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2. Kapitel

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So lange war es still gewesen. Sie hatte in aller Ruhe dafür sorgen können, dass ihre Behausung in Ordnung war, dass sie nur so viel aß, dass sie nicht noch mehr in die Breite ging, und gestört hatte sie schon lange niemand mehr. Mit ihren Nachbarn hatte sie keinen Kontakt. Es ergab sich einfach nicht. Worüber hätte sie sich auch unterhalten können, erlebte sie doch nicht genug, um für andere interessant zu sein! Aber heute ging es in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft drunter und drüber! Was war los? Kam die Müllabfuhr zu früh oder an einem falschen Tag? Sie war nicht so neugierig, dass sie nachschaute, sondern zog sich abwartend zurück. Und genau da wurde zugegriffen! Sie hatte das Gefühl einen Alptraum zu haben, als es wackelte und ruckte, knallte, stieß und plötzlich dunkel wurde, sehr dunkel sogar! Und dann kam sie ratternd vorwärts, ohne ihre Beine zu benutzen. Ein merkwürdiges, unbekanntes Gefühl! Durch die breite Tür über ihr, war das Ungeheure hereingebrochen, und dann schien sie zu fliegen, wie besinnungslos zu schweben! Nach einer ganzen Weile ruckte es noch einmal kräftig unter ihr, so dass sie Mühe hatte, die Balance zu halten. Sie verharrte wie gelähmt und wartete ängstlich, was nun geschehen würde. Der Tumult, in den sie dann geriet, als sie sich endlich aus ihrer vertrauten Umgebung wagte, war beängstigend! Es herrschte ein maßloses Durcheinander. Dazu kam, dass es jetzt hell wurde, viel heller als sie es gewohnt war. Es drängte sie, sich zu bewegen, und sie irrte herum, lief dorthin, kehrte rasch um und drückte sich schließlich in einen Hauseingang. Sie war grau gekleidet. Wie immer! Niemand schien sie zu bemerken, denn sie machte keinerlei Geräusche und machte sich auch sonst durch nichts bemerkbar. Vielleicht war das ihr Glück im Unglück! Die Haustür öffnete sich. Unbemerkt war sie rasch nach vorn ausgewichen und bewegte sich jetzt auf dem Fußweg, vorbei an langen Tischen und zwischen Kartons hindurch, in denen Unruhe und Neugierde wühlte. Sie war besonders darauf bedacht, nicht angerempelt, gestoßen und getreten zu werden, was zwischen den Gegenständen und der vielen Menschen einer großen Geschicklichkeit bedurfte. Neben ihr polterte etwas zu Boden! Es hätte ihr auf die Füße fallen können. Nicht auszudenken! Niemand bückte sich danach. Sie lief gehetzt von einer Seite zur anderen. Es war beschwerlich, dabei nicht die Richtung zu verlieren, obwohl sie überhaupt nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Dann war es ihr gelungen, eine gewaltige Strecke Asphalt zu überqueren, über die die Autos im Schritttempo rollten, weil sie durch einen Menschenpulk daran gehindert wurden, an Tempo zuzulegen. Am Bordstein angekommen, hielt sie neben einer Anzahl alter, rostiger Gartenstühle inne, die an eine Straßenlaterne gelehnt waren. Sie war unglücklich und wurde zunehmend unruhiger! Es war nicht nur der Verlust ihrer Wohnung, der ihr zu schaffen machte, sondern auch der ihres silbernen Zierrates, an dem sie ganz besonders hing. Sie hatte nur das bei sich, was sie am Leibe trug und nun nicht die Muße, sich hier noch länger aufzuhalten. Sie musste eine neue Bleibe finden und entschloss sich, den Zebrastreifen zu überqueren, der hier über die Straße führte. Zusammen mit Menschen in leichter, heller Sommerkleidung und in Turnschuhen, Halbschuhen, Sandalen und Stiefeln, lief sie los. Es war heiß und viele trugen wie sie, keine Strümpfe. Und zwischen diesem Gewusel wurde sie von enormem Glück begleitet, denn die Menschen ließen sie, wenn auch völlig unbeachtet, so doch mit ihnen gehen. Sie schaute vor sich auf den Boden und bekam zu spät mit, dass vor, neben und hinter ihr abrupt stehen geblieben wurde!

