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Mrs. Marshall?«

Cat blickte hoch; Lucas’ Tür war offen, und draußen auf dem Korridor des Krankenhauses stand ein untersetzter, schon kahl werdender Mann mit einer faßrunden Brust. An seinem kurzärmeligen Khakihemd war eine Polizeimarke befestigt. Er tippte sich an seinen breitkrempigen Hut.

»Chief Leroy Cooper«, stellte er sich vor.

Sie hatte ihn zwar nie persönlich kennengelernt, erkannte ihn aber sofort wieder, da sie ihn oft genug am Clinton Square gesehen hatte. In der kleinen Stadt, in der es eine Leihbibliothek, ein kombiniertes Rathaus-Polizeirevier, einen Stop&Shop-Supermarkt, eine Apotheke, eine Reparaturwerkstätte, einen Honda-Händler und ein gutes Dutzend Läden für Bekleidung und sonstigen Krimskrams gab, tätigte Cat in den Sommerwochen regelmäßig ihre Einkäufe.

Der öffentliche Strand von Clinton verfügte zwar über seine eigene private Polizeitruppe, aber wenn in den Sommermonaten die Bevölkerung der Stadt – einschließlich der nur spärlich besiedelten Gegend von Kelsy Point – von zwölftausend auf über sechzehntausend anstieg, dann reichte, eigentlich unnötig zu sagen, die normale Winterbesatzung der örtlichen Polizei – ein Chief zwei Innendienstleute und neun Streifenbeamte – bei weitem nicht aus, sobald das erste Ferienwochenende am Memorial Day in Sicht war.

Cat beugte sich vor und preßte ihre Lippen auf Lucas’ Stirn, nahm dann ihre Handtasche und folgte dem Polizeichef hinaus auf den Korridor. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, sagte er und reichte ihr ein in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen, das mit einer Schnur umwickelt war. »Die Kleider Ihres Mannes. Einer meiner Männer hat sie eingesammelt, als sie den Tatort sicherten. Wie geht es Mr. Marshall?«

Sie nickte. »Soweit ganz gut.«

Er warf einen Blick auf das Klemmbrett in seiner Hand und fuhr erklärend fort: »Ich war gerade wegen eines Feueralarms unterwegs – zwei kleine Kinder saßen im ersten Stock eines Hauses fest. Aber wir haben sie da herausgeholt. Ich kam gerade zurück, als Ihre Meldung einging.« Er schüttelte voller Abscheu und Mitgefühl den Kopf. »Bis jetzt hatten wir hier in der Gegend ziemlich viel Glück, was Gewaltverbrechen angeht; so etwas kam hier nicht oft vor. Den meisten Ärger bereiten uns den Sommer über Betrunkene und Randalierer; hier und da kommt es auch zu Handgreiflichkeiten innerhalb der Familie, diese Art von Rowdytum eben. Aber nichts, was man als wirklich brutales Gewaltverbrechen bezeichnen könnte. Da Sie und Ihr Mann ja seit Jahren hierherkommen, dürfte Ihnen das bekannt sein, nehme ich an.« Es war ihr bekannt, und offensichtlich kannte auch er sie vom Sehen. Er ließ sein Klemmbrett sinken und führte sie zu einer Bank am Ende des Korridors.

»Einer meiner Männer, Rudy, der junge Bursche, der vor einiger Zeit hier im Krankenhaus vorbeigekommen ist und versucht hat, mit Ihnen zu reden . . .?« Er hielt mitten im Satz inne, als wartete er auf eine Bestätigung von ihr; also nickte sie, und er fuhr fort: »Also, er hat sich den Tatort daraufhin noch einmal angeschaut, ob vielleicht etwas übersehen wurde. Aber er hat nichts mehr entdeckt . . . außer den Kleidern Ihres Mannes natürlich. Die Marke und Autonummer Ihres Wagens wird mittlerweile über Radio durchgegeben. Vielleicht haben wir ja Glück damit.«

»Wo haben Sie denn die Nummer her?« wollte Cat wissen. Sie hatte Lucas nicht einen Augenblick lang allein gelassen und bisher auch mit keinem der Streifenbeamten gesprochen. Außerdem hätte sie die Autonummer gar nicht gewußt.

»Ihr Sohn wußte sie. Ein wirklich aufgewecktes kleines Kerlchen, das Sie da haben. Laut Rudy hat er sehr genau beobachtet und war imstande, uns eine detaillierte Beschreibung der beiden Männer zu geben, die Sie terrorisiert haben. Wenn Sie vielleicht so freundlich wären, mal einen Blick auf die Aufzeichnungen hier zu werfen und sie auf ihre Korrektheit zu überprüfen. Vielleicht möchten Sie auch noch etwas hinzufügen.« Jetzt endlich gab er ihr das Klemmbrett, auf dem vier handbeschriebene Seiten befestigt waren.

Sie hatte eben zu lesen begonnen, als er mit dem Daumen auf den Warteraum neben der Schwesternstation deutete. »Ach übrigens, mir sind die Kinder gar nicht aufgefallen, als ich vorbeikam –«

»Nein, ich habe sie bereits vor einer Weile abholen lassen. Von unserer Haushälterin. Möglicherweise kennen Sie sie, sie lebt seit Jahren hier in der Gegend. Winnie Rawson.«

Während Lucas im Operationssaal war, wo man seinen Beinbruch versorgte, hatte Cat kurz mit den Kindern gesprochen und ihnen versichert, daß ihr Vater wieder in Ordnung käme. Dann hatte sie Winnie angerufen, die eigentlich erst am Montag in das Strandhaus hätte kommen sollen. Winnie war seit Jahren der gute Geist des Hauses, seit Lucas es vierundzwanzig Jahre zuvor erworben hatte.

