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5 / Für einen Dieb gut genug

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Arnold und Benno saßen im Korffschen Audi und warteten darauf, dass Tito Tigges herunterkam. Nach dem Winterschlaf wollten sie ihre Wanderungen wieder aufnehmen. Den Ausflug zum alten Steinbruch hatten sie schon vor einem Jahr geplant, aber immer wieder verschoben. Erst war das mit Arnolds Zähnen dazwischen gekommen, dann eine wochenlange Regenzeit; die verschlammten Waldwege wollten sie sich nicht antun.

Tito kam aus der Haustür und wedelte mit einem zusammengerollten Heft in der Hand. „Ich habe eine Überraschung für euch,“ versprach er, als er hinten einstieg. „Ich zeige es euch, wenn wir da sind.“ Er schlug die Tür zu und sagte nichts mehr, wollte während der ganzen Fahrt partout nichts verraten.

„Er will sich seinen Auftritt nicht kaputtmachen,“ meinte Benno. „Wahrscheinlich soll es was Größeres werden.“

Arnold war von der Geheimnistuerei nicht überrascht. Tito war immer zurückhaltend gewesen. Seine Kollegen im Atelier konnten sich nicht zwischen „scheu“ und „verschlossen“ entscheiden. Er vermied es, im Mittelpunkt zu stehen. Er ließ sich nicht gern feiern – selbst dann nicht, wenn einer seiner Entwürfe das Rennen machte. Die anderen sahen in dieser Verweigerung eine Spur Arroganz: Glückwünsche und Ehrungen seien ihm wohl zu piefig – da stünde er natürlich drüber.

Die Agentur war gut mit ihm gefahren, da konnte der Mann schweigen, wie er wollte. Auch Arnold ließ ja nicht jede Katze aus dem Sack. Da war zum Beispiel etwas, das Tito nicht wissen musste. Er hatte Arnold einmal auf einen guten Kontakt hingewie­sen – auf ein Bauunternehmen, das eine neue Werbeagentur suchte. Arnold hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und in der Folgezeit schönes Geld verdient.

Dem freien Grafiker Tigges verriet er aber nie, dass sein Tipp zu einer ganzen Kette von Folgeaufträgen aus der Bauindustrie geführt hatte. Streng genommen konnte Arnold sich nichts vorwer­fen, dennoch wurde er ein dummes Gefühl nicht los. Es war, als ob man sich mit Leuten amüsiert, die man durch einen Freund ken­nen­gelernt hat, diesen Freund selbst aber außen vor lässt – es ist nicht verboten, aber schön ist es auch nicht. Irgendwie war Arnold dem Mann etwas schuldig. Auch deshalb hatte er ihn, als sie sich im Wald begegneten, mit offenen Armen begrüßt: „Wir holen dich ab – ist doch klar, wir brauchen dich.“ Den Tito Tigges mochte dieses Wohlwollen gewundert haben, gesagt hatte er nichts.

Sie verließen die Schnellstraße und bogen kurz darauf in die Zufahrt zum Steinbruch ein. Arnold parkte den Audi so, dass die anderen aussteigen konnten, ohne in die Brennnesseln zu geraten. Die Fahrt war nur kurz gewesen, dennoch dehnten und streckten sie sich, ein altes Ritual vom Rastplatz, und traten nach vorn.

„Also passt auf: Was seht Ihr hier?“ fragte Tito. Er zeigte das Heft vor, das er bisher verborgen hatte, und hielt deren Titel hoch wie ein Boulevard-Verkäufer sein Extrablatt.

„Schaut euch das an. Wenn das nicht die Zeitschrift ist, die dieser Hoyer sich ausgedacht hat. Und zwar eins zu eins. Nur heißt sie nicht Haruspex, sondern FUTURE. Und sie kommt nicht von Bernkopf, sondern von Stewart+Funck in Hamburg. Komisch, was?“

FUTURE – Die Zeit, in der Sie den Rest Ihres Lebens verbringen, sagte der Titel. Dazu in zwei fetten Zeilen: Was Sie erwartet und was Sie tun können.

Das Titelbild zeigte eine verängstigte Blondine, die mit ausgestreckter Hand eine Rotte schrecklicher Ungeheuer abwehrte:

Entkommen Sie den Monstern der Vergangenheit

Entscheiden Sie selbst, was Sie vergessen wollen.

