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2. KAPITEL
ОглавлениеWenn sie genauer hätte sagen sollen, was ihr zuerst an ihm aufgefallen war, dann hätte sie geantwortet, daß es die Traurigkeit in seinen Augen war. Natürlich hatte er außerdem auch noch gut ausgesehen – nachdem sie ihn mehr als einmal verstohlen gemustert hatte, war ihr sein kantiges Profil bereits tief ins Gedächtnis eingegraben. Doch als ihr auffiel, wie seine grauen Augen wie zufällig aufblickten und sie in dem Spiegel hinter der Reihe von Whiskeyflaschen ansahen, sich aber sofort wieder auf sein Bierglas senkten, da wußte sie, daß er sie niemals ansprechen würde. Wenn sie ihn kennenlernen wollte, dann mußte sie ihren ganzen Mut aufbringen und die Sache selbst in die Hand nehmen.
Als sie gegen halb zwölf abends in Bennigans Grillbar im Norden Bostons kam, setzte sie sich neben ihn, bestellte sich ein Bier vom Faß, riß umständlich das Papier von einer Packung Marlboroughs und zog eine Zigarette heraus. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und hoffte, man möge ihrer Stimme ihre Unerfahrenheit nicht anmerken, »haben Sie vielleicht Feuer?«
Zuerst dachte sie, er hätte sie nicht gehört oder, schlimmer noch, würde sie ignorieren. Es folgte ein langes Schweigen, aber dann beugte er sich unvermittelt vor und fischte ein Streichholzbriefchen von Bennigans Bar aus einem Korb auf der Theke.
Sie spürte, wie ihr warm im Gesicht wurde. »Daß es mich nicht gebissen hat … «
Er brach ein Streichholz ab, zündete es an, schützte die Flamme mit der hohlen Hand und meinte: »Und, wollen Sie sie auch rauchen?« Ihr fiel auf, daß seine grauen Augen mit winzigen schwarzen Punkten gesprenkelt waren.
Sie steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und hielt sie an die Flamme; sie nahm einen Zug, hustete ein paarmal, nahm dann noch einen tiefen Zug, und die Flamme setzte ihre Zigarette in Brand. Sie riß sich die Zigarette aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus.
»Vergessen Sie's«, meinte sie.
Er warf das Streichholz weg, wandte sich wieder seinem Bier zu, und sie saß da und versuchte so zu tun, als wäre das Fiasko nicht passiert. Schließlich schaute er sie doch an.
»He, Sie rauchen doch eigentlich gar nicht, stimmt's?«
»Sagen Sie bloß nicht, das haben Sie eben erst bemerkt.« Er zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder ab. »Hören Sie, es tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich habe nur das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Sie wissen doch sicher, wie es ist, wenn man bemerkt, daß man sich zum Narren gemacht hat.« Sie lächelte und entblößte dabei einen Schneidezahn, an dem ein Stück fehlte. »Wer weiß, vielleicht wissen Sie es ja auch nicht.« Ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, sagte er: »Ich sehe es nicht gerne, wenn Frauen rauchen.«
Schweigen.
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben das alles nur auf sich genommen, um mich kennenzulernen?«
»Reicht es nicht schon, daß ich es getan habe, muß ich es Ihnen auch noch schriftlich geben?«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum wollten Sie mich kennenlernen?«
»Nun, mir ist aufgefallen, daß Sie immer nach elf Uhr hier hereinkommen. Dann sitzen Sie einfach so eine oder zwei Stunden herum und machen dabei einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck. Ich habe nie bemerkt, daß Sie mit jemandem gesprochen hätten.« Sie zögerte und lachte dann verlegen. »Ich weiß nicht, warum will man wohl jemanden kennenlernen?«
Er schien eine Weile über die Frage nachzudenken, als wäre sie von großer Bedeutung.
»Wie heißen Sie?« fragte er schließlich.
»Es ist ein ziemlich alberner Name … versprechen Sie mir, daß Sie mich nicht auslachen werden, wenn Sie ihn hören?«
Er nickte. Er hatte schmale Lippen, die nicht oft zu lächeln schienen.