»Klar kenne ich Winnie«, sagte er. »Eine wirklich nette Frau.«

Cat nickte. »Sie hat sich sofort bereit erklärt, die Kinder abzuholen und bei ihnen im Strandhaus zu übernachten. Der Arzt wird Lucas wahrscheinlich morgen früh entlassen.« Der Polizeichef lenkte Cats Aufmerksamkeit wieder auf die Seiten auf dem Klemmbrett, die sie zu Ende durchlas und ihm anschließend zurückgab. »Das einzige, was ich noch hinzufügen kann, ist die Tatsache, daß der größere, schwerere von beiden, der, der sagte, sein Namen sei Warren, einen völlig kaputten linken Schneidezahn hatte. Sie wissen schon, ganz schwarz verfärbt.«

Chief Cooper notierte sich diese Information am unteren Rand des obersten Blattes.

»Kam Ihnen einer der beiden Männer bekannt vor?«

»Bekannt? Nein, wieso sollten sie das?«

Er zuckte die Schultern. »Ach, ich frage mich nur, ob hinter dem Überfall vielleicht etwas Persönliches steckt. Sie wissen schon – Leute, die aus irgendwelchen Gründen wütend auf Sie sind. Die sich rächen wollen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das war bestimmt nicht der Grund. Ich habe die beiden noch nie zuvor gesehen, und wenn Lucas sie gekannt hätte, wäre mir das sofort aufgefallen. Wir haben keine Feinde . . . enge Freunde haben wir eigentlich auch nicht viele. Wir sind keine sehr geselligen Menschen. Ich bin überzeugt, daß die meisten Nachbarn bei uns im Ort uns als schreckliche Langweiler bezeichnen würden.« Sie lächelte, das erste Mal seit dem Überfall; ihr Mund fühlte sich steif und völlig aus der Übung an. »Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, daß diese beiden Männer uns aufs Geratewohl angehalten haben. Sie konnten doch unmöglich wissen, wer da die Straße entlangkam.«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber Sie müssen verstehen, daß wir hier in der Gegend keine große Erfahrung mit derartigen Überfällen auf Autos haben. Nicht, daß ich mich darüber beschweren möchte, verstehen Sie mich nicht falsch.«

»Nun, wir auch nicht. Aber es wird uns nie mehr passieren, daß wir noch einmal mit unverriegelten Türen herumfahren. Wenn dieser junge Mann nicht gewesen wäre –« Sie hielt inne, da sie den Gedanken lieber nicht laut aussprechen wollte.

»Sie sprechen von Simon Bower, dem Jungen, der die Polizei verständigt hat?«

»Ja. Kennen Sie ihn?«

»Ich weiß nur das, was hier in meinen Unterlagen steht und was Rudy mir gesagt hat. Bower ist weggefahren, gleich nachdem er befragt wurde. Nicht, daß er viel gewußt hätte – offensichtlich sind die zwei Kerle sofort abgehauen, als er ihnen mit seiner Waffe drohte. Das war ein kluger Schachzug von ihm. Zum Glück für alle Beteiligten ist der Schuß aber nicht nach hinten losgegangen.«

Sie nickte, und ihr fiel die Szene wieder ein. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich ihn erreichen kann? Ich würde mich gerne bei ihm bedanken, wie es sich gehört.«

»Das dürfte schwierig werden – ich habe nämlich keine Adresse von ihm«, erwiderte er und stand auf. »Sieht so aus, als habe er die letzten paar Tage drüben in Chatfield Hollow kampiert und dort gefischt. Aber soweit ich weiß, hat er seine Sachen schon wieder zusammengepackt und ist weitergezogen. Er stammt ursprünglich aus Arizona und ist einer von denen, die das College sausen lassen und losziehen, um sich selbst zu finden. Ich schätze, wenn man sich schon unbedingt selbst finden muß, dann tut man das am besten, solange man noch jung und ungebunden ist.«

Cat tat es dem Polizeichef nach und stand ebenfalls auf. Sie wünschte sich, Simon hätte es nicht gar so eilig gehabt, wieder von hier zu verschwinden. Oder daß sie sich vorher wenigstens ein paar Minuten Zeit genommen hätte, um mit ihm zu sprechen.

Leroy Cooper tippte an seinen Hut. »Ach ja, noch etwas, Mrs. Marshall. Waren irgendwelche Papiere im Wagen, aus denen diese Burschen schließen könnten, wo Sie wohnen? Ich meine damit Ihre hiesige Adresse.«

Die Vorstellung, daß diese Ungeheuer in den Besitz ihrer Adresse gelangen könnten, traf sie wie ein Schock, und so ging sie in Gedanken rasch alle Papiere durch, die sie normalerweise im Handschuhfach aufbewahrten. Nach sorgfältiger Überlegung war sie sich jedoch sicher, daß der Wagen nicht auf sie, sondern auf die Center Construction and Engineering Company in Northampton zugelassen war.

