Читать книгу Platon und die Grundfragen der Philosophie - Günter Fröhlich - Страница 8
Оглавление2. Die Hebammenkunst des Sokrates
Das philosophische Wissen kreist um die wichtigen Fragen, wie wir unser Leben führen wollen. Es soll uns Orientierung geben. Doch sicheres Wissen für alle Wechselfälle des Lebens kann es natürlicherweise nicht geben. Philosophisches Wissen kann also kein positives Wissen sein, das auf eine Frage eine eindeutige Antwort gibt. Sokrates bestreitet für sich auch jedes positive Wissen. Er behauptet allerdings, ein philosophisches Unterscheidungswissen zu haben, das ihn erstens befähigt, bei von anderen geäußerten Meinungen gleich zu sehen, ob es sich dabei um etwas Sinnvolles handelt, und zweitens beherrscht er eine Methode, wie die Meinung überprüft und begründet werden kann. Dadurch verhilft er anderen zu einem Wissen, das er selbst nicht hat.
2.1 Hervorbringen von Wissen (Theaitetos 148e–151d)
Was ist Erkenntnis (vgl. Theaitetos 145e)? Sokrates konfrontiert im gleichnamigen Dialog Platons mit dieser Frage den jungen Mathematiker Theaitet. Theodoros, ein Freund des Sokrates, hatte seinen Schüler wegen seiner vielen Kenntnisse und seiner Geschicklichkeit im Antworten sehr gelobt. Theaitet solle gerade so antworten, wie er kurz zuvor über ein mathematisches Problem geurteilt hatte.
Gar oft habe er, Theaitet, über die Frage, was denn Erkenntnis sei, nachgedacht, doch sei er bis jetzt noch nicht zu einer schlüssigen Antwort durchgedrungen. Allerdings sei er an dieser Frage genauso interessiert wie an den anderen Fragen, von denen er gehört hatte, dass Sokrates mit ihnen ständig die Leute belästigt, so sehr, dass er selbst vom Nachsinnen darüber nicht ablassen kann.
Daraufhin sagt Sokrates etwas Sonderbares: „Du hast Geburtsschmerzen, weil du schwanger bist, Theaitet“. Dazu fällt dem Jüngeren nicht viel ein. Sokrates führt aus, dass er der Sohn einer berühmten Hebamme sei und dass er die Hebammentätigkeit auch selbst ausübe. Ob er davon nicht schon gehört habe? Theaitet antwortet, dass das erste ihm bekannt sei, dass aber Sokrates selbst eine Hebamme ist, sei ihm bis dahin noch nicht zu Ohren gekommen.
Gewiss, das ist auch keine stadtbekannte Sache, und Theaitet solle es auch bloß nicht überall herum erzählen. Die Leute denken ohnehin schon, dass Sokrates ein komischer Kauz sei, der den ganzen Tag nur herumgeht und die Menschen ins Zweifeln über ihre Ansichten und Meinungen stürzt.
Theaitet solle doch einmal überlegen, was eine Hebamme im Wesentlichen ausmacht. Diese, so Sokrates, könne erstens selbst nicht mehr gebären, anderen aber sei sie darin behilflich. Hebammen haben darüber hinaus aber auch eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten. Sie sehen sofort, wenn eine Frau schwanger ist. Des Weiteren wüssten sie Zaubermittel und Wundersprüche, mit denen sie die Wehen beschleunigen oder verlangsamen können. Ebenso führen sie Abtreibungen durch. Außerdem sind sie zuweilen als Ehestifterinnen tätig, wobei sie genau wüssten, wer mit wem zusammen passt, damit gesunde Kinder dabei entstehen. Doch üben sie diese Tätigkeit selten aus, da sie nicht in den Verdacht der Kuppelei kommen wollen. Daneben gibt es offenbar einige Hebammen, die den Kindern auch gleich ansehen, ob etwas Rechtes aus diesen werden kann oder nicht, ob es sich um ein richtiges Kind oder nur um etwas Kindähnliches (Schleiermacher übersetzt das mit „Mondkalb“) handelt.
Dies alles gilt nun auch für ihn selbst, behauptet Sokrates, nur mit den Unterschieden, dass er erstens Männern Hebammendienste leistet; zweitens für die Seelen und nicht für die Körper Sorge trägt; drittens entsprechend unterscheiden kann, ob etwas Rechtes aus der Seele kommt oder eben nur ein Trugbild; und dass er dagegen viertens selbst in diesem Sinn nicht mehr „gebären“ kann.
Das letztere interpretiert Sokrates so, dass er seine Mitmenschen immerzu fragt, selbst aber nichts weiß oder antwortet, das Wissen, nach dem er fragt, also nicht hat. Das hat man ihm nicht selten, und wie er meint, schon mit Recht vorgeworfen. Die Ursache aber liegt darin, dass er selbst kein Wissen erzeugen kann oder schon in sich hätte. Aber Geburtshilfe für Erkenntnis bei anderen, das kann er leisten. Er ist also gar nicht weise und aus seiner Seele geht nichts hervor.
