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2 / Drei Helden von früher

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Nach Auflösung seiner Agentur hatte Arnold Korff seinem Leben einen Dreh gegeben, auf den seine Frau Sabine nicht vorbereitet war. Sie hatte sich die gemeinsame Zukunft anders vorgestellt, an schöne Reisen, an Wellness-Hotels und Freiluftfestivals gedacht. Jetzt hatten sie doch genügend Zeit dafür. Sabine kannte genügend Ruheständler, die wochen­lang unterwegs waren, von jedem Terminkorsett befreit.

Die baltischen Staaten wurden jetzt gern genommen, und ein paar Tage Florenz mussten eigentlich auch für die Korffs möglich sein. Sabines Reiselust meldete sich zuverlässig, wenn sie in der Küche zugange war, wenn sie Töpfe und Pfannen aus dem Schrank geholt, Zutaten bereitgestellt und Zeit hatte. Sie konnte sich zwar ein Buch vornehmen, aber die Lektüre blieb Stückwerk: Immer wieder musste gerührt, abgeschmeckt, nachgewürzt werden. Sie hätte die lebenslang geübten Handgriffe gern wieder mal dem Koch eines österreichischen Berghotels oder einer Trattoria in Perugia überlassen.

Aber ihr Arnold war für große Expeditionen nicht mehr zu haben; er war genug gereist. Außerdem waren die Hoteladressen, die er spaßeshalber im Internet ausprobierte, samt und sonders auf Monate ausgebucht. Das sei die eigentliche Erfindung der Ferienindustrie, nörgelte er: Das ausverkaufte Ziel. Die Untugend der Leute, ihr Hotel ein Jahr im voraus zu buchen, hätte mit Reisen nichts mehr zu tun, es sei eher eine Art Umbettung im Abonnement. Ob Sabine sich nicht an den schlimmen Juli am Gardasee erinnere. Sie waren vor Jahren auf gut Glück hin­gereist und mussten meilenweit ins Hinterland fahren, um überhaupt noch ein Bett zu finden.

Arnold fand aus seiner eigenen Postleitzahl nicht mehr heraus; da war nichts zu machen. Sabine bekam ihn nur zu Ausflügen vor die Tür, deren Ziele in ein oder anderthalb Stunden zu erreichen waren, eigentlich waren es nur längere Spaziergänge. Die Parks gehörten dazu, die Uferwege am Rhein und auch die Friedhöfe, auf denen sie jetzt immer mehr alte Bekannte entdeckten. Man sei an der frischen Luft und hätte obendrein was zu lesen, sagte Arnold, das sei doch schön.

Er blieb gern bei ihr im Haus. Er mochte das Haus; sie hatten es in dreißig Jahren kaum verändert. In der Diele hing nach wie vor das Poster vom Italian Film Festival und erinnerte an einen Museumsshop in Paris. Die Lampen über dem Küchentisch – an dem sie bequem acht Gäste bewirten konnten – waren ein Glücksgriff aus den Achtzigern; immer noch tauchten sie alles, was auf die blank gescheuerten Bretter kam, in ihr warmes Licht.

Abends setzten sie sich mit einem Glas Rotwein auf die Terrasse, ließen die Sonne untergehen und sprachen sich aus. Sogar Arnold konnte dann besinnlich werden: „Weißt du was? Ich finde es so beruhigend, wenn ich nachts höre, wie friedlich du neben mir atmest.“ Sie wusste nicht genau, was sie davon halten sollte, jedenfalls wich er ihr Tag und Nacht nicht mehr von der Seite. Als ob er wettmachen wollte, was er zuvor versäumt hatte.

Das Familienleben der Korffs war von Arnolds Beruf arg gerupft worden. Es hatte Jahre gegeben, in denen er wochenlang spät in der Nacht nach Hause kam; mehr als einmal gab es am Frühstückstisch bittere Worte und unglückliche Gesichter. Die Agentur sei in einer sehr angestrengten Phase, versuchte Arnold zu beruhigen, bald würde es besser.