Und niemand warnte sie! Niemand rief Achtung, Vorsicht oder Halt! Und so lief sie allein weiter und weiter und somit in ihr Verderben! Sie erlag sofort und gut sichtbar, auf einem der weißen Streifen, die abwechselnd mit den schwarzen Streifen der Sache über die Straße einen Tiernamen gaben, ihren schweren Verletzungen! Der Tod hatte mit einem der hinteren Firestonereifen eines

schwarzen Kleinwagens, dessen Fahrerin wegen der erworbenen rostigen Gartenstühle sehr langsam den Zebrastreifen überquert hatte und dann am Bordstein hielt, nach ihr gegriffen.Ihr Schicksal wurde nicht einmal bemerkt! Und es gab auch niemanden, der bleich vor Kummer für sie schwarz tragen würde. Die schmierigen Reste ihres dicken Leibes und ihrer vielen, langen Beine, wurden wenig später exakt ins Sohlenprofil eines braunen Turnschuhs gedrückt, der sich mit schnellen Schritten fortbewegte und schließlich bei dem Zelt der Feuerwehr für Erbsensuppe mit Wursteinlage anstand. In ihrer verlassenen Behausung stöberte wenig später eine Männerhand nach Schätzen, fand ein Schriftstück und las: „Spinnenansichten.“ Ich habe nur dies eine Leben und das besteht aus Netze weben. Ich habe niemals nachgedacht, was mir wohl sonst noch Freude macht, als still zu sitzen, voller Gier, zu warten, auf das nächste Tier, das ahnungslos, nichts Böses denkt und sich in meinem Netz verfängt. Wo es dann voller Angst und Pein, mich anfleht, nicht so grob zu sein, wenn ich es beiße und verschnüre und es zum Mund genüsslich führe. Und hab ich es dann ausgesaugt, dass es für andres nicht mehr taugt, dann fürchte ich, gleich einzunicken, ich wollt doch in die Zukunft blicken! Der Christo packte Sachen ein, ins Netz fliegt mancher Fußball rein, und Kirschen werden abgedeckt und unter Netzen gut versteckt. Netzhemden trägt, wer Kühle mag, Netzstrümpfe gern am Faschingstag. Ins Einkaufsnetz legt man den Kohl, ein Netz sorgt fürs Artistenwohl. Mein Netz, das ich für mich nur webe, ist alles, wofür „ich“ so lebe. Auch wenn ich ständig neu beginne, ich bin und bleibe eine Spinne! Ich werde ganz bestimmt wie eben, auch in der Zukunft Netze weben! Vom Leben kann ich nichts verlangen, als immer nur Insekten fangen! Und wenn ein dürrer Spinnerich, signalisiert, ich liebe dich, wird er benutzt, und ich weiß mehr, ich! sterbe niemals beim „Verkehr!“ Ein Dompfaff mit hellroter Brust, hat irgendwann auf mich dann Lust! Die „Spinnenansichten“ unterlagen einem gewaltigen Irrtum und kosteten 2o Cent auf dem Flohmarkt.

Er war hässlich! Nicht nur äußerlich! Sie kam nicht umhin, das irgendwann festzustellen! Seine Fingerspitzen bogen sich nach oben. Ein Zeichen für grenzenlosen Egoismus, hatte sie mal irgendwo gelesen. Da ist Vorsicht geboten, da kann es seelische Verletzungen geben! Und die schmerzten und hinterließen Narben! Er hatte geschickt flache, silbrige Täfelchen ineinander gefügt, aus denen er die Tabletten gedrückt hatte, die er täglich schlucken musste. Ein glänzendes Gebilde türmte sich mit roter und blauer Aufschrift hinter den Glastüren eines schmalen Schrankes. Sie sagte nichts dazu. Warum eigentlich nicht? Ein Stück helle Pappe lag neben einer Zuckerdose aus dem Tal der Rosen. Mit ihm wurden Fliegen, Mücken, Spinnen und anderes winziges Getier mit enormer Abneigung eingefangen und durch das nur einen Spalt weit gekippte Fenster und einem ausgeklügelten Balanceakt nach draußen befördert. Mit akrobatischem Einsatz und enormer Konzentration, wurden sie in halbstündigem Abstand gesucht, entdeckt, überlistet und mit einer Taktik eingefangen, die nicht zu überbieten war.