»Daisey … so wie das Gänseblümchen, Daisey Bradley.« Er nickte ein paarmal und sagte dann: »Ich kannte einmal ein Mädchen namens Rose, und in der siebten Klasse saß ich neben einer Violet. Aber ich habe noch nie eine Daisey kennengelernt. Das ist ein hübscher Name, der ist schon in Ordnung.«
»Sie wollen doch nur höflich sein. Aber trotzdem, vielen Dank.«
Sie schwiegen ein paar Minuten. »Ich heiße Benny Shandling«, sagte er schließlich. »Wo haben Sie sich Ihren Schneidezahn abgebrochen?«
»Beim Rollschuhlaufen … als ich noch klein war. Sieht fürchterlich aus, stimmt's?«
»Nein. Ich war nur neugierig, das ist alles.«
»Aha.« Nach einer Pause fragte sie: »Sind Sie verheiratet, Benny?«
»Wenn ich es wäre, was würde ich dann hier treiben?«
»Wenn Sie sich ab und zu mal umhörten, dann kämen Sie vielleicht dahinter, daß die Hälfte der Männer, die in solchen Bars verkehren, verheiratet ist. Die andere Hälfte ist natürlich geschieden.«
»Ich interessiere mich nicht sehr für Dinge, die außerhalb meines Kreises passieren.«
»Aus welchen Menschen besteht denn Ihr Kreis, Benny?«
»Oh, das ist nicht so wörtlich zu nehmen. Ich versuche einfach nur, meine Nase nicht in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen. Natürlich passiert mir das manchmal ohne mein Zutun, aber dann kann ich nichts daran ändern.«
Sie nahm einen Schluck Bier und stellte dann das Glas auf die Theke.
»Ich gehe auch nicht sehr viel unter die Leute. Ab und zu gehen Liz, das ist meine Freundin und Arbeitskollegin, und ich nach der Arbeit zusammen weg. Ich arbeite als Verkäuferin in einem Antiquariat … nicht gerade ein sehr aufregender Job.«
Er nickte zustimmend.
»Hierher komme ich natürlich ziemlich regelmäßig. Das ist die einzige Bar, in die ich es wage, alleine zu gehen. In den meisten anderen Kneipen fühle ich mich unwohl. Hier fühle ich mich fast wie zu Hause.« Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht weil ich daran gewöhnt bin.«
»Als ich noch verheiratet war, da bin ich nicht oft in Bars gegangen. Ich halte eigentlich nicht viel davon. Wenn man verheiratet ist, dann sollte man meiner Meinung nach daheim bei seiner Familie sein. Aber wenn man allein ist, dann bleibt einem natürlich nicht viel anderes übrig, oder?«
»Wann wurden Sie denn geschieden?«
»Es ist jetzt mehr als drei Jahre her.« Ein paar Minuten lang herrschte verlegenes Schweigen, dann fragte Benny: »Wollen Sie ein Foto von meinem Jungen sehen?«
»Sicher – ich habe Kinder sehr gern.«
Benny holte eine abgewetzte Schweinslederbrieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans und schlug das Bild eines ungefähr dreijährigen Jungen auf: er hatte braunes Haar und dunkle Haut wie er selbst. Dann blätterte er zu einem anderen Foto weiter, das aber so unscharf war, daß sie kaum etwas darauf erkennen konnte.
»Was ist denn damit passiert?« fragte sie.
»Ich stand ziemlich weit weg. Das ist die beste Aufnahme, die ich machen konnte.«
»Warum haben Sie ihn nicht näher vor die Kamera gestellt?«
»Das hätte ich ja auch, aber Adam will mich nicht sehen. Ich habe das Foto heimlich aufgenommen, ohne daß er es bemerkt hat.«
Daisey musterte ein paar Augenblicke Bennys Gesicht und schaute dann wieder auf das erste Foto.