Tito breitete das Heft auf der noch warmen Motorhaube aus. Sie beugten sich darüber wie über eine Wanderkarte.

Künstliche Demenz löscht quälende Erinnerungen und steigert Ihre Konzentration. Zwangsvorstellungen werden pharmakopsychologisch „ausgewaschen.“ Lassen Sie sich von unerwünschten Gedanken nicht mehr ablenken: Niemals mehr wird Sie ein Vampir verfolgen, kein grüner Elefant macht sich in Ihrem Zimmer breit.

„Das glaub’ ich jetzt nicht,“ sagte Arnold. Da hatte tatsächlich jemand die Hirngespinste des Georg Hoyer ernst genommen und gedruckt.

„Es ist mir am Kiosk sofort aufgefallen,“ sagte Tito.

Das glaubten sie ihm ohne weiteres. Tito hatte ein Auge für so etwas. Den beiden anderen war das Magazin noch nicht begegnet; Werbung dafür hatten sie auch nicht bemerkt.

Eine Probenummer, dachte Arnold, ein Versuchsballon. Man will die Resonanz testen.

Sie blätterten das Heft langsam durch, lasen die Überschriften. Aus den „Sieben Leben von morgen“ waren „Sieben Welten“ geworden, auch sonst waren die Unterschiede zu Georg Hoyers Exposé minimal.

‚Pfingstwunder’ beendet den babylonischen Wirrwarr.

Ein multilinguales Computerprogramm ermöglicht Dialoge über alle Sprachgrenzen hinweg.

Unter dem Bild eines französischen Polizisten war zu lesen:

„Pfingstwunder“ beendet die Sprachlosigkeit im Alltag. Das Verfahren erkennt und übersetzt automatisch jeden Satz in dem Moment, in dem er gesprochen wird. Sie überzeugen den Flic in Paris, Sie verstehen den Touristen aus Japan. Experten versprechen sich Vorteile auch auf diplomatischem Parkett.

„Den Flic in Paris überzeugen,“ sagte Benno. „Da brauche ich kein Pfingstwunder. Wenn ich genügend Bordeaux getrunken habe, spreche ich sowieso fließend französisch.“

Ein Witz dritter Klasse, viel zu bemüht. Sie lächelten nachsichtig und beugten sich wieder über das Magazin. Auf der nächsten Doppelseite fanden sie unter einem bedrohlichem Gewitterhim­mel einen Text mit dunkleren Gedanken:

Gesellschaft in Schieflage:

Wenn die Güter knapp werden und für Sie nichts übrigbleibt.

So rüsten Sie sich für die Zeit des Mangels: Lernen Sie etwas, das Sie eintauschen können. Können Sie Apfelmus einkochen? / Ein Kinderkleid nähen? / Einen Wasserhahn abdichten? Wenn es hart auf hart kommt: Können Sie Pilze unterscheiden und wissen Sie, wo sie wachsen? / Können Sie angeln? Aus Bucheckern Öl pressen? Eine Kochkiste bauen? / Wo finden Sie Brennholz?

Das hätte was von Nachkriegszeit, sagte Benno, nur die Wärmestube fehle noch. Außerdem sei es nicht schlüssig. Die Güter werden knapp und trotzdem fahren die Leute mit dem Pfingstwunder nach Paris – wie solle denn das zusammengehen?

„Weil eben nur noch wenige Leute nach Paris fahren kön­nen,“ erklärte Tito, „das ist doch nicht schwer zu verstehen. Die Überschrift spricht ja selbst von Schieflage.“

„Das Ganze ist sowieso aus der Luft gegriffen,“ meinte Benno. „Ausdenken kann man sich viel. Besser, jemand würde endlich etwas gegen die Mücken erfinden.“ Er schlug sich mit der flachen Hand in den Nacken. „Verdammte Viecher, lasst uns weitergehen.“

Sie setzten ihre Wanderung fort, an den karg bewachsenen Steil­wänden entlang, vorbei an bemoostem Felsgestein, aus dem in alten Märchen der Prinz geritten kam. Hoch über ihren Köpfen schwangen sich Überlandleitungen paar­weise ins Weite. Zu dieser schläfrigen Mittagsstunde war kaum ein Laut zu hören, nur einmal, hinten auf der Landstraße, zersägte ein Motorrad den Frieden.