Sie war amüsiert! Das durch den hellen Vorhang gefilterte Tageslicht fand seinen Weg nur träge bis in die Ecken des Zimmers, in dem es keinen freien Fleck mehr in der Ansammlung von Dingen, Dingen und noch mehr Dingen gab. „Hast du das gehört? Der schurrt schon wieder! Das macht der mit den Stuhlbeinen, wenn er aufsteht. Obwohl ich dem schon so oft gesagt habe, dass es mich stört, macht er es immer wieder - auch nachts!“ Er lachte kurz und verzweifelt auf seine Füße und dann hilflos in die bedrückende Enge des Zimmers. „Ich schlafe sowieso so schlecht, und ich habe das Gefühl, der macht es gerade nachts absichtlich, nur um mich zu ärgern! Ich schwitze dann so sehr vor psychischer Anstrengung, dass ich mein Bett neu beziehen muss! Und schuld daran ist er! An der Wohnungstür nebenan tat sich jetzt etwas! Die personifizierte Intoleranz verließ ihre Wohnung.

Der Schlüssel wurde zweimal umgedreht. „Der geht jetzt!“ Er trippelte rasch auf Zehenspitzen an seine Wohnungstür, presste das rechte Ohr an den vergilbten Schleiflack und belauschte und zählte dabei die Stufen, die der ungeliebte Nachbar hinuntertapste. Während seiner Lausch- und Zählaktion befummelte er nervös den braunen Filzstreifen, der vor dem Schlüsselloch hing, um schlechte Energien abzuhalten, die seiner Meinung nach außerhalb seiner vier Wände ihr Unwesen trieben. Jetzt drehte er sich zu ihr um und hörte, dass die Haustür geöffnet wurde und dann mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. „Er ist weg!“

Seine aufgerissenen Augen signalisierten Freude. Mit großer Erleichterung wollte er sich setzen, aber sofort setzte neuer Ärger ihm zu! Mit wenigen Schritten war er am Fenster, weil ein Auto hinter das Haus auf den Hof fuhr und vor dem Eingang zu den Kleingärten parkte. „Der stellt sich doch schon wieder falsch hin, das ist nicht zu glauben!“ Er kicherte gereizt und war zu feige, das Fenster ganz zu öffnen, um seinen Unmut hinauszuschreien. Er lugte durch den schmalen Spalt der Vorhänge, bemüht, nicht entdeckt zu werden. „Das macht der immer“, stöhnte er! „Ich ärgere mich jeden Tag über ihn. Der ist so stumpf, der merkt nicht mal, wie es mich aufregt!“ Er setzte sich jetzt wieder und machte einen erschöpften Eindruck. Seine stechenden Augen, die die Farbe des gewürfelten Glibbers hatten, den man zu Schweinebraten kaufen kann, fixierten das italienische Glasschälchen auf dem Tisch. Von diesen Schälchen hatte er einige angeschafft und machte viel Gewese darum! Sie beobachtete ihn weiterhin interessiert! Durch seine Verrücktheiten erfuhr sie bei sich eine ungekannte Wachsamkeit! Begierig wartete sie auf noch mehr Auffälligkeiten an ihm! Sie brauchte nicht lange zu warten, denn jetzt nahm er einen kleinen, hellbraunen, matten Stein, der mit einigen anderen auf dem runden Tisch lag, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und fuhr mit ihm durch die Rille zwischen Wange und Nasenflügel.

Zuerst rechts, dann links! Vom Talg seiner Haut wechselte der Stein in wenigen Augenblicken die Farbe. Er war jetzt dunkelbraun und glänzte fettig!