»Wie alt ist Adam jetzt?«
»Fünf. Es ist kaum zu glauben – er geht bereits in die Schule.«
»Er ist ein richtig hübsches Kind. Er sieht Ihnen ähnlich.«
»Ja, finden Sie?«
»Das finde ich nicht nur, das ist so.«
Er nickte und deutete dann auf das Handgelenk des Jungen. »Ich weiß nicht, ob Sie das auf dem Foto erkennen können, aber er hat ein Muttermal. Sehen Sie, es ist wie ein Hammer geformt.« Auf der Innenseite des linken Handgelenks deutete Benny stolz auf sein eigenes rotes, hammerförmiges Muttermal.
Als Daisey schließlich die Bar verließ, hatte sie einiges über Benny erfahren. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr arbeitete er als Krankenpfleger am Massachusetts General Hospital. Er hatte ein schäbiges Zimmer in einer Pension ohne Fahrstuhl im Norden der Stadt, um Geld für seinen Sohn auf die Seite legen zu können; obwohl seine Exfrau ihm immer die Schecks zurücksandte, die er ihr nach der Scheidung für das Kind geschickt hatte, ging er jeden Freitag auf die Shawmut-Bank und zahlte dort fünfundsiebzig Dollar, manchmal auch mehr, auf ein Konto ein, das auf Adams Namen lautete und ihn selbst als Treuhänder auswies.
»Eines Tages wird er eine Menge Geld haben«, erklärte Benny ihr. »Wer weiß, vielleicht macht er sogar sein eigenes Geschäft auf.«
Daisey hatte eine Menge geschiedener Männer in Bars kennengelernt, aber noch nie einen wie Benny. Etwas begriff sie nicht und wagte auch nicht, danach zu fragen – schließlich kannten sie einander kaum –, aber warum sollte sich ein Fünfjähriger weigern, seinen eigenen Vater zu sehen, besonders einen so netten wie Benny?
Benny hatte Daisey gefragt, ob sie sich am nächsten Abend um dieselbe Zeit und am selben Ort mit ihm treffen wolle. Und sie hatte bereitwillig zugestimmt. Normalerweise hatte er zwar Schwierigkeiten mit dem aufgesetzten und oft falschen Gehabe von Frauen, aber Daisey war da ganz anders. Sicher, sie hatte es mit einem Trick erreicht, daß sie sich kennengelernt hatten, aber was war daran so schlimm?
Daisey war bei weitem nicht die schönste Frau, die er jemals kennengelernt hatte: sie hatte dichtes, krauses, karottenrotes Haar, und Dutzende von Sommersprossen überzogen ihre blasse Haut. Und obwohl sie beinahe vierundzwanzig Jahre alt war – sechs Jahre jünger als er selbst –, so hatte sie immer noch den jungenhaften Körper einer Dreizehnjährigen. Aber das Aussehen spielte für Benny keine so große Rolle. Das Ausschlaggebende war der Charakter.
Wie es zum Beispiel bei seiner Exfrau Claire der Fall war: oberflächliche Schönheit, hinter der nichts steckte, aber er war nicht schlau genug gewesen, das zu durchschauen, bis es zu spät war. Und heute bei der Verhandlung – Sondra Chandler: Mit ihrem langen blonden Haar und ihrem üppigen Körper glich sie einer jener Göttinnen in einem Frauenmagazin. Doch Benny hatte die Art durchschaut, in der sie mit Greenspon gespielt hatte; und dann dieser durchtriebene Ausdruck von Genugtuung auf ihrem Gesicht, wenn er wieder zu ihren Gunsten entschieden hatte.
Der arme Frank, er hatte keine Chance. Und obwohl Franks Rechtsanwältin eine ziemlich geschickte Kämpferin zu sein schien, so konnte sie doch gegen die Verderbtheit, die heute im Gerichtssaal vorgeherrscht hatte, nicht ankommen. Benny hatte lange über den möglichen Ausgang des Chandler-Falles nachgedacht, seit er zum erstenmal begriffen hatte, wie verlogen das ganze System war. Und obwohl er sein Leben lang seine Nase nie in die Angelegenheiten anderer gesteckt und sich von allem Ärger ferngehalten hatte: Dies war einer jener Fälle, die – wie er es Daisey beschrieben hatte – ihn ohne sein eigenes Zutun etwas angingen.
