Читать книгу Platon und die Grundfragen der Philosophie - Günter Fröhlich - Страница 7

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1. Platons dialogisches Philosophieren

Alle philosophischen Fragen, die wir kennen, lassen sich im Kernbestand auf Platon zurückführen (vgl. Wieland 1996, 5). Der Reichtum seines Denkens (vgl. Whitehead 1995, 92) ist schier unerschöpflich. Das liegt nicht zuletzt an seiner Methode, seine Leser in Gespräche zu verwickeln, statt uns nur die Ergebnisse seines Nachdenkens und die möglichen Gründe dafür zu präsentieren. Eine wesentliche Rolle in seinen Schriften spielt sein Lehrer Sokrates, den er als Zeugen für das lebenslange Suchen schildert, die Grundlagen eines gelingenden Lebens aufzuspüren. Diese Suche nach dem wahren Wissen setzt er entweder zum Anspruch in Kontrast, ein Wissen zu haben, das sich schnell als vermeintliches Wissen entpuppt, oder gegen die Ansicht, es könne für den Menschen überhaupt keine Erkenntnis geben.

1.1 Platon schreibt „Gespräche“

Platon spricht zu uns als Autor seiner Werke. Nun wendet er sich allerdings nie direkt an seine Leser. Er selbst kommt in seinen Gesprächen (Dialoge) nicht einmal vor und tritt als Gesprächspartner niemals auf. Nach einer Bemerkung von Walter Bröcker spricht Platon dennoch zu uns, noch mehr: Er möchte ein Gespräch mit uns, seinen Lesern, führen (vgl. Bröcker 1999, 9). Warum versteckt er sich aber dann hinter seinen Texten? Wie soll ein Gespräch zustande kommen, wenn uns der unmittelbare Gesprächspartner fehlt?

Die Weise, in der Platon mit uns spricht, ist also dezidiert eine indirekte. Wir können darauf vertrauen, dass Platon die volle Verantwortung für seine Texte übernommen hat, denn seine Schriften sind aufs Äußerste durchkomponiert und seine Sprache gehört zum Gewähltesten und Außergewöhnlichsten, das wir in griechischer Diktion haben – sie sind im besten Sinn des Worts „Weltliteratur“. Die Verantwortung allerdings dafür, mit ihm ins Gespräch zu kommen, hat er uns, seinen Lesern, überlassen!

Wie ein Leser einen Text versteht, hängt in entscheidender Weise von ihm selbst ab. Doch im Normalfall gehen wir davon aus, dass ein Autor uns in seinem Text etwas Bestimmtes vermitteln will. Wenn wir die Intention eines Autors missverstehen, hat er sich entweder schlecht ausgedrückt, oder uns fehlen Informationen, die uns erlauben, den Text richtig aufzufassen – dabei kann es sich um Themen handeln, welche nur die allerwenigsten Menschen verstehen, weil die Materien so schwierig sind; denken wir z. B. an die mathematischen Formulierungen der modernen Quantenmechanik. Bei Platon allerdings geht es um die Probleme, welche den Menschen als Menschen betreffen. Das erklärt schon zum Teil seine andauernde Aktualität.

Platon ist sich aller Schwierigkeiten, die beim Lesen von Texten auftreten können, offensichtlich voll bewusst. Dabei vermeidet er in seinen fingierten Gesprächen, die Dialogpartner unmittelbar darüber reden zu lassen, was er uns tatsächlich sagen will. Und dennoch ist er offenbar der Meinung, dass im Prinzip jeder Leser in der Lage ist, das, was er sagen will, auch richtig zu verstehen. Er hält die Gegenstände, über die er schreibt, im Wesentlichen nämlich nicht für dunkel, für verworren oder für besonders schwierig. Er weiß aber darum, dass kleine Änderungen von der Wahrheit, wie er sie versteht, zu gewichtigen Falsch- und Fehldeutungen führen können. Er kennt die Gefahren des Missverstehens. Falsche Meinungen über einen Text und die Intentionen seines Autors haben zumeist die Folge, dass die Missverständnisse dem Autor zugeschrieben und angelastet werden. Diese Gefahr möchte Platon gerade meiden. Zuletzt geht es ihm dabei allerdings gar nicht um sich und seine Texte, sondern um die Gegenstände, die er behandelt: denn die sind seiner Ansicht nach entscheidend. Die Lebendigkeit, mit der Platon seine Gespräche schildert, führt uns sein Philosophieren sozusagen im Vollzug vor Augen (vgl. Bordt 2004, 46–51).

Es ist darauf hingewiesen worden, dass Platon unterschiedliche Gruppen von Lesern vor Augen hat (vgl. Erler 2006, 112). In diesem Sinne variiert er je nach Gesprächspartner und dessen Rolle seine Themen sowie die Art ihrer Behandlung und die Lösungen (vgl. Frede 2006, 47, 49, 55–58): Zunächst soll jeder Leser von falschen Meinungen befreit werden. Das ist sozusagen ein negatives Ziel, das man aber auch mit „Befreiung von Unwissen“ betiteln kann (ebd. 68). Darüber hinaus soll der Leser angeregt werden, selbst über die aufgeworfenen Fragen nachzudenken. Leser, welche schon fortgeschritten sind und die diskutierten Probleme einordnen können, finden darüber hinaus zahlreiche Hinweise, an welcher Stelle man besonders aufpassen muss (z. B. wenn Sokrates behauptet, „einen kleinen Punkt“ nicht verstanden zu haben), die Platon im Text versteckt (vgl. ebd. 67). Der versierte Leser ist auch in der Lage, die Hinweise aufzufinden und zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu machen. Platon selbst expliziert das z. B. mit der Aussage des Alkibiades im Symposion: Zunächst erscheint die Redeweise von Sokrates lächerlich und langweilig. Sobald man aber dahinter steigt, erkennt man, wie vernünftig und „ganz göttlich“ sie sind (Symposion 221e).1