Er war dann doch erschrocken, als einer seiner Kunden, ein Aufsteiger kurz vor dem Chefsessel, ein harter Hund, ihm mitten in der Besprechung etwas vorheulte: Just an diesem Vormittag war ihm seine Frau weggelaufen; sie hatte die einsamen Abende nicht mehr ertragen. Arnold konnte nur mitfühlend dreinschauen. In diesem Moment wusste er nicht, was er sagen sollte, aber am nächsten Tag verschob er die Herchenberg-Präsentation und ordnete auf Biegen und Brechen seinen Termin­ka­lender neu. Er blieb auch bekehrt, als er später hörte, so einsam seien die Abende der abtrünnigen Gattin durchaus nicht gewesen, vielmehr hätte sie im Schwimmbad ihrer Wohnanlage zu oft diesen Innenarchitekten getroffen. Eigentlich lief es ja auf dasselbe hinaus.

Jedenfalls hatte Sabine ihren Arnie jetzt den ganzen Tag an der Hacke; das war sie nicht gewohnt. Er saß in jedem Zimmer, er las seine Zeitung in der Küche rauf und runter, er begleitete sie zum Einkauf, nicht nur am Wochenende. Deshalb war sie begeistert, als zu Herbstbeginn Arnolds alter Freund – sein bester Freund – Benno Wittfeld abends vorbeischaute und einen gescheiten Vorschlag machte.

Sie mochte Benno. Sie wusste, dass Arnold und Benno sich als Lehrlinge in derselben Firma verbündet hatten („wie Rodgers and Hammerstein“). Glückliche Tage mussten das gewesen sein – junge Tage, als sie über Jack Teagarden sprachen statt über Vertriebswege und Marktanteile.

Als sie später in unterschiedlichen Himmelsrichtungen – und unterschiedlichen Geschäften – unterwegs waren, blieb die Freundschaft auf Standby, und sie sprang sofort an, als Benno wieder in der Stadt auftauchte. Es war schön für Arnold, den Kerl wieder in der Nähe zu haben, da gab es viel zu erinnern, viel zu streiten und viel zu lachen.

Benno kam, als Arnold gerade das Geschirr abgeräumt hatte, setzte sich zu ihnen an den Tisch und pries die Eintracht, in der die beiden nebeneinander saßen („ein Bild, das über jedes Kinderbett passen würde“). Er fragte, ob sie neuerdings auf den Friedhöfen etwas Aufregendes entdeckt hätten, und kam dann zum Thema. Sein Arzt hatte ihm viel Bewegung empfohlen, wegen des Blutdrucks und überhaupt. Überhaupt – das meinte: Man durfte die Pantoffeln gar nicht erst anziehen; wer sich wie ein alter Mann aufführte, wurde auch einer. Wandern wäre eine gute Idee, für ihn und Arnold. Jetzt bekämen die Bäume draußen allmählich Farbe („der große Maler geht durch den Wald“), das sei eine gute Zeit für die Wälder der Umgebung – doch, es gäbe noch welche.

Er sah Sabine an und sagte unschlüssig, sie könnten natürlich auch zu Dritt … , aber bevor er den Satz beenden konnte, winkte Sabine schon mit beiden Händen ab. Sie wollte ihre Chance retten, das Haus ein paar Stunden für sich allein zu haben. Arnold und Benno hatten das nicht anders erwartet; sie nickten und verabredeten sich für Donnerstag.

Sie stiefelten zu zweit in den Wald und kamen zu dritt wieder heraus. Beim alten Schießstand waren sie einem von früher über den Weg gelaufen, einem Grafiker, der sich ebenso wie Arnold wunderte, dass sie erst ins Unterholz gehen mussten, um sich nach all den Jahren wiederzusehen. „Wenn man nur mal die Nase vor die Tür steckt,“ bestätigte Benno, der den Mann nicht kannte.

„Tito Tigges?“ fragte Sabine. Sie erinnerte sich an den Namen. Tigges hatte eine Zeitlang für Arnold gearbeitet. Der Mann galt als Spinner, jedenfalls sagten das Leute, die ihn kannten.

„Er war immer für schräge Einfälle gut,“ räumte Arnold ein, „aber das muss ja kein Schaden sein. Jetzt scheint er ziemlich allein durch die Welt zu laufen. Er kennt ein paar gute Wanderziele.“

Sie gingen nun regelmäßig zu dritt los. Es kam nicht in Frage, sich einem der Rentnertrupps anzuschließen, die sich an den Endhaltestellen versammeln, mit festem Schuhwerk und Frauenüberschuss. Statt dessen holten sie einander ab und fuhren dann zu entlegenen Parkplätzen am Waldrand. Sie marschierten im Räuberzivil über die Feldwege, rätselten, ob auf den abgemähten Äckern Roggen oder Gerste gestanden hatte, unterschieden mit Mühe Schafgarbe und Giersch und sahen zu, dass sie um drei wieder zuhause waren, rechtzeitig für ihr Nachmittags-Nickerchen. Länger als einen halben Tag blieben sie nicht mehr frisch.