Es war bereits neun Uhr, als Maggie Richie gebadet, zu Bett gebracht und ihm vorgelesen hatte. Dann ließ sie sich auf das Sofa sinken, zog das Telefon auf den Beistelltisch und wählte Pauls Nummer.
Eine Frau antwortete.
»Könnte ich bitte mit Paul sprechen. Sagen Sie ihm, es ist Maggie.«
»Einen Moment bitte«, flüsterte die Stimme.
Maggie wartete einige Augenblicke, dann ließ sich Pauls Stimme vernehmen. »Tut mir leid, daß du warten mußtest, aber ich war unter der Dusche. Ist mit Richie etwas nicht in Ordnung?«
»Nein, nein, ihm geht es gut. Ich habe ihm eben gute Nacht gesagt. Natürlich erst, nachdem ich ihm ausgiebig aus der Brownschen Enzyklopädie vorgelesen hatte. Er wird immer besser im Lösen der Rätsel.«
»Hör mal, das Mädchen am Telefon – sie ist eine der Sekretärinnen. Ich mußte dringend noch etwas aufarbeiten, und so –«
»Paul, wir leben jetzt getrennt, jeder hat sein eigenes Leben. Du mußt mir nichts erklären. Im Ernst.«
»Nun, ich wollte nicht, daß du glaubst –«
»Paul, bitte, versteh doch. Und wenn du dich entschließt, sämtliche Frauen aus deinem Büro ins Bett zu schleifen, dann geht das nur dich etwas an. Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.«
Paul kicherte. »Du hattest immer schon einen etwas verdrehten Sinn für Humor. Warum rufst du mich an?«
»Es ist wegen deiner Trinkerei.«
»Wozu dann das Gerede über persönliche Freiheit?«
»Das gilt nur insofern, als es Richie nicht betrifft. Aber wenn er deinen selbstmörderischen Neigungen ausgeliefert ist, dann geht mich das sehr wohl etwas an.«
»Ich hoffe, du setzt dir nicht irgendwelche dummen Gedanken in den Kopf – wie zum Beispiel zu versuchen, mir meine Umgangsregelung zu kürzen.«
Maggie seufzte. »Das will ich nicht. Und ganz bestimmt will Richie das auch nicht.«
»Was dann?«
»Wenn er dich in Zukunft besucht, dann werde ich es so einrichten, daß er nach der Schule bei dir vorbeigebracht wird. Am Abend werde ich dann nach der Arbeit kommen und ihn holen.«
»Maggie, Maggie – immer tüchtig und auf Draht.«
»Paul, entweder so oder gar nicht.«
»Wer wird ihn denn vorbeibringen, oder geht mich das auch nichts an?«
»Hast du schon mal was von Taxis gehört?«
»Ich nehme an, daß ich die Rechnungen zahlen soll, oder?«
»Das wäre nett. Aber falls du der Meinung bist, daß das deine Finanzen zu sehr belastet …«
»Erspar mir deinen Sarkasmus.«
»Schön. Paul, außerdem würde es mich sehr erleichtern, wenn du es dir abgewöhnen würdest, in Richies Gegenwart zu trinken. Wenn du schon trinken mußt, dann mach es allein.«
Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen, dann: »He, bist du jetzt fertig, oder willst du mit deiner Gardinenpredigt weitermachen?«
»Ich bin jetzt fertig. Warum gehst du nicht wieder zu deiner Sekretärin zurück?«
Sie legte den Hörer auf und wußte genau, daß ihre letzte Bemerkung überflüssig gewesen war. Sie war dumm und kindisch gewesen. Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück. O ja, auch sie hatte ab und zu das Recht …
Sie hatte erst eine Viertelstunde geschlafen, als das Telefon klingelte. Sie streckte sich und packte den Hörer
»Hallo«, meldete sie sich.
