Читать книгу In Simons Bann - Gloria Murphy - Страница 3
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ОглавлениеEs war jedes Jahr dasselbe Ritual – am ersten Freitag nach Beginn der Sommerferien packten Cat, Lucas und die Kinder ihre Siebensachen und starteten Richtung Strandhaus. Aber dieses Jahr schien einfach nichts zu klappen. Zum einen kamen sie schon spät weg: Lucas, der immer gerne rechtzeitig an ihrem Ferienort ankam, um das Auto noch bei Tageslicht zu entladen, war wegen eines falschen Bombenalarms in der Arbeit aufgehalten worden. So war es schon kurz nach sieben, als der schwarze Bronco, Baujahr ’94, endlich beladen und abfahrbereit war und zu guter Letzt noch rasch jemand einen Karton mit Snapple-Soft-Drinks ins Auto warf. Zudem wurde die übliche Vorfreude auf den bevorstehenden Urlaub erheblich durch die beleidigte Miene der dreizehnjährigen Haley getrübt, der in den vergangenen Tagen immer wieder ein neuer Grund eingefallen war, warum sie lieber nicht ans Meer wollte. Obwohl sie jetzt stumm neben ihrem Bruder auf dem Rücksitz saß, machte sie ein Gesicht, als würde sie gleich standrechtlich erschossen.
Als sie in die Auffahrt zur Interstate 91 in Richtung Süden und Küste von Connecticut einbogen, die gute zwei Stunden Fahrzeit entfernt lag, bewölkte sich der Himmel. Hatte der Wetterbericht Regen vorhergesagt? Mit einem Blick in den Rückspiegel versuchte Lucas, Haleys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Sobald wir uns häuslich eingerichtet haben, könntest du dir doch für ein paar Tage eine Freundin einladen. Was hältst du davon?« fragte er.
»Das ist nicht dasselbe«, schmollte Haley.
»Das habe ich auch gar nicht behauptet. Ich mache dir den Vorschlag auch nur deswegen, weil ich mir denke, daß es dir vielleicht Spaß machen könnte. Aber okay, wenn das für dich nicht so verlockend klingt, vergessen wir’s. Vielleicht möchtest du mir auch lieber bei meiner Arbeit am Bootssteg helfen.«
Er war felsenfest davon überzeugt, ihr mit diesem Vorschlag eine positive Reaktion zu entlocken: Den über fünf Metelangen Bootssteg wieder herzurichten war eine der vielen Arbeiten, die er sich für diesen Sommer vorgenommen hatte. Es hatte schließlich mal eine Zeit gegeben, da hatte Haley alles, was auch nur im entferntesten mit ihrem Vater zu tun hatte, spannend und aufregend gefunden, aber die Zeit war endgültig vorbei. Deswegen konnte er mit seinem Vorschlag auch keinen Blumentopf mehr bei ihr gewinnen.
»He, wo bleibt deine Begeisterung? Bist du denn nicht mehr mein Mädchen, die früher mal um fünf Uhr morgens aufgestanden ist, um mit ihrem alten Herrn zum Hochseefischen zu gehen? Hast du schon ganz die viereinhalb Pfund schwere Makrele vergessen, die du letztes Jahr völlig allein aus dem Wasser geholt hast? Wer weiß, vielleicht schlägst du mich heuer sogar –«
»Daddy, bitte, hör auf.«
»Womit?«
»Du brauchst nicht versuchen, mich weiter so zu beschwatzen. Als ob ich noch zwei Jahre alt wäre.«
Nein, mit schönen Worten kam man in ihrem Fall nicht mehr sehr weit, dachte Cat. Das hatte sie auch schon versucht und war kläglich gescheitert. Haley würde erst dann wieder aus ihrem Schmollwinkel hervorkommen, wenn es ihrer Meinung nach Zeit dafür wäre. Eigentlich eine recht wirkungsvolle Form der Elternbestrafung, wie Cat meinte. Auf jeden Fall stellte sie mit Erleichterung fest, daß sich ihr ansonsten eher aufbrausender Ehemann gerade noch rechtzeitig bremste, bevor er vollends die Geduld verlor und es wieder einmal fertigbrachte, die Dinge noch schlimmer zu machen.