Sie verstanden sich gut, es konnte ja immer nur einer reden. Sie erzählten sich gern Geschichten, die mit „es war einmal“ begannen, aber über ihre früheren Heldentaten sprachen sie nur vorsichtig. Sie wussten noch, dass sie manchen Erfolg nur einem glücklichen Zufall verdankten – einer unverhofften Empfehlung oder dem plötzlichen Ausfall eines Konkurrenten. Ebenso zufällig konnt es schiefgehen. Tito konnte ein Lied davon singen und tat es auch: Vier Tage, nach­dem er eine ebenso erstklassige wie teure Arbeit abgelie­fert hatte, war sein Auftraggeber in Konkurs gegangen. Tito hatte keinen Pfennig gesehen.

Dass es mit dem Georg Hoyer ein böses Ende genommen hatte, wusste jeder von ihnen. Sie setzten sich auf ein paar aufgestapelte Baumstämme und ruhten sich aus.

„Das ist das, was ich meine,“ sagte Tito. „Kein Boden unter den Füßen, nur Hecheln von Auftrag zu Auftrag. Als ob man von Eisscholle zu Eisscholle springt. Wenn du die letzte verpasst, gehst du unter.“

„Oder du lässt dich zum Heilpraktiker umschulen,“ schlug Benno vor.

Sie lachten. Sie erinnerten sich an den Mann – einen Kontakter, der die Vierzig überschritten hatte und in der Werbung keine Zukunft mehr für sich sah. Er hatte den Absprung in eine ganz andere Szene gewagt und „verdiente sich jetzt wieder schlapp.“

Georg Hoyer hatte die letzte Eisscholle verfehlt. „Dass er deshalb Schluss machen musste. Und dann so.“

„Na ja,“ meinte Tito. „Wenigstens ist er sauber gegangen.“ Er hatte einmal einen Jungen gekannt, der verschwand eines Tages und man fand ihn nicht mehr. Jahre später spazierte ein Pärchen in den Wald und legte sich unter einem Baum ins Laub. Als das Mädchen hoch blickte, sah es den Jungen hängen, ein Skelett in der Seppelhose.

„Auch damals wusste niemand, warum.“ Ihm fiel noch etwas ein: „Hatte der Wagen eigentlich keinen Katalysator? Der hätte das doch verhindern müssen.“

„Aber wenn der Hoyer das nicht wusste?“

Sie quittierten Bennos absurden Einwurf mit einem Knurren, gemischt aus Protest und Belustigung.

„Hör schon auf,“ sagte Arnold. Es wurde Zeit, von Annes Besuch zu berichten, von Hoyers Exposé und seiner Idee für Haruspex.

„Haruspex?“ fragte Benno.

„Steht im Lexikon, du kannst es auch googeln. Römische Priester, die aus den Eingeweiden toter Tiere die Zukunft herauslasen.“

„Oh je.“ Für Benno war das zu weit weg.

„Ich habe früher gern Zukunftsromane gelesen,“ sagte Tito.

„Science Fiction, ja, das habe ich zuerst auch gedacht,“ gab Arnold zu, „aber das hier ist etwas anderes.“

„In den Zeitungen steht doch schon genug,“ sagte Benno. „Neulich erst ein Artikel über Gewächshäuser auf dem Mars.“

„Das stimmt, aber Hoyer schreibt, es gäbe genug Leute, die mit solchen Häppchen nicht zufrieden sind, die wollen tiefer eintauchen.“

Tito räumte das ein: „Das ist nicht ausgeschlossen, so eine Art Flucht aus der Gegenwart.“

„Es muss nicht mal Flucht sein. Es gibt immer Leute, die anderen etwas voraus haben wollen. In Haruspex würden sie Dinge lesen, über die noch niemand Bescheid weiß – in der Zukunft war ja noch niemand. Es wäre das erste Magazin, das ausnahmslos allen Lesern etwas Neues anbietet.“

„Ob sich das verkauft?“ wiederholte Benno Wittfeld. „Kommt dein Freund Hoyer nicht ein bisschen spät? Die Zeitschriften gehen doch jetzt schon am Stock – kaum noch Anzeigen und die jungen Leute spielen lieber auf ihren Smar­t­p­hones herum.“