1.2 Nachdenken über die rechte Lebensführung

Das Ziel all unseres Nachdenkens – egal um welchen Gegenstand es sich dabei handelt – liegt für Platon darin, ein rechtes Leben zu führen (vgl. Wolf 1999, 32–36). Es ist offensichtlich, dass wir das auf verschiedene Weisen tun und auch tun können. Dieser Umstand ist Platon auf der einen Seite so wichtig, dass er schon die Bedeutung der Frage, wie wir richtig leben sollen, durch die Art des Umgangs mit ihr schützen möchte. Er ist sich bewusst, dass wir unser Leben selbst führen und verantworten müssen, also will er uns keine eindeutigen Anweisungen dafür geben. Er ist aber wohl überzeugt davon, eine Methode gefunden zu haben, die uns bei der Beantwortung der Frage unterstützen kann. Diese Grundfrage weitet Platon aus auf alle möglichen Themenbereiche, von der Naturphilosophie zur Metaphysik und Ontologie, von der Erkenntnis bis zur Religion, von der Psychologie über die Rhetorik zur Kunst und seiner Frage nach dem Schönen.

Die wichtigste Einsicht besteht zunächst einmal darin, dass sich die Frage nach dem rechten Leben nicht von selbst beantwortet. Aber das allein würde nicht rechtfertigen, warum Platon seine Ansichten immer nur indirekt vermittelt. Dass das Leben nicht einfach ist und dass wir uns ständig fragen müssen, was gerade am besten zu tun ist, wird den meisten Menschen bewusst sein. Die größere Gefahr besteht für Platon dagegen in den schnellen Antworten, in den einfachen Sätzen, und in ihrem unverstandenen Reproduzieren.

Wir dürfen also nicht nur die richtigen Sätze glauben und hersagen können, sondern wir müssen wirklich verstehen, was mit diesen gemeint ist. Das gelingt uns niemals dadurch, dass uns jemand sagt, was richtig ist und was falsch, sondern ausschließlich dadurch, dass wir selbst darauf kommen, durch eigenes Nachdenken und Verstehen.

Diese Arbeit kann und will uns Platon nicht abnehmen. Seine Anleitung zum Denken, die ihn zum Vater der Philosophie hat werden lassen, ist so geartet, dass ein Leser mit ihm erst ins Gespräch kommen muss, für das er allerdings selbst ganz und gar verantwortlich ist. Platon hat seine Texte so gestaltet, dass er sich einer eindeutigen Beantwortung unserer Fragen fortwährend entzieht. Zumeist gibt er uns mehrere Antworten an die Hand. Wir können also bis heute über diese Fragen diskutieren – ein erster Grund für die fortwährende Aktualität seiner Texte. Zugegebenermaßen will er uns manchmal auch an der Nase führen, damit wir endlich selber nachdenken. Die generelle Interpretationsoffenheit seiner Texte ist ein weiterer Grund für seine bleibende Aktualität – was dazu führt, wie Michael Erler betont, dass „jede Zeit … ‚ihren‘ Platon“ (Erler 2006, 209; vgl. auch Frede 1999, 177) hat. Ein dritter Grund besteht schließlich in der Lebendigkeit seiner Texte: Durch die Form des Dialogs und durch die Gestaltung und den Aufbau seines Argumentierens haben wir Leser tatsächlich den Eindruck, unmittelbare Zeugen eines wirklichen Gesprächs zu sein.

Für Platon ist dies alles kein Selbstzweck, um seine überlegene Einsicht zu demonstrieren. Seine Leser und ihre Art zu leben, sind ihm ein wirkliches und sehr wichtiges Anliegen. Nur das rechte Verstehen, das von der Einsicht in die generellen Grenzen des menschlichen Wissens wie um die persönlichen Beschränkungen des Einzelnen begleitet wird, garantiert die bewusste und selbst bestimmte Lebensweise. Nur diese führt uns nach Platons Ansicht zur Harmonie unserer seelischen und geistigen Kräfte. Einzig diesen Zustand können wir Menschen zu Recht als Glückseligkeit bezeichnen.

1.3 Die Person des Sokrates

Die zentrale Figur in Platons Dialogen ist Sokrates. Wenn man sich als Jugendlicher im damaligen Athen nur ein wenig auf den Straßen und Plätzen aufhielt, war es am Ende des fünften Jahrhunderts wohl nicht möglich, Sokrates nicht zu begegnen. Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit und es muss für die Jungen ein Spaß gewesen sein, ihm zuzuhören, wenn er in seinen Gesprächen den Hochmut der Älteren vorführte (vgl. Apologie 23c). Platon gehörte wohl zu einem Kreis solcher jungen Heranwachsenden aus den besten und reichsten Familien Athens, die des Öfteren Zeugen solcher Zwiesprachen waren.

Um jemanden vorzuführen, indem man ihm beweist, dass er den letzten Grund seines Wissens nicht angeben kann, braucht man eine gewisse Geschicklichkeit. Wenn man dann aber selber keine Antworten auf die Fragen hat, mit denen man den anderen konfrontierte, wirkt das hilflos und vielleicht ein wenig lächerlich.

Platon hat in der Art und Weise, wie Sokrates argumentiert und reflektiert hat, dennoch mehr gesehen.2 Das Neue an der sokratischen Denkweise sieht er im Stellen von Fragen, ohne sich mit schnellen, tiefsinnigen oder auch gut überlegten Antworten zufrieden zu geben. Philosophische Fragen sind ewige Fragen, weil sie die Zerrissenheit und die Ambivalenz des Menschen, die unüberwindlich sind, in ihr Zentrum stellen.

