf mich zukam, mich in die Arme nahm, übertrieben dankbar, und als wäre ich auf allen Vieren den ganzen Weg zu ihm gekommen; das war sehr komisch, warum sonst hätten wir so laut und irgendwie unpassend gelacht? Weil er mich da verehrt hat?

Es war in Harrachov, als er unter seinem Regencape hervorkam und auf den Steinen niederkniete, als ich ihm gefolgt war in den Platschregen, in den steilen Aufstieg, und ich sollte doch Tee trinken, lesen, ihn einfach allein gehen lassen.

Aber du hattest beides geahnt: dass ich es bewältige, und dass du am nächsten Tag krank sein würdest. Beides trat ein, deine Erkältung, harter Husten, und die ganze Welt schwarz in schwarz.

Langsame Entfernung

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