Eine tiefe Stimme. »Schläfst du?«
»Douglas, hallo. Nein, ich habe nicht richtig geschlafen, nur ein paar Minuten die Augen zugemacht. Einfach so.«
»Wie ist es heute im Gericht gelaufen?«
»Miserabel.«
»Wer hatte den Vorsitz?«
»Greenspon. Ich hätte mich nicht darauf verlassen sollen, daß Campbell bis dahin wieder zurück ist. Ich hätte die Verhandlung verschieben sollen.«
»War es nicht Greenspon gewesen, der einmal einem Anwalt, der zum Begräbnis seines Vaters mußte, eine Vertagung verweigert hat?«
Maggie kicherte. »Himmel, das ist doch einfach fürchterlich, das macht einen ja krank. Aber ich glaube, das war Richter Leeder.«
»Was hat Greenspon denn heute getan?«
»Besser wäre zu fragen, was er nicht getan hat. Er hat sich zu keiner meiner Zeugenbefragungen Notizen gemacht. Er hat es nicht zugelassen, daß ich die Jugendamtsvertreterin befragte. Und ihr Bericht ist tödlich für die Sache.«
»Klingt mir ganz danach, als müßtest du in die Berufung gehen.«
»Das ist nur kostspielig, dauert und bringt am Ende nichts. Ein Jahr vergeht, das Berufungsgericht mischt sich ein, gibt dem Richter des niedrigeren Gerichts was auf die Pfoten und setzt eine Wiederaufnahme an. In der Zwischenzeit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, das Kind ist älter geworden und kommt ganz gut zurecht. Und dann sollte man besser auch keine Unruhe mehr schaffen, indem man das Sorgerecht ändert.«
»Ach du meine Güte, so eine junge Frau und schon so pessimistisch.«
»Ich fühle mich nicht so jung.«
»Dann sollte ich vielleicht auf einen Sprung vorbeikommen und mal sehen, ob ich nicht ein Mittel dagegen finde. Ich könnte in, sagen wir mal, vierzig Minuten dasein. Mit einem Becher voll Eiscreme in fünfundvierzig Minuten.«
Es war bereits kurz vor Mitternacht, als sie endlich zu der Eiscreme kamen. Douglas Woods, einer von vier Stellvertretern der Staatsanwaltschaft des Bezirks von Suffolk, die von Eric McGivins geleitet wurde, verfügte über Qualitäten, die Paul vermissen ließ – Beständigkeit und Solidarität. In frühester Jugend bereits hatte Douglas die Verantwortung für eine kleinere Schwester und eine kranke Mutter übernommen, und später hatte er abends Jura studiert und tagsüber gearbeitet. Obwohl sie und Douglas sich bereits gekannt hatten, als Maggie ihr Examen an der juristischen Fakultät von Boston ablegte, hatte er erst nach ihrer Scheidung vor einem Jahr begonnen, ihr den Hof zu machen.
»Warum hast du so lange damit gewartet?« hatte sie ihn einmal nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht gefragt.
»Ich nahm an, ich könnte mit Paul nicht konkurrieren. Du kennst mich doch, ich bin langsam und brauche Zeit. Bis ich endlich den Mut aufgebracht hatte, etwas zu unternehmen, da war das Rennen bereits gelaufen und entschieden.«
Sie dachte einen Augenblick darüber nach. »So, wie es aussieht, hätte ich dich damals auch nicht zu schätzen gewußt.«
»Wieso das?«
»Die Qualitäten, die ich an dir schätze, deine Verläßlichkeit, Nachdenklichkeit, Nüchternheit – das sind einfach nicht die Eigenschaften, die ein junges Mädchen anziehen.«
»Wenn das ein Kompliment gewesen sein soll, warum habe ich dann das Gefühl, eben einen Schlag ins Gesicht bekommen zu haben?«
Jetzt saßen sie beide auf dem Bett – Maggie mit gekreuzten Beinen und Douglas mit dem breiten Rücken an das Kopfbrett gelehnt – und löffelten Eiscreme. Dunkle, durchdringende Augen, die von dichten Augenbrauen überschattet wurden, bildeten den anziehenden Mittelpunkt in Douglasʼ sonst eher unauffälligem Gesicht.
»Ich sehe dir doch an, daß du nachdenkst – worüber denn?« fragte sie.