»Nein«, meinte sie schließlich. »Nichts.«

»Gut.«

»Wollen Sie damit andeuten, daß die beiden vielleicht zurückkommen könnten, um uns zu suchen?«

»Das will ich damit nicht sagen, aber man weiß ja nie, was in derartig kranken Köpfen vor sich geht. Ich versuche nur, alle Möglichkeiten auszuschließen, daß wir eine weitere böse Überraschung erleben. Stehen Sie und Mr. Marshall eigentlich im Telefonbuch?«

»Nein. Wir hatten schon immer eine Geheimnummer. Sie steht in keinem Telefonbuch.«

»Das ist ein weiterer Pluspunkt. Hören Sie, ich wollte Sie noch bitten, daß Sie vielleicht mal zu uns aufs Revier kommen und sich ein paar Schnappschüsse aus der Verbrecherkartei anschauen, wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben. Wer weiß, möglicherweise haben wir Glück. Dann würde ich natürlich auch noch gerne mit Mr. Marshall sprechen, bevor er das Krankenhaus verläßt.«

Der Gedanke gefiel ihr gar nicht, und er hob beschwichtigend die Hand. »Keine Angst, Sie müssen nicht glauben, daß ich ihn aufregen oder ermüden will. Ich werde ihn nicht länger als fünf Minuten belästigen. Nur lange genug, damit er mir das bestätigen kann, was ich ohnehin schon in Händen halte. Und wenn das alles mit seiner Aussage übereinstimmt, wovon ich ausgehe, nun, dann wage ich zu sagen, daß Sie sich keine weiteren Sorgen zu machen brauchen.«

Aber wieso wurde sie doch plötzlich wieder von Angst ergriffen? Sie kehrte in Lucas’ Zimmer zurück und schloß leise die Tür, um ihn nicht aufzuwecken. Dann legte sie das Päckchen mit den Kleidungsstücken und ihre Handtasche auf den Boden neben das Bett und ging hinüber zum Fenster. Sie sah hinaus und schob das Fenster ein Stück weiter nach oben, um frische Luft hereinzulassen. Es war nichts weiter als ein Überfall gewesen, ein Überfall auf ihr Auto, verübt von ein paar Verrückten, die sich auf ihre Kosten hatten amüsieren wollen.

Schließlich kehrte sie an das Bett zurück, setzte sich ganz vorn auf die Kante des mit Kunstleder bezogenen Sessels und betrachtete Lucas: Sein Gesicht war dick verquollen und unter den Augen blau angelaufen; eine Lippe war aufgeplatzt und mehrmals genäht; auf der Stirn hatte er eine Beule, so groß wie ein Hühnerei, und die Wunde am Hals war mit zwölf Stichen genäht worden. Unter seinem dünnen Krankenhausnachthemd verbargen sich noch Dutzende weiterer Prellungen und Blessuren.

Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie holte tief Luft, um sie zurückzudrängen. Irgendwann lehnte sie ihren Kopf an die Rückenlehne des Sessels und schlief ein. Die ganze Nacht über verbrachte sie in einer Art Dämmerzustand, aus dem sie zum letztenmal gegen Morgen erwachte, voller Panik, als sich eine Hand um ihr Kinn legte und sich Finger in ihre Wangen gruben.

Sie sprang hoch, zog scharf die Luft ein und sah sich um: Da war niemand im Zimmer, keiner, der sie berührt hätte. Sie strich sich mit beiden Händen über die Wangen, die immer noch gerötet und empfindlich waren. Seufzend beugte sie sich über Lucas, um sich zu vergewissern, daß es ihm gutging.

Sie hörte, daß er stark und regelmäßig atmete, stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, durch diese tröstende Berührung das fröstelnde Gefühl in ihren Knochen loszuwerden. Als sie im Geist noch einmal die Unterhaltung mit dem Polizeichef durchging, fiel ihr auf, daß eine ihrer Aussagen nicht völlig der Wahrheit entsprochen hatte; es hätte durchaus jemand wissen können, daß es ihr Wagen war, der zu dieser Zeit die Straße herunterkam. Das war natürlich keine großartige Erkenntnis, denn sie brachen immer am ersten Freitag nach Ferienbeginn zu ihrem Strandhaus auf, und das regelmäßig wie ein Uhrwerk, seit Haley in den Kindergarten gekommen war. Und doch war die Route 79 so verlassen wie selten zuvor gewesen – was wiederum nichts Außergewöhnliches war, da sie sonst immer bei Tageslicht unterwegs gewesen waren. Aber ausgerechnet dieses Mal waren sie ein paar Stunden später als gewöhnlich aufgebrochen. Wegen dieses fälschen Bombenalarms.

Geradezu albern war das, wie ihre Phantasie mit ihr durchging; das sah ihr gar nicht ähnlich. Und das nur wegen dieser vielen Fragen, die ihr der Polizeichef gestellt hatte. Die mächtige Kraft der Suggestion. Feinde? Kaum.

Winnie hatte das leere Zimmer im ersten Stock für sich selbst hergerichtet, und obwohl sie gleich nach den Kindern ins Bett ging, konnte sie nicht gut schlafen. Zuerst war da dieser Anruf gegen ein Uhr – irgend jemand hatte sich verwählt –, und dann gingen ihr der arme Lucas und das, was der Familie laut Cats Beschreibung draußen in Chatfield Hollow widerfahren war, nicht mehr aus dem Kopf.