Haley war früher immer liebend gerne nach Kelsy Point gefahren, aber in diesem Sommer hatte sich die Lage entscheidend geändert. Greenfield zu verlassen bedeutete nun für sie, ihre Freundinnen eine ganze Weile nicht mehr zu sehen – was wiederum hieß: keine Nachmittage mit ausgiebigen Streifzügen in irgendwelchen Einkaufszentren und Boutiquen; keine Treffen auf eine Cola und einen ausgiebigen Schwatz; keine stundenlangen Telefongespräche über ihr liebstes und einziges Thema – Jungen. Der unmittelbare Auslöser für Haleys Qualen war schließlich die Einladung einer Freundin zu einer gemischten Pool-Party gewesen, die am folgenden Abend stattfinden sollte und die sie nun ebenso versäumen würde wie alle anderen Sommerfeste auch, die noch folgten.
Lucas vergötterte Haley, die er und Cat im Alter von vierzehn Monaten adoptiert hatten, als die beiden gerade zwei Jahre verheiratet waren. Nach verzweifelten Versuchen, ein eigenes Baby zu bekommen, hatten die zwei Haley mit offenen Armen in ihrem Leben willkommen geheißen. Deren Eltern, Lucas’ jüngere Schwester und ihr Mann – ein in England stationierter Lieutenant der Army –, waren kurz zuvor während der Ferien in Schottland bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Haley, ein knuddeliger, blauäugiger Kobold, war ihrem neuen Vater in kürzester Zeit auf Schritt und Tritt gefolgt. Doch jetzt verwandelte sich der kleine Wildfang – sehr zu Lucas’ Mißfallen – auf einmal in eine junge Frau.
»Willst du mit meinem Gameboy spielen?« Der siebenjährige Zack bot seiner Schwester seinen taschengroßen Computer an. Entweder war ihm ihre Stimmung entgangen, oder er versuchte auf seine Weise, etwas dagegen zu unternehmen – wobei ersteres am wahrscheinlichsten war. Der sommersprossige Zack, der von seiner Mutter deren dickes, kastanienbraunes Haar geerbt hatte, war drei Jahre nach Haleys Adoption zur Welt gekommen, gerade als sie den letzten Funken Hoffnung aufgegeben hatten, daß Cat doch noch ein eigenes Kind bekommen könnte. Zack, eine sehr eigenbrötlerische kleine Persönlichkeit, erinnerte Cat manchmal an einen ihrer Professoren, den sie im ersten Jahr am College gehabt hatte: Er war nachdenklich, umsichtig, ein unglaublich heller und pointierter Kopf – nur daß er sich nicht immer in demselben Universum aufhielt wie alle anderen um ihn herum.
Cat empfand Zacks Eigenbrötelei als eine seiner liebenswertesten Eigenschaften. Sie war nämlich der Ansicht, daß jedes Kind von klein an bereits eine vollkommen fertige Persönlichkeit in sich hatte – ungeachtet dessen, was die Eltern gerne aus ihm machen würden. Lucas hingegen trug schwer an seiner Rolle als Vater dieses Jungen. Von Haley ließ er sich zwar des öfteren um den Finger wickeln, doch bei seinem Sohn war er wesentlich strenger und kritischer. »Es ist immer dasselbe, ich habe das Gefühl, einfach nicht an den Jungen heranzukommen«, beklagte Lucas sich oft. Und damit hatte er sicher recht. Aber wäre das auch der Fall gewesen, wenn er nicht ständig versucht hätte, sein eigenes Spiegelbild in Zack wiederzufinden?