„Wie schön er jetzt ist!“ Zufrieden drehte er ihn hin und her. Sie fand es widerlich und antwortete nicht. Warum eigentlich nicht? „Komm, ich zeige dir etwas!“ Er war bemüht, sich nicht wieder das Schienbein am Bett zu stoßen und öffnete die Tür zu dem kleinen Flur und dann die zum Badezimmer. Dabei musste er sich bücken, weil am Türrahmen der alte schmuddelige, braune Cordmantel seines Großvaters väterlicherseits, hing. Der Großvater hatte ihn nie leiden können. Trotzdem war es ihm nicht möglich, sich von dem Mantel dieses längst verblichenen Vorfahren zu trennen. Über der Badewanne hing alles Mögliche, das er nun beiseite schieben musste, damit sie sehen konnte, was ihn mindestens drei Stunden Arbeit gekostet hatte! Er gab merkwürdige Erklärungen ab, ohne dass sie wusste, wovon er sprach, bis er auf einen kleinen, weißen Wall aus Silikon zeigte, der auf dem Badewannenrand so angelegt war, dass das Wasser, das sich beim Duschen dort sammelte, nicht außen an der Wanne herunter und dann auf den Fußboden laufen konnte. Sie unterdrückte einen Lachanfall! Warum eigentlich? Er war so hektisch stolz auf diesen Mist, dass sie auf ihren Verdacht, ob er noch alle Tassen im Schrank hätte, verbal verzichtete. Warum eigentlich? Er stand jeden Morgen in der dunkelsten Ecke seines einzigen Zimmers mit weit

aufgerissenen Augen auf dem Kopf, bis seine Stirnadern dick anschwollen und an Regenwürmer erinnerten. Währenddessen qualmte die immer gleiche Sorte Räucherstäbchen, deren intensiver Geruch ihn, von ihr unterwegs gerochen, in eine eigenartige, fast unangenehme Erinnerung brachte. Er hatte drei Pullover in Schmuddelfarben, die er umschichtig trug. Aus Mangel eines Kleiderschrankes, bewahrte er sie über der Lehne seines einzigen Stuhles auf, so dass nur der obere Pullover den ihm anhaftenden ranzigen Tragegeruch an die Zimmerluft abgeben konnte. Er hatte nun vor, eine Mahlzeit zuzubereiten und mit großem Getue und viel Umstand einen Wein unter drei Flaschen auszuwählen, als hinge der Weltfrieden davon ab. Um an deren Lager zu kommen, war er auf alle Viere geschrumpft, und sie konnte seine fahle Kopfhaut durch das schüttere Haar sehen. Er hatte so gar keine Haarfarbe, vielleicht Straßenköter, war aber im Nacken gut ausrasiert. Dann besprach er enorm wichtig mit sich selbst die Zubereitung der beiden Paprikaschoten und holte dazu den rechteckigen, durchwachsenen Speck im Pergamentpapier hervor, den er vom Wochenmarkt bis in seinen Kühlschrank transportiert hatte. Er drückte ihn mit zupackender Hand, wie einen Flüchtenden, auf das Holzbrettchen, um ihn, und das war eine Meisterleistung, an der langen Seite, in sehr dünne Scheiben zu schneiden. Das dauerte unter seinen druckreif verfassten Erklärungen dazu, mindestens eine halbe Stunde. Sie war gespannt darauf, was er mit den dünnen Speckscheiben zu tun beabsichtigte. Ob er sie um die Paprikaschoten wickeln wollte oder sie cross gebraten daneben oder drüberlegen würde. Umso sprachloser stand sie da und traute ihren Augen nicht, als er sich anschickte, aus den mühevoll zugeschnittenen, dünnen Scheiben, winzige Stücke zu schnippeln. Er ist so entsetzlich dämlich, dachte sie, verkniff sich aber, das auszusprechen. Warum eigentlich? Während er in der Pfanne rührte, sprach er von der kleinen Flasche neben der Spüle, in die er Geschirrspülmittel gefüllt hatte. Es war ihm gelungen, auszurechnen, wie viele Tropfen er davon bei jedem Abwasch verbrauchen durfte, um genau ein Jahr damit auszukommen Ihr fehlten die Worte für diesen Irrsinn! Warum eigentlich? Beim Essen redete er über allerlei Gelesenes. Er schluckte alles, was er las als richtig und wahr, machte sich keine eigenen Gedanken, sondern plapperte eifrig nach. Als sie das entdeckte, musste sie ihre Meinung, er sei intelligent, revidieren. Als Registrator verstaubte er, wie die Akten, für deren ordnungsgemäße Unterbringung in hohen, langen Regalen er zu sorgen hatte. Seine Dummheit machte sie häufig zornig, und sie verlor mehr und mehr die Achtung vor ihm, schwieg jedoch. Warum eigentlich?

Nach dem Essen bekam er jedes Mal diesen blöden Gesichtsausdruck!