Das Eingeständnis, selbst nicht recht weiter zu wissen, verbunden mit der unbedingten Suche nach dem besten Sinn der Frage und der überzeugendsten Antwort, hat Sokrates mit seinem „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ vollzogen. Dieses sokratische Nicht-Wissen ist aber keine blanke und zynische Dummheit, sondern die entscheidende Einsicht, dass all unser Wissen auf Voraussetzungen beruht, die wir letztendlich niemals einholen können (vgl. Mojsisch 1996, 169). Diese Einsicht aber wird zynisch und fatal, wenn sie sich nicht mit der Einsicht in die Notwendigkeit paart, nach der wir keine andere Wahl haben, als unser Wissen und unsere Lebensführung zu überprüfen, um alles danach einzurichten, was uns am ehesten richtig erscheint.

Diese sokratische Denkweise und seine Methode führten zu einem neuen Begriff der Philosophie, den uns Platon in seinen Dialogen ausdeutet: Darunter wird nicht die Weisheit positiv gesicherter Erkenntnisse verstanden, sondern das Streben und die Suche nach dem besten Sinn (logos) unseres Lebens. Wir können mit Platons Sokrates auch sagen: Die Philosophie besteht in der Liebe zur Weisheit.3

Dieser Kern der Philosophie Platons, den wir aus seinen Texten herausschälen können, hat ihm eine ungeheure Freiheit in den Möglichkeiten der literarischen Darstellung beschert. Die logische, die argumentative, die reflexive Struktur findet sich bei Platon immer nur als Form des logos.4 Entscheidend aber sind die Inhalte – und die, so können wir Platon verstehen, können wir von überallher nehmen, aus den tradierten Mythen oder aus selbst erfundenen, aus Gehörtem, aus Gelesenem, daraus, was die Leute meinen, oder von den Weisen, von Homer oder von anderen berühmten Dichtern. Platon legt den Menschen seiner Zeit, dem Sokrates, seinen Brüdern, Politikern, Sophisten, Rhetoren, Militärs, Sklaven, Jungen, Alten alles Mögliche in den Mund. Es geht ihm aber nicht darum, was jene wirklich gesagt oder gedacht haben, sondern um den Sinn der Fragen und der angebotenen Lösungen (also darum, was da überhaupt gefragt wird), ihre Überprüfung, dem Verwerfen und dem Geltenlassen (vgl. Wieland 1996, 16 f.). Viel lässt Platon zugegebenermaßen oftmals nicht stehen, im Theaitet wird ein sehr sinnvolles Ergebnis, kurz nachdem es gewonnen wurde, wieder mutwillig zerstört. Aber Platon will auf keinen Fall, dass ein Leser aus seinen Texten eindeutige Ergebnisse herauszieht und sich auf deren Wiederholung beschränkt, ohne dass er den Sinn eines solchen Ergebnisses wirklich verstanden hat. Verstanden hat er ihn, wenn er die Gedanken selbständig hervorgebracht hat und hervorbringen kann, in keinem Fall aber durch bloßes Nachreden.

1.4 Platons Leben und Werk

Über Platon selbst und sein Leben wissen wir nicht sehr viel Gesichertes. Er lebte in Athen im fünften und vierten Jahrhundert v.Chr., wohl etwa von 427 bis 347 v.Chr., entstammte dem athenischen Hochadel – Sokrates war der Sohn eines Handwerkers – und seine Lebensbestimmung war es sicher, in die Politik zu gehen. Von dieser war Platon tief enttäuscht, was nicht zuletzt an den damaligen politischen Verhältnissen lag. Athen stand in einem fast dreißig Jahre dauernden Krieg mit Sparta, durch dessen Verlauf und der Niederlage es seine politische Vormachtstellung in Griechenland, welche die fünfzig Jahre davor bestand, einbüßte. Eine große Zahl der Bürger war in einem halsbrecherischen Unternehmen in Sizilien, das die Athener erobern wollten, gefallen, die Pest und der lange Kriegsverlauf hatte die Bevölkerung weiter dezimiert.

Die Schuld daran gab man der athenischen Verfassung – einer Demokratie mit fast schon extrem anmutenden plebiszitären Elementen, und den populistischen Agitatoren, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn hatten. Die Folgen des Krieges führten in Athen zum blanken Terror, an der Spitze des Staats wie auf den Straßen. Persönlich war für Platon weiter einschneidend, dass man den „trefflichsten, und auch sonst vernünftigsten und gerechtesten Mann“ (Phaidon 118a), Sokrates nämlich, hingerichtet hatte. Die Legende besagt, dass sich Platon zuvor mit dem Verfassen von Komödien und Tragödien beschäftigt hatte, daraufhin aber all diese Texte verbrannte, und anschließend nur noch philosophische Dialoge schrieb.

Platon hatte wohl schon länger Verbindungen zu den Pythagoreern in Süditalien und damit auch zum Herrscherhaus in Syrakus. Dionysius holte für eine Staatsreform eine ganze Reihe renommierter Theoretiker aus dem ganzen Mittelmeerraum nach Sizilien. Platon allerdings bekam Schwierigkeiten mit ihm und wurde daraufhin in die Sklaverei verkauft, woraus er von seiner Familie wieder freigekauft werden musste. Im Alter von etwa 40 Jahren gründete er im Hain des Akademos eine Schule, die „Akademie“ genannt wurde. Der Schulbetrieb wurde zwar nicht tausend Jahre immer am selben Ort aufrecht erhalten, dennoch ließ erst der römische Kaiser Justinian per Edikt von 529 den Lehrbetrieb endgültig einstellen. Platon reiste zwanzig Jahre nach seinem ersten Scheitern ein zweites Mal nach Syrakus. Er hatte sich nämlich während des ersten Besuchs mit Dion, dem jüngeren Schwager von Dionysius, angefreundet. Aber auch dieser Versuch, auf die politischen Verhältnisse einzuwirken, scheiterte ebenso wie ein dritter einige Jahre später.