Douglas zuckte mit den Achseln. »Über meine Arbeit. Die Presse macht einen ganz schönen Rummel um diese junge Mutter, die in Beacon Hill in ihrer Wohnung ermordet wurde. McGivins will, daß ich eine Ermittlungsgruppe zusammenstelle und deren Arbeit überwache.«
Maggie nickte. »Ich erinnere mich, darüber gelesen zu haben – sie wurde erwürgt. Wie war gleich noch mal der Name … Silvers?«
»Brenda Raycliff Silvers. Die Familie der Ermordeten, das sind die Raycliffs, denen das Kaufhaus gehört. Viel Geld und viel Einfluß. Die Ermittlung ist bereits fast einen Monat alt, und nichts tut sich – wir kommen nicht weiter.«
»Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, womit sie erwürgt wurde?«
»Der Polizeiarzt tippt auf ein dickes Nylonseil, vielleicht ein Strumpf. Er hat auch Spuren von Seconal, einem starken Beruhigungsmittel, in ihrem Blut gefunden. Soweit wir sagen können, war es ihr nicht verschrieben worden; aber die Leute kommen doch ziemlich einfach an Tabletten heran. Auf jeden Fall war die Todesursache eindeutig Ersticken.«
»Habe ich das richtig im Kopf – zum Zeitpunkt des Mordes war ein Kind in der Wohnung?«
»Richtig, ein kleines Mädchen, zwei Jahre alt. Das Kind wurde Gott sei Dank nicht angerührt. Allen Anzeichen nach zu schließen, hat es die ganze Zeit über geschlafen.«
»Was ist mit einem Motiv?«
»Wer weiß schon, was heutzutage ein Motiv ist? Es könnten lausige zwanzig Dollar für ein Fläschchen Crack sein. Aber in dem Fall hier wurde ihr Geld nicht angerührt. Eigentlich wurde gar nichts angerührt. Kein gewaltsames Eindringen … offensichtlich muß es jemand gewesen sein, den sie kannte oder zumindest wiedererkannt hat.«
»Wo war der Ehemann zu der Zeit?«
»Der Exmann, und genau der war unser Tatverdächtiger, zumindest bis gestern, als er uns sein Alibi bestätigen konnte. Es sieht so aus, als sei er übers Wochenende in Maine auf der Entenjagd gewesen. Ist dort oben keiner Menschenseele begegnet – das heißt, bis er sich an einem Metallstück die Hand aufgerissen hat und zu einem Arzt gegangen ist, um sich verbinden zu lassen. Es hat sich herausgestellt, daß der Arzt in Europa auf Urlaub war und erst gestern wieder erreicht werden konnte.«
»Ich würde sagen, das war ein Glückstreffer für Silvers.«
»So könnte man es sehen. Aber unser Hauptverdächtiger scheidet so aus.«
»Wieso Hauptverdächtiger, was habt ihr gegen ihn in der Hand?«
»Ein Motiv, und ein verdammt gutes noch dazu.«
»Welches denn?«
»Nun, er und seine Exfrau stritten sich wie die Weltmeister. Sie lebten seit fast einem Jahr nicht mehr zusammen, aber den Nachbarn zufolge war es nicht ungewöhnlich, daß er sich in der Gegend herumgetrieben, an die Türen gehämmert und gebrüllt hat, er wolle in die Wohnung und das Kind sehen. Vor gar nicht langer Zeit haben sie sich vor Gericht um das Sorgerecht gestritten. Hier am Vormundschaftsgericht in Suffolk, vor Richter Cagney. Als das Urteil gefällt und dem Vater das Umgangsrecht verweigert wurde, da hat er ein paar häßliche Drohungen ausgestoßen.«
»Meinst du nicht, daß du da etwas übertreibst, was ein mögliches Motiv anbelangt? Tausende von Männern machen diese Art von demütigendem Streit durch, und ich behaupte ja nicht, daß er nicht wirklich schrecklich ist. Vielleicht gehen sie in ihrer Wut sogar so weit, ein paar häßliche Dinge anzudrohen. Aber wenn ein Vater sein Kind liebt, welchen Vorteil kann er sich von der Ermordung der Mutter des Kindes dann schon erhoffen?«
»Falls er sauber aus dieser Sache herauskommt – was bei Silvers selbstverständlich der Fall sein wird –, dann wäre das Sorgerecht über das Kind der große Preis, würde ich meinen.«