Nicht wegen seines gefüllten Magens, der ihm einen großen Teil seines Blut aus dem Gehirn abzog. Als seine Augen denen eines Kalbes in lebensbedrohlicher Lage glichen, sprach er vom Zusammenlegen, wobei sie nicht umhin konnte, an Bügelwäsche zu denken. Doch dann wurde sie von der Sucht nach dem beglückenden Körpergefühl getrieben, das sie durch ihn erleben würde und das sie immer wieder zu ihm trieb. Er machte seine Sache gut! Seine leidenschaftlichen Küsse tobten über ihren Körper. Und dann verweilten sie dort, wo sie sich nach ihnen sehnte. Sie dachte nur für einen winzigen Augenblick an den Wels im Aquarium ihres Bruders, als sich ihre Augen schlossen und sie nur noch fühlte.

Und er war davon überzeugt, genau das richtige zu tun, bis einer seiner Vorderzähne zu wackeln begann. Einen Tag später büßte er ihn dann auch tatsächlich ein! Wochen später wurde ihm mit Genehmigung der Krankenkasse und einer ordentlichen Dosis Betäubungsmittel ein Stiftzahn in die Lücke gesetzt.

In seinem verdunkelten Zimmer und unter Schmerzen redete er danach wirres Zeug zwischen die grünen Fäden in seinem Zahnfleisch. Er lag auch wieder mit seinem Vater im Streit. Jedes Mittel war ihm recht und schien ihm großes Vergnügen zu bereiten, diesen Zustand so lange wie möglich aufrecht zu erhalten!

Er hasste seinen Vater abgrundtief, auch, weil der ihn in der Pubertät argwöhnisch und hinterlistig belauert hatte, um dann bei seinem „ersten Mal“ mit Elvira hinter einem Vorhang verborgen, dabei zu sein. Er hatte sich seit Wochen nicht rasiert und war jetzt enorm rothaarig an Gesicht und Hals. An einem sonnigen, herrlichen Sommertag verbarg er sich zwischen seinen Büchern und dem anderen Kleinkram und ließ, noch im langen Nachthemd und vom dünnen Rauchfaden des glimmenden Räucherstäbchens umnebelt, verlauten, dass er sehr zerbrechlich sei und lieber zuhause bleiben wolle. Obwohl sein untersetzter Körper an behaupteter Schwäche zweifeln ließ, und es sie drängte, eiligst aus diesem diffusen Licht und seiner widerlich leidenden Präsenz zu verschwinden, tat sie verständnisvoll!

Warum eigentlich? Und er wusste es! Er wusste es ganz genau! Diesen Tag hatte er ausgesucht, um sie zu enttäuschen und wieder einmal auszuprobieren, wie sie darauf reagierte! Sie durchschaute sein Spiel und war jetzt in Alarmbereitschaft!

Konnte er machen was er wollte? Konnte er immer sagen, was er wollte?

Nahm sie alles hin, ohne sich zu wehren? Vor einiger Zeit hatte er am Telefon von einem einfachen Kinderreim geschwärmt, bei dem es um ein Blümchen auf der Wiese ging. Sein Herz quoll dabei vor Rührung über. Kopfschüttelnd hatte sie ihm zugehört, und sie war sich nicht sicher gewesen, ob er sie veräppelte. Ihr Taktgefühl hinderte sie daran, ihm zu sagen, dass er sich doch einmal auf seinen Geisteszustand hin, untersuchen lassen sollte! Warum eigentlich? Ein paar Tage später schickte er ihr in einem großen, braunen Umschlag mit der Post einen Stapel Liebesgedichte aus aller Welt. Von ihm selbst war keine einzige Zeile!

Er hatte Wort für Wort abgeschrieben. Würde sie ihm niemals sagen, was sie tatsächlich von ihm hielt? Der Zwang, ihm auf Biegen und Brechen gefallen zu wollen, nagte an ihr, und seine geringe Zuneigung war für sie überlebenswichtig.