So war Lucas ein sehr sportbegeisterter Mensch – er ging für sein Leben gern zum Fischen und liebte alles, was mit Booten zu tun hatte. Zack hingegen zog es vor, am Strand herumzuwandern und dort das flache Wasser und die Höhlen zu erkunden; von seinen Streifzügen brachte er oft fremdartige Pflanzen oder kleine Tiere mit nach Hause. Aber zwang man ihn, sich auf einem Boot weiter als fünfzig Meter vom Ufer zu entfernen, nahm sein Gesicht bald jede erdenkliche Grünschattierung an. Auf Lucas’ Drängen hin hatte er sogar zweimal von der Mole aus sein Anglerglück versucht, aber es hatte ihm nicht gefallen.
Lucas war der Prototyp des erfolgreichen Geschäftsmannes: selbstsicher und von aggressiver physischer Präsenz. Er war es gewohnt, schnelle Entscheidungen zu treffen und seiner Umgebung seinen Willen aufzuzwingen. Falls Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn bestanden, so waren sie bisher noch nicht zutage getreten.
Zack, der von seiner Schwester keine Antwort bekommen hatte, konzentrierte sich wieder auf das Spiel mit seinem Gameboy. Haley, die krumm wie ein Fragezeichen auf der Rückbank hing und ihre üppige Unterlippe zu einer schmollenden Schnute verzogen hatte, wandte ihre Aufmerksamkeit der hinter den Autoscheiben vorbeiziehenden Landschaft zu. Als es draußen langsam dunkler wurde, legte Cat ihre Hand auf Lucas’ Knie und ließ sie genüßlich und voller Hintergedanken langsam seinen Schenkel hinaufwandern. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie die Reaktion ihres Mannes. Obwohl er die Augen nicht von der Straße nahm, fing an seinem Hals eine dicke Ader zu pochen an.
Cat fragte sich, ob es wohl ein Gesetz gab, das dem Beifahrer verbot, den Fahrer absichtlich aus der Fassung zu bringen und zu erregen. Sie durfte nicht vergessen, Lucas später im Bett danach zu fragen. Mit Sicherheit wäre das ein sehr vernünftiges Gesetz – schließlich bekam man ja auch einen Strafzettel, wenn man ohne Sicherheitsgurt erwischt wurde. Würde sie eigentlich jemals erwachsen werden? Doch ob Lucas das so gut gefiele? Sie zog ihre Hand zurück und registrierte befriedigt die Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung, die sich auf seinem Gesicht spiegelte. Wenn sie später im Bett wären, dachte sie – der Gedanke daran schickte ihr bereits einen köstlichen Schauer der Vorfreude den Nacken hinunter.
Einige Zeit später – der vorher drohend am Himmel hängende Regen hatte sich nicht über sie ergossen – erreichten sie die Route 79, die vierzehn Meilen lange Strecke, die zwischen dem See und Chatfield Hollow, dem Staatspark, verlief. Die Straße führte anschließend weiter nach Clinton und von dort aus nach Kelsy Point. Als der Wagen wegen einer engen Haarnadelkurve seine Fahrt verlangsamte, machte Haley, seit sie Massachusetts verlassen hatten, zum ersten Mal den Mund auf.
»Was will der denn?«
Zuerst wußte Cat nicht, wen sie damit meinte. Er – wer? Und Lucas’ Miene nach zu schließen, hatte auch er keine Ahnung, wovon sie sprach. Doch dann sah sie den Mann, der aus der Dunkelheit zwischen den Bäumen gerannt kam. Erst als er schon fast auf der Motorhaube ihres Wagens hockte, trat Lucas auf die Bremse.
Der Wagen blieb abrupt stehen, und sie wurden alle nach vorn geschleudert. In Sekundenschnelle hatte ein gewaltiger Mann mit langen, fettigen gelben Haaren und einem aufgedunsenen, pickeligen Gesicht die Fahrertür aufgerissen und Lucas’ Sicherheitsgurt mit einer Stahlklinge durchtrennt. Noch während der Gurt zurückschnellte, preßte der Mann Lucas das Messer an den Hals und zerrte ihn aus dem Wagen.