Auch die Kinder waren schrecklich verstört gewesen. Haley hatte wie immer, wenn sie nervös oder aufgeregt war, mit hundert Meilen in der Minute losgerattert wie ein Maschinengewehr, und Zack hatte unbedingt allein am dunklen Strand spazierengehen wollen. Wäre Cat dagewesen, hätte sie es ihm erlaubt, aber Winnie war nicht so nachgiebig wie Cat. Nach Einbruch der Dunkelheit hatten Kinder draußen nichts mehr verloren, selbst auf dem eigenen Grundstück nicht.

Um sie zu zerstreuen und von den entsetzlichen Ereignissen abzulenken, deren Zeugen sie geworden waren, hatte sie deshalb eine Ladung Schokoladenkekse – Lucas’ Lieblingssorte – auf einen Teller getan, eine CD mit Melodien aus den Fünfzigern aufgelegt und – während die Kinder sich die Bäuche mit Keksen vollschlugen – ein paar Tanzschritte aus der Zeit improvisiert. Als Winnie ihre Vorführung beendete, waren die Kinder zufrieden und lachten, und ihr tat gehörig der Rücken weh.

Winnie Rawson wirkte mit ihren sechsundfünfzig Jahren immer noch gesund und fit: bei einer Körpergröße von einssechzig brachte sie gerade mal sechsundfünfzig Kilo auf die Waage, und an ihrem ganzen Körper war nicht die Spur von Cellulitis festzustellen. Nur ihr Rücken, der gab ihr das Gefühl, alt wie Methusalem zu sein. Ein Bandscheibenvorfall vor einigen Jahren hatte sie außer Gefecht gesetzt – zumindest, was ihren Job als Kellnerin betraf, die einzige Arbeit, die sie je gekannt hatte. Außer der als Haushälterin natürlich. Aber das war etwas anderes. Das tat sie nur für die Marshalls, und diese Stellung würde sie auch erst dann aufgeben, wenn sie im Leichenschauhaus lag.

Sie arbeitete im Sommer ohnehin nur drei Tage in der Woche, und dann auch nur leichte Tätigkeiten; Cat Marshall war kein pingeliger Typ und, was den Haushalt betraf, sogar noch lockerer, als Lucas es vor seiner Ehe mit ihr gewesen war. Und als Cat dann erfahren hatte, in welchem Zustand Winnies Rücken war, hatte sie zusätzlich noch einen Putzservice damit beauftragt, vor Beginn der Saison die schweren Arbeiten im Haus zu erledigen. Cat erwähnte diesen Putzservice Winnie gegenüber mit keinem Wort; Winnie erfuhr erst durch eine Bekannte davon. Cat war nicht der Typ, der auf Applaus aus war.

Mit Ausnahme von Winnies Cousine Audrey, deren Mann und vier Kinder war Winnies Familie in alle Winde zerstreut – sowohl emotional als auch geographisch. So wuchsen ihr die Marshalls bald wie eine Familie ans Herz. Winnie kannte sie natürlich auch schon lange genug. Als sie vor dreiundzwanzig Jahren für Lucas zu arbeiten angefangen hatte, war es ihr einziges Sinnen und Trachten gewesen, ihm nahe zu sein.

Sie hatten sich im Ocean Haven Diner kennengelernt; normalerweise saß er immer in ihrem Service, wenn er zum Frühstücken oder Mittagessen kam. Aber ihm wäre nie in den Sinn gekommen, sich mit ihr zu verabreden. Und sie, der man bestimmt nicht hätte nachsagen können, daß sie besonders schüchtern gewesen wäre – sie hatte sich schon mit vielen Männern aus dem Diner getroffen –, auch sie bekam den Mund nicht auf, wenn es um Lucas ging und darum, ihm zu sagen, wie verrückt sie nach ihm war.

Als er sie jedoch eines Tages fragte, ob sie ihm jemanden aus dem Ort empfehlen könnte, der ihm den Haushalt führen würde, da sagte sie Hals über Kopf zu. Er war im ersten Moment zwar etwas überrascht, erholte sich aber rasch wieder und gab ihr seinen Reserveschlüssel für das Strandhaus. Da er unter der Woche die meiste Zeit über unterwegs sei, wie er ihr sagte, könne sie an jedem Wochentag, der ihr genehm war, zur Arbeit kommen.

Das war die Phase, in der sie sich zum ersten Mal ihrem unerfüllbaren Tagtraum hingab: Er begann immer damit, daß Lucas aufwachte, sich umdrehte und sie splitterfasernackt neben sich im Bett fand. In der einen Version war er so überwältigt und voller Leidenschaft, daß er gar nicht mehr genug von ihr bekommen konnte: im Bett, unter der Dusche, dann noch zweimal in der Küche, gleich auf der Geschirrspülmaschine – unermüdlich wie Herkules, aber mit viel Einfühlungsvermögen. In der anderen Version hingegen wies er sie zurück unter Aufbietung aller möglichen Ausreden: Sie sei zu alt für ihn, er wolle nicht Geschäft und Vergnügen miteinander vermengen, er fände sie nicht attraktiv genug . . .