Warum eigentlich? Wie lange würde der Stein, der bleischwer in ihr drückte, noch schmerzen? Eines nachmittags waren sie draußen herumgelaufen, und sie machte den Fehler, lauthals ihren großen Hunger mit dem eines Bären zu vergleichen, als sie sich, kaum zurück in seiner Behausung, am Türpfosten zum Badezimmer stehend, leidenschaftlich ineinander verflochten, bevor es etwas zu essen geben sollte. Die dicke Nudelsuppe mit pochiertem Ei, die er danach mit großem Theater gekocht hatte, dampfte in der großen Tasse, aus der sie beide löffeln wollten. Sie hatte fest mit seiner Höflichkeit, weniger mit seiner Fürsorge gerechnet und sich darauf eingestellt, als erste von der Suppe zu bekommen. Voll unterdrückter Gier nach Nahrung und Fassungslosigkeit über seinen Geiz, sah sie dann dabei zu, wie er einen Löffel voll nach dem anderen in seinem Mund verschwinden ließ und dabei Laute des Genusses von sich gab, wenn die Suppennudeln über seine Zunge flutschten und sich seine Zähne in das samtene Eigelb drückten. Er genoss ihre Qual, ihren Hunger ertragen zu müssen, und sie zwang sich zur Gleichgültigkeit und verweigerte sich dann lächelnd, zu essen, als er ihr schließlich die beinahe leere Tasse reichte. Sie verdarb sein Spiel und ließ ihn wissen, dass sie inzwischen über den Hunger hinweg sei und ihm auch noch den Rest der Suppe von ganzem Herzen gönnte! Warum eigentlich? Sie kannte ihn inzwischen gut! Er tat fürsorglich, wenn er sich geradezu aufdrängte, ihr die Scheibe Brot mit Butter zu bestreichen, bis sie herausfand, dass es ihm lediglich darum ging, dass von der Butter nicht „irgendwo“ weggenommen wurde, und sie dadurch die immer gleiche Form eingebüsst hätte, die er dem Butterstück schon tagelang zugedacht hatte. Und sie wusste schon längst um die Gemeinheiten, die er sich ausdachte, um sie zu demütigen. Da war zum Beispiel der Veilchenstrauß! Er hatte ihre Einladung zum Essen wie selbstverständlich angenommen, weil er fand, dass er sie verdiente, nachdem er den lockeren Außenspiegel ihres Autos mit einem Bindfaden festgezurrt hatte, damit sie bis in die nächste Werkstatt fahren konnte.

