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5. Kapitel

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Lüdenscheid liegt im Sauerland, und ich frage mich, was die da wollen. Es muss einen Grund geben, denn die wären doch sonst nie auf die Idee mit Lüdenscheid gekommen. Mir wurde ziemlich aufgeregt und mit einem verschmitzten Lächeln erzählt, dass es eine Überraschung werden soll. Also nehme ich an, dass sie dort jemanden kennen. Ich bin gar nicht dazu gekommen, sie danach zu fragen, weil sie in ihrem Redeschwall von einer Frau unterbrochen wurde, die uns zufällig über den Weg lief. „Wir kennen uns aus dem Landfrauenverein“, wurde ich sofort aufgeklärt. „Mit der möchte ich mich anfreunden, weil die so gut aussieht“, sagte sie. Das ist ja unglaublich, dachte ich und fragte, ob sie Doria Gray kennt. Woraufhin sie fragte, ob der auch hier in der Gegend wohnt und woher ich ihn kenne, sie hätte noch nie von ihm gehört. Da habe ich mir einen Spaß erlaubt und gesagt, dass der den Oskar Wilde sehr gut kennt. Sie zuckte nur mit den Schultern und sagte gelangweilt: „Den kenne ich auch nicht, wir haben wenig Kontakt zu Ausländern, denn das hört sich total Englisch an. Und was ist mit dem?“. Ich zögerte zunächst, doch dann sagte ich: „Ach, es gibt Zitate in dem Roman Das Bildnis des Dorian Gray. Zum Beispiel, ich wähle meine Freunde nach dem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem guten Verstand“. „Ach, so, der hat was geschrieben, darum kenne ich den nicht. Ja, das mit dem Verstand, das würde auch noch passen, denn clever ist die auch, ich lade sie einfach mal ein, denn wir kennen uns nur oberflächlich“. Wir waren damals endlich vor meiner Haustür angelangt und ich sagte nur: „Dann bis zum nächsten Mal“.

Aber nun glaube ich, dass die, die überrascht werden sollen, vielleicht Leute von Sylt sind, die sie kennen gelernt hat, als sie mit ihrem Schmusi, so nennt sie ihren Mann, im Urlaub war. Sonne, Strand, Meer und Wein. Man ist ausgelassen, in einer unbedarften, redseligen Stimmung. Und da rutscht einem schon mal so ein Satz heraus wie: „Wenn ihr mal im Sauerland seid, dann kommt doch einfach mal vorbei“. So könnte es gewesen sein, denn sie fahren doch schon jahrelang immer wieder nach Sylt. Ich meine dieses Ehepaar, das ich kenne. Besser gesagt, kenne ich eigentlich nur diese Frau. Sie arbeitet in einem Frisörsalon mit integriertem Nagelstudio im Empfang und wohnt ein paar Straßen weiter in so einem spießigen Sechzigerjahre-Bungalow. Da nützt es auch nichts, wenn sie den gelben Klinker mit einer Kletterhortensie bewachsen lässt, die ewig braucht für ein paar Zentimeter mehr an Größe und Volumen im Jahr, um das zu kaschieren, wofür sie sich mit einem Krisengesicht immer wieder zu entschuldigen versucht. Ich habe Efeu gelobt, aber es hat nichts genützt, die Kletterhortensie bleibt. Wir sind nicht befreundet. Nein, wir gehen lediglich seit einem halben Jahr zusammen zum Yoga und haben gleich am ersten Tag festgestellt, unsere Matten lagen nebeneinander, und wir kamen zwangsläufig ins Gespräch, dass wir denselben Weg haben. Sie läuft quasi an unserem Haus vorbei, klingelt kurz, und ich komme dann sofort heraus. Sie ist ziemlich schwatzhaft, so dass ich meistens diejenige bin, die zuhört. Und dann stelle ich mir vor, wie es sein wird, wenn sie demnächst ins Sauerland fahren. Mal etwas anderes sehen wollen, als immer nur Sylt. Das verstehe ich. Und die Einladung steht ja noch, wie sie erzählte. Sie ist eine ganz Taffe, immer so springlebendig, wirkt manchmal sogar überaus zappelig, was mir manchmal etwas auf die Nerven geht. Aber, sie kann den Gruß an die Sonne perfekt und wackelt dabei kein bisschen. Und sie wird nicht einfach losfahren. Ganz sicherlich wird sie sich gründlich vorbereiten. Wie zum Yogakurs. Auch da war sie zur ersten Stunde gut präpariert, denn sie turnt und entspannt sich auf einer perfekten Unterlage, die sich leicht zusammenrollen lässt und die sie mit einem breiten Gurt über der Schulter tragen kann. Meine trage ich als Rolle umständlich unter dem Arm. Und sie hat eine Designer-Wolldecke und ein Sitzkissen, das nicht die Form verliert, wie meins. Und dazu auch noch den teuersten Yogaanzug, der im Schritt keine Falten wirft. Alles ist perfekt und auch farblich aufeinander abgestimmt. Also wird sie es sich auch nicht nehmen lassen und eine Route für die Reise ausarbeiten, nach der sie sich richten, wenn es in Richtung Sauerland geht, beziehungsweise wenn sie fahren. Mit dem Mercedes in Silbergrau, den sie geleast haben. Sie nehmen immer das neueste Modell. Dann atmet sie tief den strengen Herstellungsgeruch ein, mit dem ein neues Auto die Luft des Innenraumes schwängert. Ganz tief, weil sie diesen Duft liebt, und ich denke nur, wie eklig! Aber es gibt tatsächlich ein Raumspray mit diesem Geruch. Habe ich ihr aber nicht erzählt, weil ich es überflüssig fand.

