Читать книгу Langsame Entfernung - Gisela Steineckert - Страница 7

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Zum Beispiel deins und meins

Das Leben ist etwas ungemein Persönliches, und jedes gibt es wie jeden Menschen nur ein einziges Mal. Die ­Versuche, Typisches für die Zeit des Lebendigseins zu verallgemeinern, misslingen meist. Das weiß der Zahn nicht, der hat seine Zeit, dann lockert er die Beziehungen, lässt los, sich ersetzen, er hinterlässt eine Lücke, eine Erinnerung an seine Vollkommenheit. Aber un­ersetzbar ist er eben nicht. Das Gehirn, unser blödes, versagendes, unerbittlich tüchtiges, das Gehirn ist vom ersten Tag an einzigartig eigenartig. Was es bewahren will, trägt es durch die Stürme des Lebens, hütet es, manchmal mit Umhäutungen, die sich brauchen lassen. Aber immer ein Schrein, ein Prahlhänschen, das durch Glas, durch Scheiben, schimmern lässt, was vergänglich oder ein Schatz ist. Über das Herz können uns die Ärzte etwas mitteilen, aber das sagt uns eigentlich nichts, oder vorschnell zu viel, oder das Wichtigste zu spät, oder alles im falschen Augenblick.

Guck dir deine Hände an. Untätig liegen sie im Schoß, oft auch dann, wenn sie sich hätten rühren sollen, sich ballen, aneinander klatschen, sich heben, weit über den Kopf. Streichelnde die, sanfte Beruhigende, starke Beispringende, manchmal verzweiflungsvoll zu viel aus­plaudernd, wo das unterbrechende Wort fehlte.

Müde Augen, noch nicht unterrichtete, den Unterschied nicht wahrnehmende, verweilende mit dem Blick auf Gewesenes und auf das, was kommt, sich schließend vor dem Beweis der Verlierbarkeit. Diese Augen, nach­blickende, die nichts sehen können, was kein Bild ergibt: Wer zwingt euch, ein Spiegel zu sein, der keinen Abflug aufhalten kann? »Verweile doch, du bist so schön«: Leben, neuer Versuch, Lehre, vielleicht doch Bereicherung und nicht nur Zeichen von Verlust.

Was ist denn dies, das Leben, wenn es nur dein eigenes ist, nur deine Stillung von Hunger und Durst, dein Ende von etwas, dein Neubeginn, deine Fortpflanzung, deine Angst vor dem letzten Augenblick. He, sagen deine Anlagen, sagt deine Erfahrung, rufen deine unbedienten Triebe, gemeint sind die ungenutzten Chancen, es gibt dich noch. Ich kann, was ich nie konnte? Gut, das denke ich nicht zum ersten Mal. Warum? Weil ich jetzt die Zeit dazu habe. Ist dir die ungesunde Eile nie aufgefallen?

Immer eilig, habe ich zu vieles mit schnick schnack schnuck entschieden. Auch das, was Bedächtigkeit gebraucht hätte. Die habe ich nicht, aber ich kann sie mir holen, könnte sie aufbringen, aus der verwundenen und aus der beseligenden Erfahrung. Bunt genug, um alles abzudecken, was den Augen sonst allzu erkennbar wäre.

Das geht jedem so. Da bin ich nichts Besonderes. Aber auch ich bin doch auf die Welt gekommen, um sie zu bereichern, vielleicht sogar zu befrieden. Ich erinnere mich des Gefühls, als ich inmitten sehr unterschied­licher ­Äußerer von Meinungen in mir einen Gedanken entdeckte, der passte nicht hinein und nicht dazu. Ich kannte den Augenblick der absoluten Trauer noch ebenso wenig wie den der vollkommenen Übereinstimmung, den man Glück nennt oder mit einem anderen übertreibenden Namen belegt. Ich war noch nicht so weit, ich musste erst einmal allein denken, für mich, und dann weiter, für alle. Widerspruch lag ganz vorn auf der vorlauten Zunge, recht zu behalten war wichtiger als teilzuhaben an einem noch nicht erkannten Ergebnis. Ich mag mich nicht besonders, wenn ich mich erinnere, dass ich mit schneller Zunge anderen Frauen das Wort abgeschnitten habe, wenn sie scheinbar so dumm dastanden, wie ich mir hinterher vorkam. »… und dann hat sie gesagt …«, da gibt es Anekdoten, die hoffentlich nicht bis zur Ur­enkelin gelangen.

Und nun, heute?