Eines Samstagabends, nachdem sie wochenlang ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte, benützte sie ihren Schlüssel für das Strandhaus, sperrte auf und schlich sich auf Zehenspitzen in Lucas’ Schlafzimmer. Er war im Bett, aber er schlief nicht, und allein war er auch nicht.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und stolperte im Hinauslaufen über die Türschwelle. Falls er etwas gesehen oder gehört haben sollte – er ließ es sich nie anmerken. Sie überlegte kurz, ob sie kündigen sollte, beschloß aber dann, nicht überstürzt zu handeln. Lucas war zwar anspruchsvoll, zahlte aber gut für seine Extrawünsche. Außerdem, was konnte es schon schaden, den Kontakt aufrechtzuerhalten? Laß es gut sein, Winnie, er ist schließlich nicht der einzige Mann in der Stadt.

All das lag für Winnie viele Jahre und eine Armee von Männern zurück; und auch bei Lucas waren die Frauen gekommen und gegangen. Während dieser ganzen Zeit war Winnie geblieben, hatte Überstunden gemacht, wenn Lucas sie benötigte, hatte gekocht und bedient, wenn er Einladungen gab. Hin und wieder stolperte sie beim Aufräumen auch über verräterische Hinterlassenschaften: vergessene Spitzenhöschen unter dem Bett; einen Büstenhalter und eine Strumpfhose, die in eine Ecke geworfen waren; verschmierte Wimperntusche und Nagellackspuren auf dem Toilettentisch im Bad.

Oft erhaschte sie dabei auch einen Blick auf die jeweils aktuelle Dame, die unter der Woche bei Lucas im Strandhaus übernachtete. Oder sie mußte gelegentlich am Telefon für ihn mit einer Ausrede einspringen, wenn er besonders hartnäckige Fälle wieder loswerden wollte. Sie haßte selbstverständlich alle diese Frauen, hatte an jeder etwas auszusetzen, und jedes neue Gesicht versetzte ihr einen Stich ins Herz.

Als sie merkte, wie ernst es Lucas mit Cat war, war sie darauf vorbereitet gewesen, ähnliches zu empfinden – sie sogar noch mehr zu hassen, als sie sah, wie jung und schön sie war. Aber Cat war keine, die man so leicht hassen konnte.

Das Telefon klingelte, und sie sprang aus dem Bett, wobei sie völlig ihren Rücken vergaß, bis der Schmerz sie wieder daran erinnerte. Als sie endlich zum Telefon kam, hatte Haley bereits abgenommen.

»Wie geht es Daddy?«

Sie lauschte ein paar Minuten, nickte. Als sie genug gehört hatte, reichte sie den Hörer an Winnie weiter.

»Gute Neuigkeiten«, sagte Cat. »Ich bringe Lucas nach Hause.«

Zwischen den diversen Visiten der Ärzte, den Besuchen der Schwestern und der üblichen Morgenroutine im Krankenhaus hatte Cat nicht eine Sekunde Gelegenheit, mit Lucas allein zu sein, als er am nächsten Morgen erwachte. Aber seiner schroffen Art nach zu schließen, mit der er jeden behandelte, der sich ihm näherte, schien er keinesfalls die Absicht zu haben, sich wie ein braver Kranker zu benehmen. Natürlich hatte er jeden Grund, schlecht gelaunt zu sein, aber Cat hoffte dennoch, daß sich seine Stimmung wieder bessern würde, sobald er erst einmal im Strandhaus wäre.

Cat hatte in Lucas Badezimmer ihre schmutzigen und zerschrammten Knie gewaschen und sich, so gut es ging, zurechtgemacht, ehe sie zuerst Winnie und die Kinder und anschließend Jack Reardon, Lucas’ langjährigen Geschäftspartner, anrief. Ihr erstes Treffen mit Jack und seiner Frau war schrecklich steif und gezwungen gewesen – schließlich hatten die beiden bereits drei erwachsene Kinder, darunter einen Sohn fast in Cats Alter. Aber im Lauf der Jahre war der Altersunterschied immer mehr in den Hintergrund getreten, und sie waren die besten Freunde geworden.

»Möchtest du, daß ich zu euch komme, Cat?« wollte Jack wissen, nachdem sie ihm eine verkürzte Version der Ereignisse erzählt und er entsprechend reagiert hatte mit dem üblichen Abscheu, dem Entsetzen und der Wut über eine innerlich verfaulte Gesellschaft, die derartige Gewaltausbrüche duldete.

»Nein, es ist soweit alles in Ordnung mit uns. Trotzdem vielen Dank. Nur eines gibt es, Jack, der Bronco läuft doch auf die Firma. Vielleicht könnte Shirley die Versicherung benachrichtigen.« Shirley war die Büroleiterin, seit den Anfangsjahren bei der Firma und nach Aussage beider Partner einfach unersetzlich.

»Wird erledigt. Ach übrigens, falls du dazu kommst, könntest du eine Liste der Gegenstände erstellen, die euch abhanden gekommen sind, dann, was es kostet, sie zu ersetzen, und mir diese Liste schicken. Das hat aber keine Eile.«

»Okay. Dann ist da noch etwas –«

»Sprich, nur zu.«

»Was war eigentlich mit der Bombendrohung gestern?«

Er antwortete nicht gleich, sondern fragte: »Wieso, glaubst du, daß ein Zusammenhang mit dem Überfall auf euch besteht?«

»Nein, im Grunde nicht. Es ist nur so, daß mir die Polizei jede Menge Fragen gestellt hat. Und du weißt doch, wie es dann so geht; man sitzt herum, hat nichts zu tun, stellt alle möglichen Überlegungen an und kombiniert dieses und jenes, obwohl es vielleicht gar nichts mit der Sache zu tun hat.«

