Читать книгу SINN FLUT - Gloria Fröhlich - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеLillis Fantasie brodelte in ihr wie ein dicker, sämiger Eintopf und drohte überzukochen, wenn sie nicht großzügig daraus schöpfte: Hochsommerliche Schwüle lag über der Stadt. Der Himmel schrie mit tiefem Blau über die Grünspandächer der Geschäftshäuser. Es war windstill. Träge floss der Verkehr. Sie stand an der Treppe, die nach unten zur U-Bahn führte. Vor ihr verschmolzen vier Straßen mit weichem Asphalt zu einer breiten Kreuzung. Sie würde noch fünf Minuten warten. Wenn er dann nicht käme, würde sie gehen. Türkis war ihre Lieblingsfarbe. Im Schaufenster hinter ihr, verwischten sich die Konturen. Ihre türkisen und die der Lindenbäume am Ufer der Binnenalster. Etwas Warmes berührte von einem zum anderen Augenblick ihren Handrücken, und zart wie eine Feder im Abendwind, gleich noch einmal an anderer Stelle. Sie schaute auf ihre Hände und starrte auf dunkelrotes Blut! Ihre entsetzten Augen, die jetzt nach oben gerichtet, nach einer Erklärung suchten, trafen auf weitere Bluttropfen, die aus einem taumelnden Schwan am Himmel regneten und nun von blutverschmierten, tanzenden Federn begleitet wurden. Der Schwan, der mit drei anderen am tiefblauen Himmel unterwegs war, schlug wild mit seinen Flügeln, von denen einer nur noch unzulänglich an blutigen Hautfetzen funktionierte. Der Schwan drehte sich wie im Sog eines Strudels und schrie aus Leibeskräften, während sich die anderen Schwäne mit kräftigen Flügelschlägen mehr und mehr in Richtung Außenalster von ihm entfernten. Zur Salzsäule erstarrt, ließ sie zu, was dann geschah! Entsetzt verfolgte sie, wie sich in wenigen Sekunden der Abstand zwischen ihr und dem schweren, blutverschmierten, schreienden, großen Vogel dramatisch verringerte und im nächsten Augenblick auf sie herabstürzte.
Sie fühlte einen kräftigen Schlag, dann seine Körperwärme, fühlte, wie sich der lange Schwanenhals wie ein Lasso um den ihren schlang, der gellende Schrei ihre Ohren betäubte, warme Rinnsale von Blut über ihr Gesicht liefen und es mit einem festen Federfächer bedeckte, als sie taumelnd zu Boden ging. Sie riss die Augen weit auf und starrte wie durch Opalglas in den sonnigen Nachmittag. Kraftlos und unfähig, sich zu bewegen, lag sie ausgestreckt unter dem sich wälzenden Tier, das mit großen, flachen Füßen ihre Brust betrampelte, um Halt zu finden und sich immer wieder schwerfällig aufrichten wollte, was ihm jedoch misslang. Ihre Arme lagen nicht schützend um ihren Kopf! Sie hörte Stimmen, dann kleine, spitze Schreie ganz nah und weiter hinten und viele eilige Schritte. Hände griffen jetzt beherzt zu, nahmen keine Rücksicht auf die schmerzende Flügelverletzung, beschmierten sich mit Blut, und zerrten den in Rotschattierungen leuchtenden und kämpfenden Schwan von ihrem zitternden Körper. Jetzt versperrte ihr eine Horde Beine in langen Hosen und Nylonstrümpfen die Sicht auf die Binnenalster! Türkis war ihre Lieblingsfarbe, und sie erschrak über das flächige Blutrot an sich und ringsum. Wenn er in fünf Minuten nicht gekommen wäre, hatte sie gehen wollen. Er kam nicht! Dafür kam der Schock! Sie konnte nicht gehen, wie sie es sich vorgenommen hatte. Mit Blaulicht wurde sie gefahren! Wie wünsche ich mir doch so sehr, dass das Gewimmer, das ich höre, vielleicht von einem Engel wär’, der sich im Himmelshoch verlöre. Und hoffnungsvoll, es möge sein, taucht suchend nun mein Augenpaar, ins dunkle Tief des Himmels ein und wandert durch die Sternenschar. Sucht weiße Flügel und nicht klein, den strahlend schönen Heil’genschein. Sternschnuppen gleiten in ihr Grab, zerfallen in der Ewigkeit und lenken von dem Engel ab, der dort hoch oben, wie mir scheint, mit kleinen Seufzern Tränen weint. Ich muss ihn haben, will ihn finden und hielt ihn tröstend gern im Arm. Und Worte würden uns verbinden, doch ach - es ist ein Gänseschwarm! Der ruhig seine Bahnen zieht! So einer von den niemals müden, mit einem Reiseklagelied, auf seinem langen Weg nach Süden! Und meine Sehnsucht stirbt im Wind, durch Gänse, die kein Engel sind. Am Abend, als der Sonnenuntergang die Spalierobstplantage mit fadenscheinigem Brokat behängte, vertraute sich eine Obst- und Gemüsebäuerin aus den Marschlanden wohlüberlegt und mit gedämpfter Stimme ihrem polnischen Pflücker an: „Weißt du, mit wem ich nicht tauschen möchte?“ „Nein!“ „Mit Äpfeln und Birnen, mit Erdbeeren, Tomaten, Gurken, nicht mit Kirschen, nicht mit Pflaumen und auch nicht mit Kürbissen, ja und mit Mirabellen auch nicht!“ „Und warum nicht und warum solltest du?“„Ich möchte das nicht, weil sie in der Blüte ihres Lebens zwar über eine nicht zu übersehene Selbstverständlichkeit verfügen, in der Realität aber völlig unkritisch mit sich selbst noch nicht das verkörpern, was sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie das Ichbewusstsein ihrer ganz individuellen Persönlichkeit entwickelt haben, tatsächlich nicht nur vorgeben zu sein, sondern tatsächlich dann auch sind! Hast du das begriffen?“ „Ja, wenn ich so überlege, begreife ich das schon. Ich
„begreife“ im wahrsten Sinne des Wortes ja beinahe jede Frucht. Aber weißt du, was mich jetzt zutiefst erschüttert?“ „Nein, aber sprich ruhig ohne Scheu!“ „Mich quält, dass sie dann ja sofort „in die Kiste“ gehen, eine Tragik, die wir bei der Beurteilung ihrer Lebenssituationen auf keinen Fall vergessen sollten!“ Purpurner Sonnenrest wälzte sich über gelbes durch Unkrautvernichter seiner ursprünglichen Farbe beraubten Grases und dahingeraffter, schlapper Brennnessel zwischen den Spalierobstbäumen, als der polnische Pflücker mit gekräuselter Stirnhaut bat:
„Wo wir uns geistig gerade so nahe sind, kannst du mir vielleicht erklären, was konkret ein Mauerblümchen ist, ich habe davon so gar keine Vorstellung!“
„Ja, das ist ein kleines Blümchen, das sich aus der Ritze einer Mauer wagt und auf Bienen und Schmetterlinge wartet, die aber nicht kommen“.