Von Platon ist alles, was er veröffentlicht hat, erhalten. Es gibt in der antiken Literatur keinen Hinweis auf eine Stelle, die wir nicht kennen. Allerdings stammen nicht alle der 43 Werke, die unter seinem Namen überliefert sind, auch aus seiner Feder. Bei einigen wird immer noch über deren Echtheit diskutiert. Von denen, die als „unecht“ eingestuft werden, stammen die meisten jedoch aus seinem Umfeld oder dem der Akademie. Die genaue Datierung der Texte ist ein ungelöstes philologisches Problem. Wir unterscheiden aber zwischen frühen, mittleren und späten Dialogen. Weil uns Platon keine Abhandlungen liefert, aus denen wir ersehen könnten, welche Gedanken auf welchen aufbauen, wird eine genaue Reihenfolge auch niemals mit Sicherheit erstellt werden können. Seine wichtigsten Werke sind wohl Gorgias, die Politeia, der Phaidon, der Theaität, der Phaidros, das Symposion und der Timaios.

1.5 Die Dialogform

Die Dialogform ist eine eigene literarisch-philosophische Gattung, die von mehreren Schülern des Sokrates verwendet wurde, auch in der zweiten Generation z. B. von Aristoteles. Bis auf das Werk Platons ist aber fast alles verloren gegangen. Die Kunstfertigkeit, mit der er seine sokratischen Gespräche niederschrieb, scheint so dominant gewesen zu sein, dass man sich nicht die Mühe machte, die anderen Autoren abzuschreiben und damit zu tradieren.

Platon schreibt Gespräche nieder. Die Ausnahme bilden die drei Monologe der sokratischen Verteidigung. Es ist freilich klar, dass die Gespräche niemals so stattgefunden haben. Der Dialog ist eine bewusst gewählte Kunstform. Die philosophischen Inhalte, einschließlich der Meinung des Autors, werden nicht direkt abgehandelt, sondern in einem wechselseitigen Gespräch versteckt, in dem zumeist Sokrates die Hauptrolle spielt. Einige von ihnen werden auch erzählt: etwa direkt von Sokrates, wie die Politeia, oder manchmal in eine Art Rahmenhandlung eingebettet, wie z. B. der Protagoras.5 Der Parmenides wird von Kephalos erzählt, der sich von Antiphon berichten ließ, weil der wiederum jemanden kannte, der bei dem Gespräch dabei gewesen war. Das Gespräch selbst fand vor langer Zeit statt, und Antiphon, nachdem es ihm erzählt wurde, beschäftigte sich seitdem ausschließlich mit der Pferdezucht. Er weigert sich zuerst auch, davon zu berichten, weil die Gegenstände des Gesprächs zu schwierig sind. Diese mehrfachen Brüche in der Überlieferung sind von Platon so konstruiert, dass das Gespräch und seine Inhalte somit zweifelsohne unter Vorbehalt stehen. Dagegen will Platon die besondere Authentizität des Theaitetos dadurch untermauern, dass er seinen Erzähler nicht nur in unmittelbarer Rede und Gegenrede einen schriftlichen Text zum Gespräch vorlesen lässt, sondern vorgibt, der Berichterstatter Eukleides hätte sich bei Sokrates persönlich über den Argumentationsverlauf mehrmals rückversichert.6

Nun könnte man sich Gespräche denken, welche nach und nach unter den Beteiligten eine Übereinkunft und damit eine Lösung des besprochenen Problems erzielen. Solche Gespräche gibt es jedoch bei Platon nicht. Der lebendige Eindruck der Dialoge entsteht dadurch, dass sich die Fragen und Teilantworten, die immer wieder hinterfragt werden, abwechseln, und an deren Ende kein einfaches Ergebnis präsentiert wird. Oft sagt Sokrates dann, dass man im Verständnis nicht recht weitergekommen sei und sich die Frage noch einmal ganz von vorne vornehmen sollte. Das pädagogische Programm Platons besteht offenbar darin, dass der Leser weiter über die Fragen nachdenken und diese mit anderen diskutieren soll.

1.6 Die Wahrheitssuche

Wir werden noch deutlich sehen, wie grundsätzlich Platon darauf verzichtet, Wissen als einfach Gegebenes und unmittelbar Verständliches, als Information würden wir heute sagen, aufzufassen (vgl. Martens 2006, 68). Was gewusst wird, ist abhängig von dem, der die Erkenntnis hat, in der Vermittlung aber noch viel mehr von demjenigen, dem diese mitgeteilt werden soll. Im Protagoras findet sich ein schöner Vergleich hierzu: Wenn wir auf den Markt gehen und Waren einkaufen, können wir diese in Gefäßen nach Hause tragen und dort von Sachkundigen überprüfen lassen. Kenntnisse aber nehmen wir unmittelbar in unserer Seele auf. Sie verknüpfen sich dort mit dem, was wir schon wissen. Ob das genießbar ist, können wir unabhängig von uns nicht überprüfen lassen. Den Nutzen oder Schaden, der die Aufnahme der Kenntnisse mit sich bringt, haben wir dann schon weg. Es hängt damit von unserem Vorwissen ab, wie wir die neuen Kenntnisse auffassen und was wir mit diesen anfangen können, damit wir beurteilen können, ob diese uns nutzen oder schaden.