»Ich kann dazu nur sagen, daß bereits früher hin und wieder Bombendrohungen bei uns eingingen. Wie bei vielen anderen Firmen übrigens auch – erst vor ein paar Wochen gab es drüben im Gerichtsgebäude von Hampshire eine Bombendrohung. Und wie du ja genau weißt, hat nie etwas Ernstes dahintergesteckt. Außerdem hört sich das für mich so an, als seid ihr aus purem Zufall Opfer dieses Überfalls geworden, jedenfalls nach dem zu schließen, was du mir erzählt hast.«

»Ja, natürlich. Aber dann habe ich mir gedacht, na ja, wir fahren immer am Freitag nachmittag weg, sobald die Schule schließt –« Sie stieß ein kurzes, nervöses Lachen aus und sagte dann: »Irgendwie ist das verrückt. Abgesehen davon, daß kaum jemand darüber Bescheid wissen konnte, wer sollte sich auch schon dafür interessieren? Bitte, Jack, wenn du mit Lucas sprichst, sag ihm nicht, daß ich dich danach gefragt habe. Ich will nicht, daß er glaubt, ich mache mir Sorgen.«

»Versprochen – ich schweige wie ein Grab. Was mag er denn für Blumen? Ich schick ihm ein paar Dutzend.«

»Vergiß die Blumen. Schick ihm lieber eine Angelrute, mit der er vom Hafendamm oder vom Anlegeplatz aus angeln und sich in aller Ruhe erholen kann. Das ist ihm bestimmt lieber.«

Cat kehrte gerade rechtzeitig in sein Zimmer zurück, um einen von Lucas’ Temperamentsausbrüchen mitzubekommen. Chief Cooper hatte ihm erzählt, daß der junge Bower bereits wieder unterwegs und unerreichbar sei. Woraufhin Lucas hatte wissen wollen, wieso die Polizei – bei all den nutzlosen Fragen, die offensichtlich für die üblichen Berichte sonst nötig waren – weder die Automarke noch die Nummer des Wagens in ihren Unterlagen habe. Er wolle Simon Bower schließlich unbedingt erreichen und sich persönlich bei ihm bedanken.

Als der Chief sich nicht einschüchtern ließ und weiter seinen Beamten verteidigte, daß dieser sich haargenau an die übliche Vorgehensweise der Polizei in einem solchen Fall gehalten habe, schoß Lucas zurück: »Da scheint mir aber einiges ziemlich im argen zu liegen bei eurer Vorgehensweise.«

Cat legte ihrem Mann beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Komm, Lucas, laß es gut sein«, bat sie ihn; sie verstand seinen Frust, wollte aber, daß er sich wieder beruhigte.

»Hören Sie, Mr. Marshall«, erwiderte der Polizeichef, »mir ist durchaus klar, was Sie in den letzten fünfzehn Stunden alles durchgemacht haben, ich nehme Ihnen Ihre Reaktion deshalb auch nicht übel. Aber vielleicht sollten Sie sich einmal die Finanzen unserer kleinen Stadt ansehen, und mit welchen Mitteln wir das alles hier am Laufen halten. Und angesichts des rasanten Wachstums unserer Einwohnerzahlen in den Sommermonaten – das wir im übrigen Urlaubern wie Ihnen zu verdanken haben –, erledigen wir unsere Arbeit gar nicht so schlecht.«

Ein Urlauber, der auf seinen Zweitwohnsitz immerhin ziemlich hohe Steuern zahlt, dachte Cat und wußte, daß Lucas wahrscheinlich dasselbe durch den Kopf ging. Aber er hielt sich zurück und sagte nichts. Statt dessen meinte er: »Wie stehen denn die Chancen, daß sich der Junge immer noch in Chatfield Hollow aufhält?«

Der Ärger des Polizeichefs schien allmählich nachzulassen, während er überlegte. »Na ja, kann durchaus sein. Aber ich habe ja nicht einmal seine Automarke –«

»Ich kann mich zwar auch nicht an die Farbe oder die Marke erinnern«, warf Cat ein, »aber ich weiß noch, daß er einen Kleinbus fährt. Wenn Ihnen das weiterhilft?«

»Nun, das ist doch immerhin etwas«, entgegnete er. »Wissen Sie was, ich werde heute nachmittag einen meiner Männer nach Chatfield Hollow hinausschicken, damit er sich dort etwas umsieht. Und wenn das nichts bringt, legen wir noch einen Zahn zu, und ich rufe die Zulassungsstelle in Tucson an, wo der Junge herstammt. Wenn wir seine Autonummer haben, können wir nach ihm fahnden. Und wenn er noch in unserem County ist, besteht auch eine Chance, ihn zu finden. Aber Sie müssen wissen, daß wir eigentlich nur ungern zu solchen Maßnahmen greifen, wenn keine wirklich dringende polizeiliche Notwendigkeit besteht.«

Lucas streckte dem Mann die Hand entgegen, die dieser auch ergriff. »Tut mir leid, daß ich vorhin so schroff zu Ihnen war«, entschuldigte Lucas sich. »Ich zweifle nicht, daß Sie mit wenigen Leuten gute Arbeit leisten. Aber ich bin diesem Jungen etwas schuldig – ich möchte etwas für ihn tun.«

Bevor Leroy Cooper ging, versprach er noch, daß er sich in ein paar Tagen wieder bei ihnen melden würde. Als er draußen war, schaute Lucas Cat fragend an. »Alles in Ordnung, Liebes?«

Sie nickte, beugte sich zu ihm, und sie küßten einander sanft.