Sie stiegen über abgebrochene Äste, die mit welken Blättern vom Baum hingen, wichen Riesenwurzeln aus, deren Höhlen alles mögliche Getier beherbergen mochten. Eine Informationstafel am Zugang hatte Erdkröten und Ringelnattern erwähnt.

Der Gedanke an Hoyers Konzept wanderte mit, blieb aber lange unausgesprochen.

„Das ist ja wirklich ein Hammer,“ sagte Arnold schließlich. „Ich hätte nie gedacht, dass jemand so ein Projekt anfasst.“

In seinem Exposé hatte Hoyer Themen nur angerissen, aber hier waren die fertigen Artikel. Hoyers verrückte Idee war realisiert worden, unter dubiosen Umständen.

„Ob das was wird?“

„Ich würde nicht darauf wetten.“

„In ihren Prophezeiungen sind ein paar Fragezeichen zu viel – die könnten sie sich eigentlich sparen.“ Benno schien sich für das Projekt zu erwärmen. „Sie gehen doch gar kein Risiko ein. Falsche Vorhersagen werden schnell vergessen. Da kannst du unbesorgt auf den Putz hauen, wer soll dich denn zur Rechenschaft ziehen? Der Titel ist jedenfalls deutlicher; mit Haruspex hätte niemand etwas anfangen können. Wenn das Hoyers Idee ist, dann ist sie jedenfalls in kreative Hände gefallen, das muss man ihnen lassen.“

Tito hob den Kopf. „Wenn das Hoyers Idee ist,“ wiederholte er und seine Stimme klang plötzlich sehr wach, „wie kam sie dann in die Hände von Stewart+Funck?“

„Das ist wahr,“ sagte Arnold. „Wieso hat er sie nicht verkaufen können? Sie war doch offensichtlich gut genug, um einen Interessenten zu finden.“

„Vielleicht war sie gut genug, um geklaut zu werden.“

„Tito hat recht,“ sagte Benno. „Da stimmt was nicht. Der Hoyer hat eine Idee, wird sie aber nicht los, und wenig später kommt Stewart+Funck mit der ersten Nummer.“

Arnold zögerte. „Es kann ja sein, dass die Hamburger die Idee schon in der Schublade hatten und Bernkopf zuvorgekommen sind. Dann wäre Hoyer ganz einfach zu spät gekommen.“

„Das glaube ich nicht,“ erwiderte Benno. „Wenn Stewart+Funck schon an der Sache arbeitete, hätte sich das in der Branche herumgesprochen. Auch Bernkopf hätte das erfahren, und dann hätten sie es Hoyer sagen können.“

Sie ging im Kopf den Kalender durch. Wann hatte Georg Hoyer mit Bernkopf gesprochen und wann hatte Stewart+Funck das neue Magazin gestartet? Sie kamen zu dem Ergebnis, dass zwischen den beiden Terminen anderthalb Jahre vergangen waren.

„In dieser Zeit kann Hoyers Idee locker von Bernkopf zu Stewart+Funck gewandert sein,“ sagte Tito. „Auf dunklen Wegen.“

„Genau,“ sagte Arnold, „das sollten wir lieber mal genauer checken. Ich werde noch mal mit Hoyers Frau reden.“

Er konnte das Exposé, das Anne ihm seinerzeit hinterlassen hatte, nicht mehr finden – peinlich. Sicherlich würde Anne ein zweites Exemplar zur Hand haben.

Auch Anne musste erst suchen. In den vergangenen Monaten hatte sie offensichtlich das Interesse am Thema verloren; sie wusste nicht, dass eine Zeitschrift namens FUTURE auf den Markt gekommen war. Das wunderte Arnold nicht. Eine Frau von Anfang dreißig wird ihr Sinnen und Trachten in ihre eigene Zukunft richten, da kann sie nicht jeden Zeitungskiosk absuchen.

Schließlich kam sie aber mit einem Exemplar des Exposés in das verabredete Café – ein bisschen verwundert, dass Arnold auf das Thema zurückkommen wollte.

„Erzählen Sie mir doch noch mal,“ bat Arnold, als die Bedienung den Kaffee gebracht hatte, „mit wem Ihr Mann damals über seine Idee gesprochen hat. Wissen Sie noch, wen er damals besucht hat?“ Als Anne zögerte: „Was hat Georg denn damals gesagt, als er mit leeren Händen von Bernkopf zurückkam?“

Anna erinnerte sich mühsam:

„Er hat wenig gesprochen, hat nur den Kopf geschüttelt. Die hätten gesagt, sie kaufen keine Ideen. Er war ganz niedergeschlagen.“

Arnold fragte nochmals nach Georgs Gesprächspartner.