Da die Philosophie mündlich mit Sokrates, schriftlich mit Platon für uns beginnt, gehört es zu ihren Grundstatuten, Fragen zu stellen; die Antworten aber, wo sie möglich sind und gegeben werden, stehen immer unter dem Vorbehalt weiteren Nachdenkens. Das ist manchmal bitter und trägt sicher nicht zuletzt dazu bei, dass die Philosophie als unpraktisch gilt. Im Leben müssen wir handeln, auch wenn unsere Handlungen, philosophisch betrachtet, auf unsicherem Boden stehen. Das liegt daran, dass wir die Zukunft nicht kennen, dass wir unser Wissen nicht bis zu einem evidenten Grund ausweisen können, und dass wir die Grundlagen der philosophischen Reflexion, über diese Unsicherheiten nachzudenken, uns auch erst erarbeiten müssen. Das Nachdenken kann abgebrochen werden, es kann sich aber nie erschöpfen.

Unverzichtbar ist es nach Ansicht Platons, die richtigen Fragen zu stellen. Aus seinen Texten ergeben sich so einerseits Grundfragen über den Menschen, sein Leben, sein Denken und sein Handeln, die sich immer wieder neu stellen werden und damit neue Antworten provozieren. Außerdem hat diese Art des Fragens – wenn es sich ohnehin nicht vermeiden lässt – ein schier unglaubliches Innovationspotential. Philosophieren, das wir hier als das Stellen der wichtigen, wenn auch unlösbaren Fragen auffassen, hält einen unerschöpflichen Vorrat an Antworten bereit, die sich relativ zu demjenigen, der fragt, relativ zu demjenigen, der die Antwort will, und relativ zu den unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen immer wieder neu geben lassen. Das ist der Grund für das Interesse und die Hochschätzung der Philosophie allen pragmatistischen Gesinnungen zum Trotz, nach denen manche meinen, nicht das Denken oder Reden, sondern allein das Tun sei hoch einzuschätzen. Zugegebenermaßen ist es manchmal schwierig und mühsam, allein dem eigenen Denken zu folgen.

Die Dialoge Platons simulieren Lehrgespräche, die letztlich davon ausgehen, dass Erkenntnis grundsätzlich nicht vermittelbar ist, sondern vom einzelnen selbst nachempfunden werden muss. Der Lehrer kann im Grunde nur Hilfestellung leisten. Bei Platon werden die Unterredungen meist von Sokrates geführt. Er gibt dem Gespräch die Richtung und deckt das Feld möglicher Betrachtungen über den Gegenstand ab. Daher kann man bestreiten, dass die Dialoge Platons echte Gespräche sind. Gewiss ist, dass sie konstruiert sind. Sokrates greift allerdings nur an den Stellen wirklich ein, an denen ihm sein Gegenüber nur eine schnelle und einseitige Antwort gibt. Dann ruft er dazu auf, die Sache genauer zu betrachten. Denn wenn die Ausgangslage schon schwammig ist, wird man in der Frage kaum weiterkommen.

Die Gesprächspartner haben dennoch meist die Aufgabe, den Feststellungen von Sokrates zuzustimmen. Sie tun das allerdings durchaus differenziert. Diese Differenzierung wird von Platon immer bewusst gewählt. Vom einfachen „Ja“ oder „So ist es“, über das „Es scheint so, jedenfalls nach dem bisher Gesagten“ bis zum „Vielleicht“ oder einem „Wenn du denn meinst“ reicht hier die Spanne. Was als Unausgewogenheit erscheint, weil Sokrates immer gar so sehr den Ton angibt, erleichtert dem Leser wesentlich die Identifizierung mit dem Gesprächsverlauf und mit dem Gesprächspartner des Sokrates, denn, wenn wir einen Text lesen, können wir unsere Kommentare zum Gesagten auch nicht einfach in das Gespräch einbringen. Platons Hauptinteresse besteht allerdings darin, dass er sein Gegenüber, Gesprächspartner wie Leser von Irrtümern und Vorurteilen befreien will.

Platon erzählt also keine bloßen Geschichten nur zur Unterhaltung und er will keine philosophischen Lehrmeinungen vorstellen. Es geht ihm allein um die Sache, mit der er sich direkt an den Leser wendet und den er motivieren will, weiter über die aufgeworfenen Fragen nachzudenken. Selbst gute Argumente unterzieht er gerne einer Kritik, und Sokrates führt vieles von dem, was er vorbringt, auf die Ansicht von anderen zurück. Er will offenbar nicht selbst für diese einstehen. Überhaupt nimmt er die Haltung an, sich konsequent als einen darzustellen, der die Wahrheit nicht weiß, sondern diese nur sucht. Das „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ scheint historisch tatsächlich vom lebenden Sokrates zu stammen. Der Leser erhält dadurch die Gelegenheit, sich nicht nur mit den Antwortenden zu identifizieren, sondern auch mit Sokrates: Das Durchnehmen der Sache entlang der Argumentation des Wahrheitssuchers Sokrates ist wichtiger als ein eindeutiges und gesichertes Ergebnis.7

Eine Frage liegt bei Platon allen anderen zugrunde. Sie lautet: „Wie soll ich leben?“8 Ihr ordnet sich auch jedes theoretische Wissen unter. Umgekehrt wird das moralische Verhalten bei Platon intellektualisiert: Bei der Tugend muss es sich um eine Form des Wissens handeln, welche analog zu anderen Wissensarten zu untersuchen ist (vgl. van Ackeren 2003, 1 ff., 339 f.). Eine Differenzierung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie, zwischen Ethik und Erkenntnis, gibt es bei Platon ohnehin nicht. Das finden wir erst bei Aristoteles. Von daher und im Durchgang seiner Dialoge lassen sich wohl vier Grundeinsichten für Platon nachweisen, die fast sicher auch von Sokrates vertreten wurden:

–Wissen und richtige Meinung müssen unterschieden werden.