»Es ist so ein wunderschöner Tag, Lucas, warm, sonnig, nicht eine Wolke am Himmel –«

»Wie lange war ich bewußtlos, Cat?«

»Wann?«

»Gestern abend. Cooper hat mir davon erzählt.«

»Nicht sehr lange. Liebling, bitte . . . Können wir nicht einfach nur dankbar sein, daß alles vorbei und vorüber ist? Und wäre es nicht wunderbar, wenn der Chief den jungen Bower tatsächlich finden würde?«

»Ja, das wäre es«, erwiderte er, legte seine Hand an ihre Wange und streichelte sie. Dann streckte er mit einem Seufzer die Hand nach dem Nachttisch neben seinem Bett aus und öffnete ihn. »Wie wäre es, wenn du mir etwas Anständiges zum Anziehen besorgen und mich so schnell wie möglich hier rausbringen würdest?«

Cat hatte zuvor in der Geschenkboutique des Krankenhauses ein T-Shirt für ihn besorgt und den Schmutz aus seinen Hosen gebürstet; das würde einstweilen genügen müssen. Die Tatsache, daß sie nicht einmal einen Wagen hatten, um damit heimzufahren, wurde ihr erst bewußt, als Lucas den jungen Pfleger, der seinen Rollstuhl schob, bat, kurz am Empfang in der Halle anzuhalten. Lucas nannte der Schwester seinen Namen, woraufhin sie ihm einen kleinen, braunen Umschlag gab, dem er drei Schlüssel entnahm – einen befestigte er an seinem Schlüsselbund und einen reichte er Cat. Den dritten steckte er in seine Brieftasche.

»Ein 95er Cherokee-Jeep«, sagte er. »Metallicblau. Das Mädchen, mit dem ich gesprochen habe, sagte, er würde gleich in der rechten Reihe stehen, wenn man das Gebäude durch den Haupteingang verläßt.«

»Ein Leihwagen?« fragte sie. Er nickte. »Wann, um alles in der Welt, hast du die Zeit dafür gefunden?«

»Vorher. Als du mit deinen Erledigungen beschäftigt warst.«

»Woher wußtest du, daß ich mich nicht bereits darum gekümmert hatte?«

»Ich dachte mir, daß du bestimmt genügend andere Dinge zu tun hast. Wieso?«

»Nichts, ich wünschte mir nur, du hättest mich –« Selbst in ihren Ohren klang ihr Einwand reichlich albern, da sie den Wagen wirklich vergessen hatte. Vielleicht hatte es mit ihrem Wunsch zu tun, zur Abwechslung einmal Lucas etwas abzunehmen, wozu sie sonst nur selten in der Lage war. So beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuß. »Mach dir keine Gedanken, Liebling, ich bin nur sauer auf mich selbst.«

Gemeinsam mit dem Pfleger half sie Lucas auf den Rücksitz des Jeeps, wo er seine Beine ausstrecken konnte. Die Krücken, die sie im Krankenhaus gekauft hatten, legte sie neben ihn auf den Boden. Dann fuhren sie zu der Apotheke, die einen Block weiter unten in derselben Straße lag, um die Medikamente abzuholen, die Dr. Robbins ihm verschrieben hatte: Tylenol mit Codein und Valium, die er beide aber nur nehmen sollte, wenn es unbedingt nötig war. Lucas, der in der Zwischenzeit im Wagen geblieben war, suchte gerade angestrengt den Parkplatz ab, als Cat ein paar Minuten später wieder zurückkam.

Sie stieg in den Wagen, steckte den Schlüssel in den Anlasser und wollte losfahren. »Was ist los, Lucas?«

»Cat, tu mir bitte einen Gefallen«, sagte er mit leiser und beherrschter Stimme. »Fahr den Wagen auf die andere Seite des Parkplatzes.«

Sie setzte zurück und überquerte den Platz vor dem Einkaufszentrum; sie wartete immer noch auf eine Erklärung. Als keine kam, fragte sie schließlich: »Willst du mir nicht sagen, was wir hier suchen?«

»Ich habe sie gesehen, Cat. Es ist noch keine zwei Minuten her. Sie haben neben dem Radiogeschäft geparkt.«

»Wer?«

»Diese Schweine. Sie fuhren den Bronco.«

Vielleicht war sie ja etwas begriffsstutzig, aber damit hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Sie spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog, und hielt gespannt den Atem an, als sie neben dem Radiogeschäft zum Stehen kam. Ohne ein Wort zu wechseln, suchten sie beide die geparkten Wagenreihen ab, bis ihre Blicke schließlich an einem alten Bronco mit Nummernschildern aus Connecticut hängenblieben. Sie wandte sich an Lucas.

»War das der Wagen, den du vorhin gesehen hast?«

Er warf noch einmal einen prüfenden Blick über alle Wagen in der Reihe und kehrte wieder zu dem alten Bronco zurück. Schließlich schaute er Cat entschuldigend an, zuckte die Schultern und deutete auf die Straße nach Kelsy Point.