* * *
Cat sah Münder, die sich hastig öffneten und schlossen, sie sah Gesichter und verzerrte Züge, die im selben Rhythmus auf und ab hüpften. Aber der Klang der Stimmen war gedämpft und abgehackt, als wäre sie Zuschauerin einer Aufführung, bei der die Tonübertragung andauernd von einem Wackelkontakt unterbrochen wird. Schließlich wurde sie von rauhen, ungeduldigen Händen aus dem Auto gerissen.
Jetzt waren die Stimmen lauter und deutlicher zu verstehen – die von Haley, ihre eigene, die von Lucas und von Zack . . . dann andere Stimmen, die sie noch nie zuvor gehört hatte. Sie konnte den schalen Gestank von kaltem Tabak riechen, wandte den Kopf nach rechts und zuckte erschrocken zusammen. Neben ihr stand ein magerer Bursche mit olivbrauner Haut, einem struppigen, schwarzen Bart und kalten, tiefliegenden Augen, die auf sie gerichtet waren. Er war zwar nicht annähernd so groß wie der Mann, der Lucas festhielt, aber mindestens genauso abstoßend, genauso furchteinflößend.
»Tun Sie ihr nicht weh«, hörte sie Lucas flehen. Nie zuvor hatte sie gehört, daß ihr Mann einen Menschen um etwas gebeten hätte, und diese Erfahrung löste eine so heftige Übelkeit in ihr aus, daß sie einen starken Drang verspürte, sich zu übergeben.
Mit der einen Hand das Schnappmesser umklammernd, dirigierte der Mann, der sie bedrohte, mit der anderen Hand die Kinder aus dem Wagen heraus. Die Beifahrertür blieb offenstehen, und die Scheinwerfer des Wagens wiesen ihnen den Weg, während sie seinen Anweisungen Folge leisteten und von der Straße zurücktraten.
Sobald sie im Wald waren, zwangen die Männer Lucas mit gezücktem Messer, sich auf allen vieren niederzulassen. Cat bekam einen Stoß in den Rücken versetzt, sodaß sie wenige Meter neben Lucas auf ihren nackten Knien landete. Der dunkelhaarige der beiden Männer trieb die Kinder zu ein paar Bäumen mit dicken Stämmen, wo er sie mit Stricken fesselte.
»Hören Sie, Sie können den Wagen haben«, sagte Lucas.
»Die Wagenpapiere und die Zulassung sind im Handschuhfach. Geben Sie mir die Papiere, und ich unterschreibe sie Ihnen. Sie können sich selbst überzeugen, der Wagen ist in einem Topzustand. Der hat noch keine fünftausend Meilen drauf. Den können Sie teuer verkaufen. Da ist kein Haken dran.«
»Hab ich dich vielleicht was gefragt?« schnauzte ihn der blonde Mann an und entblößte dabei einen schwarzen, verfaulten Schneidezahn. Dabei fuhr er mit der Klinge ein paar Zentimeter an Lucas’ Hals entlang, bis ein roter Streifen auf der Haut sichtbar wurde.
Cat stieß ein Keuchen aus, und der dunkle Mann kam zu ihr und stellte sich neben sie. Lucas schüttelte den Kopf.
»Dann halt deine Klappe, okay?«
»Okay.«
»Okay, Sir.«
Cat schloß die Augen und wünschte sich, sie könnte auch ihre Ohren verschließen. Aber das ging nicht, und so hörte sie, wie Lucas die gewünschten Worte wiederholte.