–Die Tugend stellt ein besonderes Wissen dar.

–Unrecht entsteht immer aus Unkenntnis, niemand tut also freiwillig etwas Unrechtes (vgl. von Apologie 25e bis Timaios 86de).9

–Der Gerechte ist glücklich (vgl. Erler 2006, 46).

Aristoteles hebt für die philosophische Methode hervor, dass Sokrates angefangen habe, induktiv zu argumentieren und nach Definitionen gesucht zu haben, die etwas Allgemeines ausdrücken (vgl. Metaphysik 1,6 987b, 13,4 1078b).10

Über Sokrates selbst wissen wir wenig. Der platonische Sokrates ist eine Kunstfigur.11 Platon stellt ihn als den vollendeten Philosophen dar. Wenn Sokrates an irgendeiner Stelle ausführt, wie ein Philosoph reden, denken und handeln soll, dann führt er es selbst exemplarisch vor. Sicher hat Platon die Art und den Charakter des Sokrates vor allem in den frühen Dialogen nicht vollkommen entstellt, die Idealisierung in der Zeichnung der Figur ist trotzdem unübersehbar. Trotz seines behaupteten Nichtwissens stellt Sokrates in jeder Hinsicht die alles überlegene Instanz dar: Er ist am gebildetsten und am aufrichtigsten, er weiß, in welche Richtung die Argumentation und das Gespräch gehen müssen, entdeckt Widersprüche und fehlerhafte Annahmen bei seinen Gesprächspartnern oder auch bei sich selbst, hat das beste, genaueste und detaillierteste Gedächtnis (obwohl er dauernd betont, dass er sich nichts merken oder dass er sich nicht erinnern könnte), er richtet sich nach seinem Gesprächspartner und dessen geistigen Hintergrund, er beruft sich nicht auf überlegene Autoritäten und er hat immer die untersuchte Sache im Blick.

Diese unbedingte Verpflichtung auf die Wahrheit der Sache ist schwierig durchzuführen, anstrengend und zuletzt gefährlich. Unsere Interessen vertragen sich nämlich nicht mit der Wahrheit. Sokrates ist einigen seiner Mitbürger so lästig geworden, dass diese ihn anklagten, er verderbe die Jugend und führe neue Götter ein, und vor Gericht brachten. Bei einem Asebieprozess wegen Gottlosigkeit oder Frevel gegen die Götter drohte von Anfang an die Todesstrafe, die von den fünfhundert Geschworenenrichtern dann auch verhängt wurde. Wenn man der Apologie folgt, hat Sokrates die Richter allerdings sehr provoziert. Üblich war es vor Gericht zu jammern und um Gnade zu bitten. Sokrates dagegen hat gesagt, er werde sich weiterhin auf Wahrheitssuche begeben, und wenn er in der Vergangenheit lästig gewesen sei, so werde er das in Zukunft auch bleiben.

Dennoch ist die Hinrichtung des Sokrates – er musste sich selbst mit Schierling töten, einem Nervengift, das die Atmung lähmt – ein Mahnmal. Aristoteles soll aus Athen geflohen sein, damit die Athener sich nicht zum zweiten Mal an der Philosophie vergehen können. Für Platon heißt das aber generell, dass das Philosophieren gefährlich ist. Im Höhlengleichnis beschreibt er, wie der wissende Philosoph in die Höhle zurückkehren muss, um die in ihrer Unwissenheit Gefangenen von der Wahrheit zu überzeugen. Die aber haben sich in ihrer Weltsicht eingerichtet. Zunächst lachen sie, dann versichern sie sich untereinander, dass es nicht lohnt, aus der Höhle zu schauen. Wenn man aber versucht, sie loszubinden und zu zwingen hinaufzusteigen, werden sie ihrerseits versuchen, einen umzubringen (vgl. Politeia 517a).

Diese Wahrheitssuche hat sich Sokrates zur Lebensaufgabe gemacht (vgl. Rehn 1996, 83).12 Er verbrachte die Tage auf den Marktplätzen und den Sportstätten und fragte die Leute darüber aus, was sie wüssten – übrigens sehr zum Ärger seiner Frau Xanthippe, was verständlich ist, denn die Familie lebte nicht in den besten Umständen; dass der Name der Armen zum Sinnbild für das zänkische Weib wurde, ist deswegen nicht gerecht.

1.7 Platon und die Sophisten

Einige, Politiker, Dichter, Handwerker und Sophisten, bildeten sich viel auf ihre Kenntnisse in allen Bereichen der Wissenschaften und des öffentlichen Lebens ein. Sokrates zeigte ihnen, dass das vielfach nur „Dünkelwissen“, also der Schein von Wissen sei, und nichts Rechtes. Dadurch ist er wohl unbeliebt geworden, und einige haben ihn vor Gericht gestellt. Bei Platon unterhält sich Sokrates mit Jugendlichen, Mathematikern, Politikern, Rhapsoden, Generalen, seinen Brüdern, meistens aber mit Sophisten.