„Ja, die jungen Leute,“ antwortete Arnold, „aber der Hoyer war schon vierunddreißig.“

„Nicht alt genug, um sich umzubringen. Und Haruspex ist ein völlig abgedrehter Titel. Klingt nach Werkzeug­maschinen-Export.“

„Jedenfalls ist er merkfähig,“ beharrte Arnold. „Er hat einen Widerhaken.“ Ihm war, als müsse er ihnen das Haruspex-Konzept verkaufen, seiner Besucherin Anne zuliebe. Er blieb beim Thema:

„Er schlägt ‚Sieben Leben von morgen’ vor. Das fängt mit Küchenrobotern an und hört mit neuen Göttern auf. Interessant ist sein Prognose-Schema. Er teilt die Zukunft ein in ‚ziemlich sicher’, ‚möglich’ und ‚un­wahr­scheinlich’.“

„Was meint er denn mit ‚ziemlich sicher’? Dass es im nächsten Winter schneit?“

„Mit Wettervorhersagen gibt er sich nicht ab.“ Arnold korrigierte sich: „Hat er sich nicht abgegeben. Nein, er sagt zum Beispiel die Rückkehr der Schreibmaschine voraus, weil die Leute fürchten, dass ihr Computer überwacht wird. Er meint auch, dass Trinkwasser bald so viel kostet wie Burgunder.“

Die Vorstellung gefiel ihnen nicht, das konnte man sehen. Arnold schob nach: „Unter der Rubrik ‚möglich’ notiert er übrigens ‚Flüssigfleisch’.“

„Ist ja widerlich.“ Benno verzog das Gesicht. Er bezweifelte, dass man genügend Stoff sammeln könne, um Monat für Monat ein interessantes Heft zu produzieren. Auch Tito schüttelte den Kopf. Arnold konnte seine Wanderfreunde nicht überzeugen; sie wollten sich mit dem Blödsinn nicht weiter abgeben.

„Ob wir drei alten Knacker uns noch groß mit der Zukunft befassen müssen?“

Sie einigten sich darauf, der arme Hoyer hätte da eine Schnapsidee gehabt. Ein krankes Hirn. Kein Wunder, dass er sich umgebracht hatte.

Durch die Bäume hindurch sahen sie, wie sich im Westen der Himmel verdunkelte. Aus einem Stoppelacker am Wald­rand flatterte eine Kolonie von Tauben hoch. Die Vögel sam­melten sich über dem freiem Feld zum Schwarm, wurden mit einem Schwenk gegen das Licht unsichtbar, zeichneten sich dann plötzlich hell gegen die dunklen Wolken ab. Tito zog seine Schiebermütze tiefer in die Stirn – es wurde Zeit, zu gehen.

Sie erhoben sich ächzend von ihrem Holzstapel und mach­ten sich auf den Rückweg. Sie beeilten sich, gerieten dennoch in einen Schauer und konnten sich gerade noch in einer Waldhütte unterstellen. Nach zwanzig Minuten ließ der Regen nach; sie kehrten zu ihrem Parkplatz zurück. Plötzlich roch es nach Fäulnis; sie traten vorsichtig auf, um auf dem nassen Laub nicht auszurutschen.

„Was machen wir nächsten Donnerstag?“ fragte Tito Tigges vom Rücksitz. „Vielleicht mal wieder zum alten Steinbruch?“

Ein alter Kalksteinbruch, seit Jahrzehnten der Natur überlassen, hatte es ihnen angetan. Sie konnten ihn in einer guten Stunde umrunden, das war nicht zu viel für sie. Meistens hatten sie das dicht bewaldete Areal für sich allein, mit allem Brombeer- und Weißdorngestrüpp, mit Hundsrose und mannshohem Bärenklau. Sabine hatte Arnold über heilende und giftige Pflanzen unterrichtet und ihn über die Unterschiede zwischen Bärenklau, Bärlauch und Bärwurz aufgeklärt. Er gab sein Wissen an die beiden anderen weiter, die aufmerksam zugehört hatten. Es war mal was anderes als die alten Geschichten.

Jetzt allerdings musste der Steinbruch warten.

„Ich weiß noch nicht,“ sagte Arnold. „Ich muss Montag erst mal zum Zahnarzt.“

Drei zornige alte Männer

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