Es zog ihn in ein Lokal, das von ihm wohl schon mehrmals ohne sie besucht worden war. Sie war damit einverstanden. Warum eigentlich? Sie aßen griechisch, und als sie sich gesättigt zurücklehnten, winkte er dem Ober. Während sie gespannt darauf war, was er vorhatte, bestellte er sich das gleiche Gericht noch einmal, obwohl er wusste, dass sie wenig Geld hatte. Sie war so sprachlos und starrte ihn an und erfuhr, während er ihr Unbehagen genoss, dass er sich auch erst neulich wieder zweimal Scholle bestellt hatte, als er einer Einladung seiner Patentante gefolgt war, die das von ihm aber schon gewohnt war. Der Ober war sehr verwundert, aber umsatzfreudig und eilte in die Küche. Sie fand auch diesmal wieder keine Worte! Warum eigentlich nicht? Eine Überraschung war die vollbusige Bauchtänzerin, die auf der freien Fläche vor dem Tresen erschien. Von oben bis unten goldglänzend, wiegte sie heftig ihre fleischigen Hüften, hatte ein zauberhaftes Lächeln für die wenigen Gäste und gab bei orientalischer Musik ihr Bestes! Er geiferte, während er die zweite Portion Couscous mit Hühnchen verschlang. Ihr war elend zumute! Er ließ die Augen nicht eine Sekunde von der Bauchtänzerin, hatte seine Begleitung völlig vergessen, als die Tür geöffnet wurde und ein weißer Korb mit Veilchen erschien. Er kaufte einen der kleinen, duftenden Sträuße, und sie war voller Erwartung, was umgehend auf sie zukommen würde. Dazu erhob er sich, ging einige Schritte nach vorn, drehte sich jedoch nicht zu ihr um, sondern legte die tiefdunklen Veilchen der Bauchtänzerin mit einer tiefen Verbeugung in die Hände.Ihm entging oder er genoss, dass hinter seinem Rücken schmerzhaft gestorben wurde! Still und gequält saß sie da und dachte an die vielen Verletzungen und auch wieder an die Party! Seine Exfreundin hatte nach der Trennung noch dieselben Freunde wie er. Und ein gemeinsamer Freund feierte seinen Hochzeitstag. Sie hatte zugestimmt, ihn dorthin zu begleiten. Warum eigentlich? Sie tat, als machte es ihr nichts aus, und weil sie niemanden kannte, alle aber die Exfreundin, hielt sie sich in seiner Nähe auf, um sich nicht so verloren zu fühlen. „Ich hole etwas zu essen“, sagte er. Sie hatte Hunger! Wenig später fiel sie auf das herein, was er sich für sie ausgedacht hatte und streckte die Hände nach dem Teller aus, der von ihm gefüllt, dann aber an ihr vorbei getragen wurde, mit der hämischen Bemerkung: „Der ist für meine Ex!“ Der Hieb trieb sie zur Garderobe und zum Griff nach ihrem Mantel. Auf wackligen Beinen rannte sie aus der Tür in den regnerischen Abend. Sie saß in ihrem Auto, das sie unweit dieser Szene geparkt hatte und konnte die Tränen der Kränkung und Zurückweisung nicht mehr zurückhalten. Eine Frau mit langem, blondem Zopf, rannte aus der Haustür, dann die Steinstufen hinunter und sah sich in der Dunkelheit nach ihr um. Sie erwähnte, dass sie Psychologin war und hatte jetzt einen Fall. „Warum lässt du das mit dir machen?“ Ja, warum eigentlich? Mit beruflichem Geschick gelang es ihr, sie zur Rückkehr zu bewegen. Die hohen Räume lagen in diffusem Licht, als er lächelnd die Hände nach ihr ausstreckte, die sie wie einen rettenden Strohhalm ergriff! Warum eigentlich? Seine Lust, zu kränken, war an diesem Abend noch nicht befriedigt, und er fand gezielt sein nächstes Opfer, wobei ihn die Psychologin mit beruflichem Interesse beobachtete. Er hatte sich einen schmalen, blassen jungen Mann ausgesucht, den er lauthals darüber aufklärte, dass er charakterschwach sei und seine tief liegenden Augen darüber Auskunft gäben, dass er wegen seiner Sünden schon etliche Male wiedergeboren worden wäre. Er hätte jedoch in diesem Leben die Gelegenheit, etwas zu lernen und solle doch diesmal die Chance nutzen! Sein Opfer reagierte perfekt für ihn! Sprachlos in der ebenfalls sprachlosen Menge, rötete sich sein Gesicht, und er war unfähig, sich zu wehren! Warum eigentlich? Sie fütterte noch monatelang seine Neurosen. Der Hunger nach Zuneigung, ihre Verlustangst und die Furcht vor Zurückweisung halfen ihm dabei. Doch dann half die Fülle seiner Gemeinheiten, Demütigungen, Verletzungen und Lieblosigkeiten ihr dabei, ihm gegenüber eine Gleichgültigkeit zu entwickeln und den Mut und die Kraft zu haben, sich zu vertrauen und auf ihn zu verzichten! Und so geschah es, dass er eines Tages nach einer Situation, die ihn wegen seiner gekränkten Eitelkeit wahnsinnig machte, mit einer roten Rose den Bahnsteig entlang und hinter ihr her rannte. Er war zu langsam und steckte im letzten Augenblick eine dunkelrote Rose in den Schlitz, der sich schließenden U-Bahntür, hinter der sie für immer aus seinem Leben verschwand! Seine Arme hingen hilflos an ihm herunter, und er starrte mit ungläubigem Blick der abfahrenden U-Bahn hinterher, während sie sich längst umgedreht, endlich von ihm befreit und erleichtert, tief durchatmete!

Und an ihrer Stelle verlor diesmal die Rose jeden Halt, als sich an der nächsten Station die Tür öffnete und fiel zwischen Bahn und Bahnsteig auf die Geleise.

Ich möchte mich mit in dein Leben legen, ganz still sein und mich nicht bewegen. Und möchte hinter deinen Türen, die Reste deines Lebens spüren. Und kennen möchte ich von dir, was ungelebt, noch schwach in deinem Dunkel schwebt.

Die Tiefen deiner Tiefen möcht’ ich sehn, und mit dir unberührte Wege geh’n.

SINN FLUT

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