Die Sophisten waren Lehrer, in erster Linie für Rhetorik und dann ganz allgemein auch dafür, wie man seine Interessen durchsetzt. Sie sind einerseits eine Erscheinung der griechischen Demokratie, in der es viel auf den überzeugenden Auftritt vor den Volksversammlungen und vor Gericht ankam. Andererseits haben sie Entscheidendes für die griechische Aufklärung getan. Sie nahmen für sich in Anspruch, das, was wissenswert war, zu vermitteln, deswegen nannte man sie auch „Weise“, auf Griechisch sophistai.13

Bei Platon kommen die Sophisten schlecht weg. Erstens nehmen sie Geld für ihre Kenntnisse, zweitens sei es mit ihrem angeblichen Wissen nicht weit her. Die Sophisten zogen von Stadt zu Stadt, um ihre Kenntnisse der reichen politischen Schicht, und vor allem dem Nachwuchs, feilzubieten. Trotz Platons Abwertungen waren die Leute offenbar angesehen. Allerdings wird Hippokrates im Protagoras schamrot, als er zugeben muss, dass er selbst auch Sophist werden will, wenn er sich zu einem solchen in die Lehre begibt. Der Stelle geht der Witz verloren, wenn Sophisten einen allgemein guten Ruf hätten. Auch bei Aristophanes kommen die Sophisten nicht gut weg. Das ist vielleicht noch authentischer, weil er zu deren Blütezeit schreibt, und nicht rückblickend wie Platon; denn eine Schuld an den Auswüchsen der Demokratie in Athen wird man den Sophisten schon damals angelastet haben.

Weit schwerer als die Bezahlung wog sicher, dass Wissen und Sprache bei den Sophisten vollkommen instrumentalisiert wurden. Sinnvoll sei eben nur das, was uns in der Welt erfolgreich weiterbringt. Wir sollten uns den Sophisten zufolge auf das, was uns unmittelbar vor Augen liegt, konzentrieren. Die Bildung als Selbstzweck der Seele und die Suche nach Wahrheit weichen einer Kritik aller tradierten Vorstellungen und einer radikalen Relativierung aller Werte. Sowohl was die Kenntnisse als auch was die Lebensführung angeht, betont Sokrates immer wieder, dass er nichts Sicheres wisse. Platon entwirft damit ein „bewusst angelegtes Kontrastprogramm zur Vorstellung der Sophisten“ (Erler 2007, 65). Die Sophisten geben die Antworten, Sokrates dagegen stellt die richtigen und zuletzt unlösbaren Fragen (vgl. Wieland 1996, 6, 8, 24).

Sokrates, so sagten seine Ankläger, sei ein gefährlicher Mann, der Unrecht zu Recht macht (vgl. Apologie 17ab, 19b). Die Sophisten hatten ein Motiv für ein solches Unterfangen: den jeweils eigenen Vorteil. Sokrates dagegen geht es offensichtlich immer nur um die Sache, und darum, sein Gegenüber von seinen Irrtümern zu befreien. Die Sache erfahren wir aber nur, wenn wir bedingungslos die Was-Frage stellen. Zu fragen, was etwas ist, gehört damit unmittelbar zur Philosophie, aber ebenso zum Menschsein. Sein Ziel sind freilich auch Kenntnisse, denn, so war er überzeugt, nur der Weise kann glücklich sein – oft in der ironischen Verbrämung: Wenn wir Menschen schon nichts Rechtes wissen können, dann soll uns das wenigstens bewusst sein. Ähnlichkeit mit den Sophisten weist Sokrates in der Darstellung bei Platon nur in einem Punkt auf, nämlich dass er alle Tricks und Schliche der Sophisten kennt. Sonst wäre er aber auch nicht in der Lage, diesen auf die Spur zu kommen.

1.8 Platon und die philosophische Tradition

Platons Wirkung auf die ihm nachfolgende Geistesentwicklung ist definitiv nicht zu überschätzen, so dass das bekannte Diktum Alfred North Whiteheads immer noch seine Berechtigung hat. Danach besteht die gesamte Geistesgeschichte nur aus Fußnoten zu Platon (vgl. Whitehead 1995, 91). Lange Zeit wurde Aristoteles als eine Art Gegenspieler der Philosophie Platons angesehen, obwohl man freilich wusste, dass dieser Schüler Platons gewesen war. Nach und nach aber hat sich erwiesen, dass Aristoteles Lehre weitgehend auf dem Platonischen Fundament ruht, auch wenn er vielfältige neue Entwicklungen angestoßen hat. Die erste Rezeption geschah innerhalb der Akademie unmittelbar unter Platons Nachfolgern und schon zu seinen Lebzeiten. Dort wechselten sich später Phasen einer dogmatischen und einer skeptischen Ausrichtung ab. Vieles wurde auch aus den anderen großen Philosophenschulen der Antike, dem Peripatos (Aristoteles), der Stoa (Zenon) und dem Kepos (Epikur) übernommen. Über die römische Philosophie, vor allem bei Cicero, ist vieles bis ins Mittelalter weitergegeben worden. Mit Plotin setzt eine eher dogmatische Weiterentwicklung der Philosophie Platons ein, die sich allerdings ganz im Bewusstsein der getreuen Rezeption wähnte. In der Renaissance vergewisserte man sich wieder nach und nach der Schriften Platons und interpretierte seine Philosophie von dort aus. Die Basis für ein Studium der Texte hat sich im Laufe der Zeit immer weiter verbreitet und überall an den Universitäten in ganz Europa durchgesetzt. Dabei gab es stets Phasen einer unmittelbaren Anknüpfung an genuin platonische Philosophie, sei es bei den Cambridge Platonists im siebzehnten Jahrhundert in England, im neunzehnten bei Schleiermacher oder im zwanzigsten bei Cohen und Natorp in Marburg.