»Wie heißt du, Mann?«
»Lucas.«
»Schön, dich kennenzulernen, Lucas. Ich heiße Warren, und der Typ da drüben ist Earl.« Mit dem Kopf deutete er in Richtung von Cats Bewacher. »Wo wollt ihr denn hin?«
Lucas erwiderte achselzuckend: »Wir wollten nur mal kurz ans Meer.«
»So spät? Seht ihr denn nicht, daß es schon stockdunkel ist?« Als Lucas ihm keine Antwort gab, warf Warren Earl einen langen Blick zu. »Vielleicht erzählt uns der gute Lucas aber nicht die ganze Wahrheit. Hast du nicht auch so ’n Gefühl, Kumpel?«
Ehe Earl darauf antworten konnte, tischte Lucas ihm noch mehr Lügen auf. »Warum sollte ich Ihnen die Unwahrheit sagen? In Clinton gibt es ein Hotel, das Seacliff. Wir haben dort reserviert. Das können Sie nachprüfen.«
Die Antwort schien Warren offensichtlich zufriedenzustellen, denn er wandte seine Aufmerksamkeit nun Cat zu. »Na, dann sag mir doch mal, wer dieser rassige kleine Rotschopf hier ist. Deine Tochter?«
Der Altersunterschied, der zwischen Cat und Lucas bestand, fiel den beiden schon lange nicht mehr auf – sie dachten eigentlich fast nie daran. Doch jetzt sah Cat, wie die Wut in Lucas’ Augen aufflackerte. Aber er sagte kein Wort, sondern hielt weiterhin den Kopf in einem unnatürlichen Winkel geneigt, um der scharfen Messerklinge an seinem Hals zu entgehen. Warren kniete sich hin, legte den Mund an Lucas’ Ohr und brüllte mit aller Kraft: »He, du Ho-sen-schei-ßer! Ich hab dich was gefragt. Bist du noch da?«
Lucas zuckte mit schmerzlich verzerrten Gesichtszügen zurück; vor Wut knirschte er mit den Zähnen. Dann schloß er die Augen, schluckte. »Meine Frau«, erwiderte er schließlich.
Beide Männer fingen zu lachen an, ein lautes, gemeines Lachen. Jetzt nahm Earl Cat genauer in Augenschein. »He, wie kommt es, daß sich eine so hübsche kleine Lady wie du mit solchem Schrott abgibt? Und das bei den erstklassigen Typen, die hier neben dir sitzen. Oder sollte ich besser sagen – stehen?« Earl kicherte über seinen eigenen Witz und griff sich an die Hose. Cat hörte, wie ein Reißverschluß heruntergezogen wurde. Sie kniete immer noch am Boden und kam sich merkwürdig losgetrennt von ihrem Körper vor, als Earl sich über sie beugte und seine Finger ihre Bluse entlangwandern ließ. Als er beim obersten Knopf angelangt war, zerrte seine Hand brutal an dem Stoff, bis dieser nachgab und riß. Die Knöpfe flogen nach rechts und links davon, und in dem Moment hatte Cat ein Gefühl, als bekäme sie keine Luft mehr.
Ihre Hände, ihre Füße, ihr ganzer Körper fingen zu zittern an. Ein leiser, unterdrückter Schrei war zu hören. War sie das? Earl packte sie mit der Hand am Kinn, und seine Finger gruben sich brutal in ihre Wangen. Er riß ihren Kopf nach vorn und zwang sie, sich seinen erigierten Penis anzusehen.
»Siehst du das?« fragte er grinsend. »Das ist alles für dich.« Dann legte er ihr bleischwer die Hände auf beide Schultern und zog sie an sich.
Jetzt konnte sich Lucas nicht mehr länger beherrschen. Trotz des gezückten Messers, das ihm jederzeit die Kehle durchschneiden konnte, holte er mit dem Arm weit aus, was Warren so überraschte, daß er sein Gleichgewicht verlor. Lucas sprang rasch auf und rammte Earl die geballte Faust ins Gesicht.