Der Spiegel sagt mir einen Teil der Wahrheit, eigentlich kaum Neues. Was ich sehe, ist ja nicht über Nacht entstanden, wie man so sagt. Über Nacht schlohweiß geworden, das hab ich als Kind oft gehört und nie gesehen, und eigentlich glaube ich auch nicht daran. Ja, du bist abgegriffen, welk, du hast ein zerknittertes Herz, manchmal ein nass geheultes Taschentuch, darin sind auch Erinnerungen, geschnäuzte Erinnerungen – vor dem Papierkorb bewahrt, in den sie eigentlich gehörten. Dem Papierkorb, den dir dein Leben hinhält. Vorschnell entleert?

Aber du bist damals nicht hingerannt, als sich, scheinbar! die Gelegenheit bot, ohne eigenes Zutun alle Chancen auf einmal sehen zu können, vielleicht sogar zu haben, sie waren zum Anfassen nahe. Das Preisschild ziemlich verwischt, kein Wunder! Vielleicht doch, Wunder soll es ja geben. Anderen ist es doch gelungen, den Zipfel zu erwischen – und er war es, vielleicht, mit dem die Tür aufzureißen war, hinter der alles steckte, wofür sich das Leben lohnte. Hinter dir könnten Aufhaltungen, durch deinen unzulänglichen Charakter verursacht, verschwinden – wie eine Wolke am sommerlichen Himmel. Ganz leicht und so, als hätte deine Vergangenheit nichts mit dir zu tun. So sollte sie abgelegt werden, mit ­Zensuren unterschrieben, wie in der Schule damals. ­Vielleicht mit »ungenügend«, vielleicht auch mit dem obrigkeitlichen Vermerk »Thema verfehlt«. Da war dein Weg gemeint, auf den du gestellt worden bist. Oder? Bist du ihn gegangen, erst mal los, mit zögerndem ersten Schritt, zunehmend bewusster, du, dein Fuß, dein Gehirn, dein Weg?

Wie du jetzt bist, dieser Mensch, so bist du geworden, und jeder Vergleich hinkt. Die Summe stimmt nicht? Wie sollte sie!

Es ist vieles noch möglich. Du kannst noch etwas ab­stellen, etwas beginnen. Nicht alles, nein. Damals? War da mehr, sogar alles möglich?

Es gab Kreuzungen, von dort aus hattest du die Wahl. Du konntest alles, was dir vorher wichtig war, öffentlich verfluchen. Das hätte dir Türen geöffnet: du brauchtest nur vorzubringen, dass du für nichts konntest, schon immer gegen alles gewesen bist. Dass du abgehalten, gestraft, gehindert wurdest, dein wahres Leben zu wählen. Du hättest sagen können, dass du jetzt erst angekommen bist in deinem immer erträumten Sein.

Warum hast du das nicht gemacht? Warum hast du genauer hingeguckt und die eben zu freudigem Winken erhobene Hand wieder gesenkt, sogar mit Stirnrunzeln, ein bisschen beschämt wegen Übereifer, der ja gar nicht zum Zug gekommen war. Du hast nur gedacht! – und dafür bist du zu rühmen. Hingeguckt und gedacht. Und etwas verstanden, was sich beim nächsten Versuch als wichtig erwies.

Was du verlachen oder verteufeln solltest, hatte es so nicht verdient. Auch von dir nicht, und was du bejubeln solltest, brauchte sein ehrliches Wort von dir, über dein Leben. In all dem, was du allein oder mit anderen ­zusammen versucht hast, steckte ein bisschen mehr Mühe, als für dich allein nötig war.

Ich habe dich einmal in der Menge gesehen, im rich­tigen Moment, an wichtigem Platz, mit dem nötigen Aufwand, der festen Haltung und einem Risiko. Du konntest da über Abwesenheit oder Einsatz entscheiden. Es hat kaum was gebracht, hast du gesagt. Und dann noch einen Satz darüber, dass die Welt sowieso am Abgrund trudelt. Und dass wir eben nichts machen können. Egal! Du lebst. Was das ist? Nicht genug. Aber du bist einzigartig und mach bitte daraus keine einseitige Forderung an alle andern.

Leise sein und die Stimme erheben / Wie am Ende / und wieder / Eine Seite vom Ich erleben / Sich zwischen Anfang und Mitte / An vorläufige Enden begeben / Und zwischen Aufschrei, Heulen und Lachen / Das Eigene irgendwie ­machen und leben.

Langsame Entfernung

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