So reicht das Interesse an seinen Texten bis in die heutige Zeit, schon weil er vielen „Wahrheiten“, von denen wir heute überzeugt sind, die Richtung gegeben hat. Platon zu verstehen, bedeutet nicht zuletzt einen wichtigen Teil der heutigen Welt überhaupt erst einordnen zu können, weil diese auf dem Fundus der tradierten Gedanken ruht. Maßgeblich gilt das dafür, wie sie ist, und weniger, wie wir diese gerne hätten.

Die folgenden Kapitel geben einen Einblick in Platons Philosophie und in die Grundlagen seines umfassenden Denkens. Sie argumentieren eng an den Texten, werden aber die eigene Lektüre der Schriften selbst nicht ersetzen können. Insofern verstehe ich sie als Hilfestellung und Hinführung zu Platons Denken. Mit Platon aber kann ich sagen: Nur was selbst eingesehen ist, wird von Wert sein, und einzig das, was von Wert ist, hilft uns für unser Leben.

Weiterführende Literatur

Tilman Borsche, „Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia“, in: Kobusch u. a. 1996, 96–114.

Dorothea Frede, „Platons Dialoge als Hypomnemata – Zur Methodik der Platonsdeutung“, in: Schiemannn u. a. 2006, 41–58.

Wolfgang Detel, „Eros und Wissen in Platons Symposion“, in: Schiemann u. a. 2006, 137–153.

Christoph Horn, „‚Niemand handelt freiwillig schlecht‘. Moralischer Intellektualismus in Platons Nomoi?“, in: van Ackeren 2004, 168–182.

Theo Kobusch, „Wie man leben soll: Gorgias“, in: Kobusch u. a. 1996, 47–63.

Ekkehard Martens, Platons Fußnoten zu Sokrates“, in: Schiemann u. a. 2006, 59–69.

Burkhard Mojsisch, „‚Dialektik‘ und ‚Dialog‘: Politeia, Theaitetos, Sophistes“, in: Kobusch u. a. 1996, 167–180.

Terry Penner, „Socrates and the early dialogues“, in: Kraut 1992, 121–179.

Rudolf Rehn, „Der entzauberte Eros: Symposion“, in: Kobusch u. a. 1996, 81–95.

Jan Szaif, „Die Alêtheia in Platons Tugendlehre“, in: van Ackeren 2004, 183–209.

Wolfgang Wieland, „Das sokratische Erbe: Laches“, in: Kobusch u. a. 1996, 5–24.

1Die Übersetzung der Texte Platons folgt durchgängig der Schleiermachers.

2Eine Skizzierung der Bedeutung von Sokrates für Platon bringt Kutschera 2002/1, 13–37.

3Eine einführend sehr gute Zusammenstellung der sokratischen Frage bringt Wieland 1996, 6–8; vgl. für das sokratische Nichtwissen auch ebd. 17–19. Über die Anregungen, die Platon von Sokrates erfahren, und die Art, wie die Sorge um die beste Lebensführung in seinen Schriften Eingang gefunden hat, vgl. Martens 2006.

4Der logos umschreibt im Griechischen all unsere intellektuellen Fähigkeiten (Verstand, Vernunft, Bildung von Sinneinheiten) und ist somit auch die Voraussetzung für die Sprache.

5Der Protagoras scheint in der Rahmenhandlung sogar die Hauptaussage Platons in diesem Dialog zu verbergen (vgl. Fröhlich 2004).

6Zur Konstruktion der Rahmenhandlungen bei Platon vgl. auch Wieland 1996, 11.

7Rowe verwendet dafür das griffige Bild von einer Art asymptotischen Annäherung an die Wahrheit (vgl Rowe 1998, 176, 187, 197). Bei der genuin ethischen Ausrichtung des Philosophierens bei Platon greift die mathematische Metapher allerdings zu kurz: Der Mensch soll seine Entscheidungen rechtfertigen, d. h. die Wahrheit seiner Anschauungen hat sich in der Lebenswelt zu erfüllen, auch wenn wir gleichzeitig immer überzeugt sein sollten, dass diese revidiert werden können. In diesem Sinne sehr viel adäquater erscheint mir die Konzeption von Detel 2006, 149. Vgl. zum Begriff der Wahrheit bei Platon Szaif 1996.

8Vgl. hierzu auch Kobusch 1996, 59, 62; sowie Borsche 1996, 96.

9Vgl. für eine Diskussion dieser These in den Nomoi vor allem Horn 2004.

10Zur Ambivalenz sokratischer Definitionen vgl. Wieland 1996, 12 f.; vgl. auch Bordt 2004, 55–73.

11Manchmal wird angenommen, der literarische Sokrates entferne sich inhaltlich immer mehr von der historischen Figur, je später die Dialoge Platons zu datieren sind (vgl. z. B. Penner 1992). Wenn der Schwerpunkt aber nicht auf Lehrmeinungen – die wir bei Platon ohnehin nur schwer identifizieren können – oder auf der Differenziertheit der Argumente liegt, und es uns mehr um die Haltung zur Philosophie von Sokrates geht, wird der frühe und der späte Sokrates bei Platon eher große Ähnlichkeiten aufweisen.

12Sehr viel Erhellendes zum Begriff der Wahrheit (aletheia) bei Platon bringt Szaif (Szaif 2004); allerdings weist er nur unzureichend auf den für Platon zentralen Aspekt des Strebens nach der Wahrheit hin: Für Platon gibt es keinen „Zustand der vollen Einsicht“ (ebd., 195; vgl. auch ebd., 202).

13Die Bedeutung dieser Umbrüche für die ethischen Begriffe erläutert Stemmer 1992, 4–12.

Platon und die Grundfragen der Philosophie

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