Aber mittlerweile hatte Warren seine Balance wiedergefunden. Er griff von hinten an und stieß Lucas, mit dem Gesicht voran, zu Boden. Dann fielen sie beide über ihn her und bearbeiteten ihn mit Fäusten, Stiefeln, Stöcken und Steinen – mit allem, was ihnen in die Finger fiel. Sogar die Kleider rissen sie ihm vom Leib. Da mochte Lucas noch so stark sein, gegen diese Angreifer hatte er keine Chance.
Cat merkte, daß sie schrie – in ihren Ohren pochte das Blut, ihre Gliedmaßen waren stocksteif, und irgendwo in ihrem Hinterkopf wußte sie, daß sie zu den Kindern und sie losbinden mußte, um sie in Sicherheit zu bringen. Aber sie konnte sich nicht bewegen! Sie saßen in der Falle, irgendwo draußen in der Wildnis, und eine Schlagzeile schoß ihr durch den Kopf: VIERKÖPFIGE FAMILIE IM WALD ERMORDET!
Plötzlich hörte sie ein lautes Pfeifen, dann eine Stimme, die das Knurren und Fluchen ihrer Peiniger übertönte. Sie preßte sich die Hand vor den Mund, damit ihr ja kein Laut entschlüpfte und sie besser hören konnte. »He, was, zum Teufel, ist da vorne los?« rief die Stimme. Sie wußte weder, wessen Stimme das war, noch, woher sie kam, aber das machte nichts. Es war die Stimme eines menschlichen Wesens, und dieses Wesen war gekommen, um ihnen zu helfen.
Ein breiter Lichtstrahl tauchte aus der Dunkelheit des Waldes auf. Jetzt klang die Stimme bereits lauter, wütender und auch entschlossener. »Okay, ihr Gauner, ich habe hier eine Halbautomatik im Anschlag, Munition satt! Na, wie gefällt euch das?«
Warren und Earl richteten sich auf und schauten einander schweigend und nervös an. Wer würde die Entscheidung treffen? Schließlich rasten sie wie auf Kommando zu dem Bronco, sprangen hinein und knallten die Türen zu. In Sekundenschnelle hatten sie den Wagen zurückgesetzt und waren in entgegengesetzter Richtung davongebraust.
Noch während der Bronco sich mit heulendem Motor entfernte, hatte der Fremde sie bereits erreicht. Er legte seine Taschenlampe auf den Boden, beugte sich über Lucas und ergriff dessen Handgelenke. Schließlich sah er zu Cat hinüber. »Sein Puls schlägt noch recht kräftig. Ich denke, er wird durchkommen. Was ist mit Ihnen?«
Sagte er ihr die Unwahrheit? Aber warum sollte er sie anlügen? »Ich bin in Ordnung«, entgegnete sie, obwohl sie noch immer nicht zu zittern aufhören konnte. »Bitte, die Kinder«, flehte sie und deutete in ihre Richtung. Er beeilte sich, sie loszubinden, und gleich darauf lagen Haley und Zack in Cats Armen und weinten und drückten sich fest an sie, wesentlich mehr Stärke und Trost von ihr einfordernd, als sie ihnen in dem Augenblick geben konnte.
»Ich möchte nicht riskieren, noch mehr Schaden anzurichten, indem ich ihn allein bewege, deswegen werde ich jetzt Hilfe holen. Ist das in Ordnung für Sie?« Jetzt erst schaute Cat sich an, wer da vor ihr stand und mit ihr sprach. Es war ein großer und noch sehr junger Mann, der jedoch genau zu wissen schien, was er tat. Sie nickte.
»Alles in Ordnung mit dir, Kumpel?«
Die Frage war an Zack gerichtet, der alles andere als in Ordnung zu sein schien. Aber der Kleine nickte, und plötzlich war der junge Mann verschwunden. Cat und Haley rückten ganz nahe an Lucas heran in dem Bestreben, ihm durch die Nähe ihrer Körper Trost und Energie zu übermitteln. Zack hielt sich abseits, blieb weiter mit dem Rücken zu dem Baumstamm stehen und spähte hektisch mal in die eine, mal in die andere Richtung, als erwartete er, daß jeden Moment jemand aus dem Wald gesprungen käme.