Eigentlich ist es so, dass ich gar nicht weiß, was ich mit ihr auf dem Hin- und Rückweg zum Yoga und vom Yoga reden soll. Sie ist ziemlich oberflächlich, man könnte auch sagen, dass sie einfach gestrickt ist. Außerdem war sie auf dem Weg zum Yoga kurz vor Weihnachten ziemlich böse auf mich, als sie mir von ihrem Arzt vorschwärmte, der eine wahre Konifere auf seinem Gebiet wäre und ich ihr heftig widersprach, indem ich behauptete, dass das überhaupt nicht sein könne. Doch, doch, sagte sie mit Nachdruck, als ich lachend wiederholte, dass er garantiert keine Konifere wäre. Sie reagierte so empört, dass sie abrupt stehen blieb und mich anstarrte und schimpfte, ich würde ihn nicht kennen, um ihn mies zu machen, und sie könnte ihn mir nur empfehlen, warum ich ihr nicht glaubte und wieso es da etwas zu lachen gäbe. Ich habe mir verkniffen, sie zu kompromittieren, dass sie ihren Arzt, der vielleicht tatsächlich eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist, zu einem immergrünen Gehölz degradieren würde und schwieg dann mit ernstem Gesicht.

Und natürlich will sie von der Reise noch andere Eindrücke mitnehmen und viele Fotos machen, die sie sich an Regentagen immer wieder anschaut und in der Vergangenheit hängen bleibt. „Die ist bei ihr immer viel, viel schöner als die Gegenwart“, wie sie mir verriet, weil sie ständig unter Fernweh leidet. Ihr Gatte, ich weigere mich, ihn Schmusi zu nennen, hat nur genickt, als sie ihm davon erzählte, dass sie ins Sauerland fahren würden, und sie meinte etwas verschmitzt, dass er vielleicht nicht glaubt, dass sie tatsächlich Ernst macht mit Lüdenscheid. Und ich stelle mir jetzt vor, dass sie demnächst den großformatigen Bertelsmann Hausatlas aus dem Regal holt, der im Gästezimmer mit allen anderen wichtigen Büchern zur Verfügung steht und sucht in dem umfangreichen Inhaltsverzeichnis unter „L“ nach Lüdenscheid. Sie hat es schnell gefunden und ruft ihrem Gatten trällernd zu: „Lüdenscheid liegt gleich hinter Ludendorf, Seite 122 F 2“. Der Mann schüttelt den Kopf und sagt: „Ludendorf, wo soll das sein? Das wüsste ich doch, aber davon habe ich noch nie gehört. Lüdenscheid liegt in der Nähe von Remscheid und Wuppertal, da haben wir einen Kunden“. Sie hat irgendwann durchblicken lassen, dass ihr Gatte mit Küchengeräten aller Art zu tun hat. Mit Pürierstäben, Bestecken, Sparschälern, Drahtschwämmen aus Edelstahl und mit beschichteten Bratpfannen in allen Größen und Brätern auch aus Edelstahl, und er kommt daher beruflich viel herum und scheint die Gegend gut zu kennen. Aber die Frau zwitschert: „Aber hier steht es doch. Ludendorf! Und Lüdenscheid kommt gleich als nächstes unmittelbar dahinter. Sie schaut in seine Richtung und drückt die Spitze ihres Zeigefingers auf die Stelle des Inhaltsverzeichnisses. „Hier, hier, mein Lieber, hier steht es doch, schwarz auf weiß, ich kann doch lesen“. Der Mann legt genervt die Zeitung beiseite, steht auf, ist mit drei Schritten bei ihr und beugt sich über den aufgeschlagenen Atlas. Sie muss den Kopf zur Seite biegen, damit sie beide über der Seite vom Atlas Platz haben. Der Mann sagt: „Hier, lies, Lüdenscheid ist auf Seite 130-131 E 4, das sind acht Seiten weiter. Er blättert jetzt aber erst einmal die Seite 122 auf und rutscht mit dem Finger auf F 2. „Da ist es doch, Ludendorf, da siehst du es! Ludendorf ist ein Ort direkt am