„Er hat so sehr auf den Dr. König gesetzt, mit dem verstand er sich immer gut. Aber Dr. König war nicht mehr da; da war ein anderer, ein Nachfolger glaube ich, mit dem ist Georg nicht zurecht­gekom­men.“

„Hat Georg den Namen genannt?“

„Das weiß ich nicht mehr.“

Sie erinnerte sich nicht an den Namen und wusste nicht einmal, ob ihr Mann ihn überhaupt erwähnt hatte. Arnold fand das unglaublich. Seine Sabine konnte ohne Vor- und Zunamen der handelnden Personen keine Geschichte erzählen. Menschen ohne Namen ließ sie nicht zu. Ihr Gedächtnis ersetzte Arnold ein halbes Notizbuch. Wenn er überlegte, wie der Mann hieß, den sie vor acht Wochen am Rhein getroffen hatten: Sabine gab Auskunft, sofort.

Eine solche Begabung auf Seiten der Anne Hoyer hätte Arnold jetzt geholfen. So aber würde es richtige Ermittlungsarbeit werden. Wie um Gotteswillen sollte er jetzt, fast zwei Jahre später, herausfinden, wie Hoyers Idee zu Stewart+Funck in Hamburg gekommen war?

Als er mit den beiden anderen wieder unterwegs war, fasste Arnold zusammen:

„Erstens: Georg Hoyer hat im Mai vorigen Jahres bei Bernkopf vorgesprochen. Zweitens: Der Mann, dem er seine Idee präsentierte, wusste offensichtlich nichts von einer ähnlichen Entwicklung bei Stewart+Funck. Drittens: Wenn Stewart+Funck schon damals daran gearbeitet hätte, hätten sie nicht bis heute gebraucht, um damit herauszukommen. Das heißt viertens, sie haben das Thema erst angefasst, nachdem Hoyer bei Bernkopf war. Allerdings denke ich, wir haben es hier nicht mit einer zeitlichen Abfolge zu tun, sondern mit Ursache und Wirkung.“

„Und das heißt im Klartext?“ wollte Tito wissen.

„Im Klartext heißt das fünftens, dass Stewart+Funck das Thema nicht angefasst hat, nachdem Hoyer bei Bernkopf war, sondern weil er bei Bernkopf war. Sie mussten die Idee nicht selbst entwickeln – sie wurde ihnen fertig angeliefert.“

„Aber nicht von Hoyer,“ sagte Tito.

„Natürlich nicht von Hoyer. Die Frage ist nur, von wem.“

Sie hatten jetzt die Wahl. Sie konnten genauer hinsehen, was da eigentlich passiert war oder sie konnten das Thema fallen lassen; es ging sie eigentlich nichts an.

Es ging sie sehr wohl etwas an. Dem Hoyer war geistiges Eigentum gestohlen worden, das konnten sie nicht dulden. Das Gefühl, für eine Leistung zu billig abgespeist zu werden, kannte jeder der Drei. Aber eine Idee zu liefern und dann mit nichts in die Wüste – und gar in den Tod! – geschickt zu werden: Das war zu arg.

„Wenn es denn so war.“ Arnold wollte ein letztesmal zur Vorsicht mahnen. „Vielleicht haben wir irgendwas übersehen?“

„Hör mal,“ sagte Benno. „Wenn du nicht weißt, wo deine Uhr geblieben ist und wenig später bietet jemand diese Uhr auf der Straße an, dann kannst du doch wohl folgern, dass du bestohlen worden bist.“

Sie mussten bei Bernkopf anfangen. Sie mussten herausfinden, mit wem Hoyer gesprochen hatte. Laut Anne Hoyer hatte ein einzelner Mann den Ausschlag gegeben.

„Das können wir nicht direkt fragen,“ sagte Tito. „Da müssen wir anders vorgehen.“

„Wir müssen konspirativ vorgehen,“ ergänzte Benno.

„Konspirativ, na klar.“ Sie lachten, aber Benno hatte natürlich recht. Wenn sie dem Dieb auf die Schliche kommen wollten, mussten sie sich bedeckt halten.

Drei zornige alte Männer

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