Cat strich über Lucas’ Gesicht, seine Arme, seine Hände. Mit schmutzigen, bebenden Händen machte sie sich an seinem Hemd zu schaffen und säuberte es von Erde und Blättern. Es war eine dumme Beschäftigung, völlig sinnlos, aber sie mußte ihren Händen unbedingt etwas zu tun geben.
»Beeil dich, bitte, beeil dich«, flüsterte sie und wünschte sich, der junge Mann möge so schnell wie möglich zu ihnen zurückkommen. Lucas atmete noch, sie konnte es hören. Dann spürte sie, wie er sich bewegte; erst seine Finger, dann seine Hände, seine Arme . . . und als der junge Mann zurückkam – dem kurz darauf ein Rettungswagen folgte –, hatte Lucas bereits das Bewußtsein wiedererlangt.
Zwei Stunden vergingen, die ihr wie Minuten erschienen, und erst als Lucas versorgt und in einem Privatzimmer im Krankenhaus untergebracht war, kam eine Schwester auch zu Cat; sie deutete auf deren zerrissene, kurzärmelige Bluse und reichte ihr eine Handvoll Sicherheitsnadeln. Cat holte sich ein Papiertaschentuch aus der Schachtel an Lucas’ Bett und putzte sich die Nase. Lucas würde überleben, der Notarzt hatte es ihr versprochen, trotz der vielen Prellungen, Schnittwunden und des gebrochenen Beines – Gott sei Dank ein glatter Bruch –, das nun in einem schenkelhohen Gips steckte. Zum Glück gab es keine Anzeichen einer Gehirnerschütterung oder irgendwelcher innerer Verletzungen. Dr. Robbins, der Orthopäde, hatte ihm eine Morphiumspritze gegen die Schmerzen und zum Einschlafen gegeben, und wenn alles glattlief, würde er bereits am nächsten Morgen wieder entlassen werden und könnte sich anschließend in ihrem Haus am Strand erholen.
Cat betrachtete liebevoll Lucas’ Gesicht: die gerade, schlanke Nase, das kräftige, ausgeprägte Kinn, die vollen Lippen, die so schmal werden konnten, wenn seine Unnachgiebigkeit in ihm durchbrach. Nur wenige Zentimeter hatten sie davor getrennt, den einzigen Mann zu verlieren, den sie je geliebt hatte, und ihr Körper schmerzte immer noch von den Nachwehen der entsetzlichen Ereignisse. Als sie ihn nun schlafend in diesem sterilen Krankenzimmer vor sich liegen sah, wurde ihr wieder einmal bewußt, wie lieb und teuer er ihr war.
Die wertvollen Geschenke, die er ihr zu Beginn ihrer Beziehung gekauft hatte, als er ihr den Hof machte, hatten sie im Grunde genommen immer in Verlegenheit gebracht, obwohl es viele Leute gab, die glaubten, daß sie ihn genau aus diesem Grund heiraten wolle. Das hatte sie nie begriffen: Für die meisten neunzehnjährigen Teenager – so alt war sie gewesen, als sie Lucas Marshall kennenlernte – war Geld im Vergleich zu Liebe etwas Zweitrangiges; zumindest war es so in Calden, New Hampshire, der kleinen Stadt, in der sie aufgewachsen war.
Weitaus mehr hatten Cat da schon diese unglaublich blauen Augen beeindruckt, die sie auf eine Weise ansahen, wie sie noch nie zuvor ein Junge ihre Alters angesehen hatte; und dann sein Lächeln, als ob er Dinge wüßte, die sonst jedem anderen verborgen waren. Eines Tages kam Lucas in den kleinen 7-Eleven-Supermarkt, in dem Cat abends arbeitete, während sie tagsüber ihre Kurse am College besuchte. Da er einen sehr muskulösen und durchtrainierten Körper hatte, war die Tatsache, daß er bereits doppelt so alt war wie sie, nur von nebensächlichem Interesse.