Kurischen Haff und in diesem alten Atlas unter sowjetischer Verwaltung, das war vor dem Krieg noch Ostpreußen“. Er blättert die ersten Seiten im Atlas auf und sagt: „Der Atlas ist von 1960, kein Wunder. Du musst auf die angegebenen Seitenzahlen gucken und dich nicht nach der alphabetischen Reihenfolge richten, meine Güte, das ist doch wohl logisch“. Die Frau beißt sich auf die Unterlippe und wimmert entschuldigend: „Stimmt, wieso habe ich denn nicht, ach, gut, dass ich dich habe, jeder von uns kann etwas. Und weißt du, ich kann uns jetzt mal eine schöne Reiseroute zusammenstellen und nachher gibt es Spiegeleier“. Sie konzentriert sich und findet den Gebirgszug Schneifel und den Zitterwald und beschließt, dass sie zuerst über Arloff in Richtung Köln fahren, sich dann nach rechts schlagen und Rast in Halver machen und dann schwupps, geht es ab ins Sauerland. „Das ist gar nicht so weit, wie ich dachte“, spricht sie zu sich selbst. Penibel schreibt sie alles auf ein DINA5 Papier. „Schade, dass die nicht in Heidelberg wohnen, da waren wir noch nie. Da ist es sicherlich netter als in Lüdenscheid. In Heidelberg haben schon viele Studenten ihr Herz verloren und darüber gibt es doch auch ein Lied“, zwitschert sie und weiß schon, dass sie keine Antwort bekommt. Der Mann antwortet tatsächlich nicht, er liest in der Zeitung. Und die Frau sagt: „Und was hat Lüdenscheid zu bieten, das musst du doch wissen“. Der Mann legt seine Zeitung auf die Knie, sein leerer Blick wandert nach oben zum Gardinenbrett, als er sagt: „In Lünsche, so sagen die Westfalen, hat Graf Zeppelin seine Luftschiffe bauen lassen, viel mehr weiß ich auch nicht. Ja, da gibt es auch noch eine Fußgängerzone mit Läden und einen Italiener, da war ich mal Pizza essen, eine Stadt eben, wie überall mit Kino und Rathaus und so“. Und dann stelle ich mir weiter vor, wie sie an einem sonnigen Morgen aufbrechen mit Butterbroten in Frischhaltefolie, hart gekochten Eiern und einer großen Thermosflasche mit einem Heißgetränk und einer Plastikdose mit Apfelspalten. Alles ordentlich sortiert in der alten, blauen Kühltasche mit Lillifee auf der einen und mit der Eisprinzessin Elsa auf der anderen Seite. Die Frau ist in großer Vorfreude, der Mann lässt sich nichts anmerken, dass er sauer ins Sauerland fährt, weil er das Fußballspiel von Schalke Null Fünf heute Nachmittag nicht im Fernsehen verfolgen kann und konzentriert sich auf die stark befahrene Strecke, auf der an diesem Morgen nur Idioten unterwegs sind, wie er feststellt. Sie fahren durch und machen keine Rast in Halver. Die Frau holt auf der Fahrt eine Klappstulle mit Pfeffermettwurst aus der Frischhaltefolie und reicht sie dem Mann. Bei Apfelspalten winkt er genervt ab. Für sich schält sie ein extrem hart gekochtes Ei. Der Dotter ist olivgrün und krümelig. Zusammen mit dem Dottergelb sieht es so schön aus, dass sie heimlich in Erwägung zieht, sich in den Farben ein Paar Stulpen für den Winter zu stricken. Steif gesessen kommen sie in Lüdenscheid an. Die Adresse stimmt noch. Das Navi hat sie ohne Schwierigkeiten hingeführt. Natürlich ist die Frau jetzt noch viel aufgeregter, als noch vor einer halben Stunde und zieht noch mal ihre Lippen mit dem kussechten, blutroten Lippenstift nach. Sie nehmen die erste Parklücke und gehen den Rest zu Fuß. Ihre Augen suchen die Häuser nach der Hausnummer ab. Und dann