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4. Kapitel

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Neben der Tür, durch die es auf den Flur geht, befindet sich ein hoher Nachtschrank aus Weichholz unter Farbe. Er ist größer als normale Nachtschränke und die Bezeichnung kann ich tolerieren. Nun kommt wieder meine Fantasie ins Spiel.

Ich stelle mir eine Idylle weit draußen auf dem Land vor. Goldgelbe Kornfelder bis zum Horizont. Dazwischen Knicks aus Weißdornhecken und wildem Flieder, in denen Rotkehlchen nisten. Uralte, knorrige Eichen oder Kastanien, die ein altes Bauernhaus mit einem tief heruntergezogenen, moosbedeckten Reetdach unter ihre Fittiche nehmen.

In meiner Vorstellung ist es etwa fünfzehn Uhr. Außer ein paar Hühnern, die nach Futter scharren oder Flügel schlagend in Staub gehüllt, ein Sandbad nehmen, rührt sich außer dem imposanten Hahn, der seinen Harem bewacht, nichts auf dem Hof. Das riesige, in tiefgrüne Farbe getauchte Scheunentor ist einen Spalt weit geöffnet. Aus dem Dunkel kriecht hin und wieder ein heimeliges Schweinegrunzen. Schwalben haben ihre Nester unter das Dach geklebt oder nisten in der Tenne und fliegen durch den Spalt in dem Tor elegant ein und aus. Sie haben eine Horde Schwälbchen zu füttern. Eine leere Schubkarre steht herum. Man ist auf den Feldern, das Vieh auf den Weiden, der Misthaufen ist riesig, wenn der Hof einem Großbauern gehört. Und es ist windstill und friedlich in der warmen Nachmittagssonne. Mein Nachttisch steht jetzt noch lange nicht bei mir, sondern noch in diesem Bauernhaus in einem dämmrigen, schlecht gelüfteten Schlafzimmer neben einem bedrohlichen, breiten Ehebett aus schwerem Eichenholz und üppig geschnitztem Kopfteil, mit bauschigen Federbetten in weißen Leinenbezügen. Zwei Paradekissen, zwei außerordentlich gelungene Handarbeitsbeweise aus der Aussteuer der stolzen Bauersfrau, mit aufwendigen Lochmustern, Hohlsäumen und gestickten Monogrammen, thronen am Kopfende. Die Wände sind mit einer tristen, hellbraunen, klein bedruckten Blümchentapete beklebt. Über dem Bett hängt ein ovales Bild mit einer Schar graziöser Elfen, die sich bei den Händen halten und in durchsichtigen, bunten Gewändern barbusig und barfüßig im taufeuchten Gras in der Vollmondnacht tanzen. Sie werden von einem gehässig grinsenden Teufelchen, das im Gebüsch kauert, beobachtet. Von der Decke hängt eine schlichte, dreiarmige Lampe aus dunklem Holz. Am Ende eines jeden Arms ist eine milchiggelbe Schale aus Glas, das mit braunen Schlieren durchzogen ist. Die Lampe gibt ein schauriges Licht, wie bei einer vollständigen Sonnenfinsternis.

Die gesamte Einrichtung wird an die Generationen weitervererbt, die in diesem Bett, eine verpflichtende Ehewerkstatt des Paares, das sich dem Zwang gefügt und aus gut gemeinten, vernünftigen und wirtschaftlichen Gründen vor dem Traualtar die Ringe tauschte, gezeugt wurden. Und all diese Nachkommen führen nacheinander verantwortungsvoll den Hof und die Erbfolge weiter, bis niemand mehr das alte Zeug haben will. Bett und Nachtschränke, und ganz sicher gibt es auch eine passende Frisierkommode, die dann als Erinnerung erst einmal auf dem Dachboden untergebracht werden. Irgendwann landen die einzelnen Teile schließlich für’n Appel und n Ei in irgendwelchen Trödelläden. So könnte es gewesen sein. Und vielleicht gibt es den zweiten Nachtschrank ja noch, wenn er inzwischen nicht schon vollkommen verwurmt war, deswegen zertrümmert und verheizt wurde. Dann hat er für kurze Zeit wohlige Wärme gespendet. Lange vorher aber, haben beide Nachtschränke immer wieder die Farbe gewechselt, wenn sie nicht dem Zeitgeist entsprachen und die Harmonie in dem Schlafzimmer der Nachkommen oder später die neuen, fremden Besitzer störten. Die Nachtschränke haben Bäder in ätzenden Laugen hinter sich, um auch die kleinsten, störenden Farbreste aus Poren und Ritzen gründlich zu entfernen. Experten haben sie danach perfekt abgeschliffen, bis es keine Unebenheiten mehr gab und kein Splitter in eine Hand stach, von der sie gut behandelt wurden. Sie waren nicht nur Wachs in den Händen, sie wurden auch gründlich damit eingerieben und mit weichen Lappen auf Hochglanz poliert. Und dann gingen sie weg wie geschnitten Brot als begehrte Weichholzmöbel. Und schließlich, wenn sie erneut den Besitzer wechselten, dem das rohe Holz zu nackt war, bekamen sie einen neuen Farbanstrich, um zu gefallen und geliebt zu werden. Mein Nachtschrank hat eine Schublade und darunter ein Bord und auch noch ein ziemlich hohes Fach. Ich kann mir vorstellen, dass dort der Toiletteneimer untergebracht wurde, der häufig aus Porzellan war und aus triftigem Grund einen Deckel hatte.

Als das Grab meiner Mutter aufgelöst wurde, habe ich von dem riesigen Lebensbaum, der unmittelbar an ihrem Grabstein stand, einige Zweige abgeschnitten und mit nachhause genommen. Da sie nicht verbrannt, sondern beerdigt wurde, bin ich mir sicher oder möchte es sein, dass in dem Baum etwas von ihr in einer anderen Dimension weiterlebt. Die Zweige in den Händen zu halten, war ein sonderbares, aber ein so beruhigendes Gefühl, das kaum zu beschreiben war. Seitdem gibt es den großen, ovalen, schwarzen Rahmen mit dem gewölbten Glas, den ich vor vielen Jahren aus Belgien mitbrachte. In ihn habe ich den kleinen Strauß, der sich nach und nach braun verfärbte, zusammen mit einer Fotografie von meiner Mutter in einem kleinen silbernen Rahmen so arrangiert, dass der Vers, den ich für sie geschrieben habe gut zu lesen ist. Es war mir ein Bedürfnis, sie in der Form zu ehren und ihr dafür zu danken, dass sie mir das Leben geschenkt hat. Und dieses etwa vierzig Zentimeter hohe Bild wird mich stets begleiten und hängt auch in diesem Haus in meinem Zimmer über dem Nachtschrank. Und ich denke, meine Mutter weiß, dass sie nicht vergessen ist.

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