Sie erfuhr bald, daß er zweimal die Woche aus geschäftlichen Gründen nach Calden kam – mit einem Hubschrauber: Als Miteigentümer der Center Construction and Engineering Company aus Northampton, Massachusetts – die, wie Cat später erfahren sollte, eine der größten Baugesellschaften an der ganzen Ostküste war – besuchte er die Stadt, um die Reparaturarbeiten an der Ralantano Bridge zu überwachen, an der größere bauliche Schäden aufgetreten waren.
Sechs Wochen später war sie nur allzu bereit und willens, ihr zweites Jahr im College sausen zu lassen und ihm bis ans Ende der Welt zu folgen – respektive drei Autostunden weiter südwestlich nach Massachusetts. Es war ihr egal, daß ihre Vermieterin ihr unterstellte, sie sei nur hinter seinem Geld her; daß ihre beste Freundin Monica sie davor warnte, sein jahrelanges Junggesellendasein würde mit Sicherheit einen besitzergreifenden und herrschsüchtigen Ehemann aus ihm machen; daß ihre Mutter ihr zu verstehen gab, Cat würde damit den Vater heiraten, den sie sich immer gewünscht, aber nie gehabt hatte, während ihre Lieblingstante mit etwas taktvolleren Worten meinte: »Du bist ein kluges und hübsches Mädchen, Catherine Ann Demsey. Du könntest jeden Jungen deines Alters haben.«
Doch junge Männer ihres Alters, Lucas’ Geld oder selbst seine bewegte Vergangenheit waren ihr egal. Und, ja, ein Körnchen Wahrheit lag in dem, was Monica gesagt hatte: Lucas war wirklich immer gerne der Boß – na und? Monica machte Cat wegen dieses Geständnisses zwar heftige Vorwürfe, aber im Grunde fand sie Lucas’ arrogante Art sogar recht charmant. Sie wollte ihn einfach haben, diesen Lucas Marshall.
Und jetzt, zwölf Jahre später, wollte sie ihn immer noch haben. Zwar hatte sich bereits hier und da das erste Grau in seine vollen Haare geschlichen, und er war fünfzehn Pfund schwerer geworden, aber er war immer noch genauso gutaussehend und aufregend und männlich . . . Cat setzte sich auf den Bettrand und nahm seine Hand. Der Kloß, der ihr vorher schon einmal die Luft abgeschnürt hatte, war wieder da. Wie lange hätten diese Ungeheuer wohl noch auf ihn eingeprügelt?
Ihr Retter hieß Simon Bower. Und wie es sich herausstellte, hatte er gar keine Feuerwaffe gehabt, weder eine halbautomatische noch sonst eine. Er hatte nur so getan, um den Burschen Angst einzujagen. Und zum Glück hatte seine Drohung ihre Wirkung nicht verfehlt. Das erfuhr Cat allerdings erst, nachdem sie im Medical Center des nahegelegenen Essex angekommen waren. Cat war mit Lucas im Krankenwagen vorausgefahren; da die Polizei zu dem Zeitpunkt noch nicht am Tatort eingetroffen war, hatte Simon sich erbeten, mit Haley und Zack in seinem Kleinbus nachzukommen.
Cat schreckte bei der Erinnerung daran, wie der ganze Alptraum begonnen hatte, nervös zusammen; das war in dem Moment gewesen, als sie um die enge Haarnadelkurve gebogen waren . . . Doch damit mußte sie unbedingt aufhören: Die Übeltäter waren schließlich fort, das durfte sie nicht vergessen. Verschwunden, weg, verjagt. Und sie würde sich nie mehr Sorgen machen müssen, daß sie ihr oder ihrer Familie Schaden zufügen könnten.