stehen sie vor der Tür eines vierstöckigen, altrosa Mietshauses in einer öden Straße. „Hier ist nicht ein Baum“, stellt die Frau mit heruntergezogenen Mundwinkeln fest und schaut skeptisch nach rechts und nach links. „Wie die wohnen, das hätte ich nicht gedacht“, flüstert sie gedehnt und abwertend. „Psscht“, raunt der Mann. Und sie erinnert sich noch ganz genau an die wahnsinnig lustigen und netten Leute in ihrem Urlaub auf Sylt, als wäre es erst gestern gewesen. Die wollten eigentlich am FKK-Strand bleiben, einfach mal so ausprobieren und auch mal nahtlos braun werden, erzählte das Ehepaar ihnen, als sie am Eisstand aufeinander trafen und ins Gespräch kamen. Aber da waren ihnen dann doch zu viele Nackte, die nicht dezent auf ihren Wolldecken blieben, sondern herumhampelten, Rad schlugen, Federball spielten und so, wie sie das unangenehm berührt ausdrückten, als wäre das äußerst unanständig. Na, ja, entschuldigten sie sich, wir sind durchaus nicht prüde, aber wir haben es ja heute wieder hautnah erlebt. Die nehmen keinerlei Rücksicht, und jetzt reicht es! Wir, so unauffällig wie möglich unten auf dem Badelaken und die allesamt Splitterfasernackten schamlos an unserem Strandkorb vorbei oder davor, und wir dann auf Augenhöhe mit ihren Sachen, sie wissen schon, was wir meinen, das erträgt ja kein anständiger Mensch, ohne das einem übel wird und man die Lust verliert. Ab morgen sind wir da jedenfalls weg. Und ER! Jetzt nenne ich ihn auch wenigstens einmal Schmusi, weil es in diese Szenerie so gut passt. Also, ER, nicht ganz so breite Schultern, wie sie es bestimmt gern gehabt hätte und unten schmal wie ein Hering. Jedenfalls kein flotter Hecht. Ich denke mal, er ist Ende fünfzig, mit silbernem Brusthaar auf der von einer halben Woche leicht gebräunten Haut in einer viel zu knappen Badehose, in die er sich gezwängt hatte, die aber von ausgezeichneter Qualität war. Die muss schon verdammt alt gewesen sein, denn da war das Seepferdchen ordentlich von seiner Mutter aufgenäht und überhaupt noch nicht vom vielen Baden und Waschen ausgeblichen, sondern noch ganz deutlich zu erkennen. Auch bei steifer Brise hatte er wahnsinnig gute Laune, nicht wegen des Seepferdchens, sondern überhaupt immer. Sogar, als er an dem einzigen Regentag im Strandkorb nichts als diese alte, knappe Badehose trug, vermasselte ihm das nicht das großartige Gefühl von herrlicher, textiler Befreiung, obwohl er leicht fröstelte. „Meine Frau ist mein Hobby“, flötete er, wenn er auf seinem Frauchen, so nannte er sie zärtlich, großzügig die Sonnenmilch verteilte. Und SIE! So viel gesalbte Haut und so wenig Bikini in frechem grün, und so viel Gold an den Fingern, seit vorigem Tag auch noch mit in Silber gefasstem Bernstein um den Hals und als weiteres Kettchen bis runter ans rechte Fußgelenk. Und so ein spritziges Lächeln, das sie über Mund, Nase, bis rauf über die Wangen und die Stirn schickte, wenn ER nicht nur Lacherfolge bei den Damen einheimste, sondern auch von den Männern Beifall bekam. Dann räkelte sie sich behaglich auf dem kunterbunten Badelaken, stützte sich mit den Ellenbogen auf, sah aus der Sandflohperspektive zu seinen gebräunten und geölten, strammen Waden im Strandkorb und dachte, mit dem über Jahre gewachsenen, sicheren Urgefühl, das ist MEINER!

NICHT WIEDER ROSA MOOS

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