»Nichts wie raus hier. Okay?«

Er hatte also einen ähnlichen Wagen gesehen und den falschen Schluß daraus gezogen. Nach allem, was sie beide durchgemacht hatten, war das nur verständlich. Aber wenn sie darüber nachdachte, konnte Cat es sich nicht vorstellen, daß diese beiden Gauner den Nerv hatten, sich bei hellichtem Tag in der Gegend sehen zu lassen. Und dann noch in dem gestohlenen Wagen? So unverfroren waren sie wohl doch nicht. Oder so dumm. Nicht, wenn die Polizei sie suchte.

Lucas war während der Fahrt ungewöhnlich schweigsam, so daß Cat das Reden übernahm. Sie plapperte über alles – angefangen beim Wetterbericht bis hin zu dem neuesten Strandklatsch, den sie in der Ausgabe von Shore Weekly aus dem Wartezimmer des Krankenhauses gelesen hatte, aber er bekam den Mund nicht auf.

»Nun, über diese Roßkur wird Haley ihre Freunde zu Hause mit Sicherheit eine Weile vergessen«, sagte sie schließlich in einem letzten Versuch, mit dieser Bemerkung ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.

Sie spürte, wie sich seine Augen in ihren Rücken bohrten, ehe er sagte: »Okay, du meinst also, wir könnten Witze darüber reißen, alles, nur um nicht ernsthaft miteinander reden zu müssen, oder? Habe ich das richtig verstanden?«

»Was soll das heißen?«

»Seit heute morgen versuchst du nichts anderes, als krampfhaft gute Laune zu verbreiten. Ständig redest du um den heißen Brei herum und bemühst dich, ja nicht an das zu rühren, was gestern abend passiert ist. Ich schließe daraus, daß du nicht darüber reden willst.«

»Das ist nicht fair, Lucas. Ich denke dauernd daran, rede darüber, ja, ich träume sogar davon. Wenn es mir nun lieber ist, mich auf etwas Angenehmeres zu konzentrieren, dann versuche doch bitte, das zu verstehen. Das soll aber nicht heißen, daß wir dieses Thema vermeiden müssen.«

»Nein, wahrscheinlich hast du recht, Cat«, erwiderte er in versöhnlicherem Tonfall. »Das war nicht sehr vernünftig von mir. Ich komme mir einfach nur so vor, als hätte mich eine Riesenfaust gepackt und durchgeschüttelt. Und bisher hat das Schlottern noch nicht aufgehört.«

Wieso hatte sie nur den Eindruck, daß sie die Hälfte der Zeit damit verbrachten, sich voreinander zu entschuldigen? »Lucas, ich fürchte nur, wenn wir einmal anfangen . . . nun, ich will einfach nicht, daß wir uns zu sehr in dieses Thema verbeißen.« Sie verstummte und holte tief Luft. »Du hast keinen von den beiden Kerlen gekannt, oder?«

»Nein. Hast du gedacht, ich hätte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Als der Polizeichef mich danach gefragt hat, habe ich nein gesagt. Meinst du, daß die Männer ihre richtigen Namen benutzt haben?«

»Ich weiß es nicht.« Danach schwiegen sie eine lange Zeit, ehe Lucas sagte: »Cat, ich will, daß diese widerlichen Mistkerle gefunden werden. Aber ich fürchte, wenn wir die Sache der örtlichen Polizei überlassen, wird sie irgendwann einmal unerledigt zu den Akten gelegt.«

Natürlich, sie wollte auch, daß die Männer bestraft wurden. Wenn sie nur einigermaßen hätte sicher sein können, daß es rasch ginge und man die beiden für lange Zeit hinter Gitter steckte. Aber angesichts der Tatsache, daß der Schaden nicht größer ausgefallen war, und bei all dem, was sie über das Strafrechtssystem gehört und gelesen hatte, wären sie wahrscheinlich innerhalb weniger Monate wieder aus dem Gefängnis, falls sie überhaupt hineinkämen. Es hätte sie weitaus mehr erleichtert, zu wissen, daß Warren und Earl, oder wie immer sie auch hießen, mittlerweile Hunderte von Meilen weit weg gewesen wären. Und daß sie ihr und ihrer Familie nie mehr wieder unter die Augen treten würden.

»Ich denke nicht, daß es unbedingt so kommen muß«, meinte sie schließlich und bezog sich damit auf seine zweifelnde Bemerkung über die Polizei vor Ort. »Wieso gibst du ihnen nicht wenigstens eine Chance?« Lucas erwiderte nichts, und obwohl er das Thema nicht ansprach, wußte sie, daß er darüber nachdachte, einen Privatdetektiv damit zu beauftragen, die beiden Männer zu finden. Und das hieße dann, daß jede Minute ihres Tages damit ausgefüllt wäre, an nichts anderes zu denken und über nichts anderes zu reden.

»Weißt du, was ich mir mehr als alles andere wünsche?« sagte sie. Hinter ihr auf dem Rücksitz blieb es still; er wartete, daß sie weitersprach. »Ich möchte, daß wir versuchen, die schrecklichen Ereignisse von gestern abend zu vergessen und mit unserem Leben wie bisher fortzufahren. Ich weiß, daß es nicht leicht werden wird – es war ein verheerendes, niederschmetterndes Erlebnis. Aber laß die Polizei ihren Job machen. Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, unsere emotionalen Verletzungen zu heilen. Bitte, Lucas, ja?«

In Simons Bann

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