Es geschieht aber mit denen, die häufig mit ihm zusammen sind, dass sie auf einmal Wissen aus sich heraus hervorbringen, obwohl das zunächst gar nicht so aussah. Von ihm können sie das nicht haben, denn er weiß ja nichts. Das kommt also schon alles aus ihnen selbst. Er aber und der Gott Apoll leisten eben die Geburtshilfe für die Erkenntnisse. Jene aber, die zu ihm kommen, haben oft schon Geburtsschmerzen, und er kann sie dann verstärken oder lindern, gerade wie er es für notwendig hält.
Manche, die mit ihm umgehen und sich von ihm nicht recht helfen lassen, verlassen ihn entweder vorzeitig oder sie verlieren durch Verwahrlosung, was eigentlich etwas Rechtes hätte werden können. Mit den Missgeburten gehen sie dann hausieren und merken nicht einmal, was sie da mit sich herumtragen. Manchmal lässt er sich überreden, die „Geburten“ wieder aufzupäppeln, manchmal dagegen verbietet es ihm der Gott. Aber auch zum „Kuppeln“ taugt die Kunst des Sokrates. Wenn er nämlich merkt, dass einer, der zu ihm gekommen ist, seine Hilfe gar nicht braucht, dann weiß er, zu wem er ihn schicken muss, damit ihm dort geholfen werden kann.
Auch Theaitet kommt offenbar zu Sokrates, weil ihm etwas in der Seele herumgeht, bei dem er sich selbst nicht helfen kann. Das war der Sinn der Aussage, als er gemeint hatte, dass Theaitet Geburtsschmerzen habe und schwanger sei. Er, Sokrates, versteht aber die Kunst, ihm zu helfen. Doch darf Theaitet nicht böse werden, wenn er im Laufe des Gesprächs irgendetwas Unrechtes oder ein Trugbild hervorbringt und Sokrates das dann ablöst und wegwirft. Er macht das nur aus Wohlwollen gegen ihn, wenn er erkennt, dass dieser Unsinn geredet hat, aus dem keine Erkenntnis kommt. Manche sind deswegen auf ihn schon sehr böse geworden, wenn er ihnen ihr Geschwätz erst abgenommen und dann weggeworfen hat, ähnlich wie die Frauen, die, wenn sie eine Missgeburt haben, nicht glauben können, dass nicht die Hebamme Schuld daran trägt. Er will niemandem Übles und steht ja auch mit dem Gott im Bunde, er darf deswegen aber auch nichts „Falsches gelten lassen und Wahres unterschlagen“ (Theaitetos 151d).
2.2 Das Wissen und seine Voraussetzungen
Platon liebt solche Geschichten, aber er würde sie nicht erzählen, wenn es damit nicht etwas Tieferes auf sich hätte. Was aber bedeutet die Geschichte und Sokrates Auslegung seiner Metapher, er übe die Hebammenkunst für geistige Produkte aus? Zunächst sind darin ein paar Anspielungen auf die Rolle des Sokrates in der Athener Gesellschaft enthalten: z. B. dass er die Leute ausfragt und über ihn gespottet wird. Das greift zuletzt auch auf sein Gerichtsurteil voraus. Sein berühmter Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ hat für ihn dagegen einen spezifischen Sinn; dass Sokrates wirklich gar nichts weiß, kann nur ironisch gemeint sein. Im Dialog Protagoras behauptet er auch einmal, ein schlechtes Gedächtnis zu haben, und Platon lässt ihm durch Alkibiades widersprechen: Wenn sich einer der Anwesenden alles haarklein gemerkt hat und wiedergeben kann, dann sei es Sokrates (Protagoras 336d). In den Dialogen lässt Platon Sokrates immer wieder die Dichter und Philosophen zitieren, die er gelesen hat. Er kennt auch die Verhältnisse in Athen sowie die Geschichte der Stadt und kann souverän darauf zurückgreifen.
Die Frage, die sich für ihn dabei stellt, ist, ob das etwas Rechtes ist, was er da weiß, ob das Kenntnisse sind, die für eine gerechte Lebensführung taugen, die ihm sagen, was richtig zu tun ist und was nicht. In diesem Sinne betont er, dass er im Unterschied zu den Politikern, Dichtern und Sophisten nichts weiß. Diese geben nur vor, etwas zu wissen. Die Sophisten meinen zudem, dass sie das, was sie nur vorgeben zu wissen, lehren könnten, vor allem die Tugend und die Gerechtigkeit. Sie glauben etwas zu wissen, können ihm aber, wenn er sie fragt, keine Auskunft geben.
Es geht also um ein spezielles Wissen. Für dieses beansprucht Sokrates, beurteilen zu können, ob es etwas Rechtes ist, was andere darüber sagen. Zumeist enden die Dialoge, vor allem die frühen, aporetisch, d. h. in der Ausweglosigkeit, in einer Situation also, in der sich die bisherige Art des Fragens als Sackgasse erweist. Ist die Rede vom Nicht-Wissen dann Koketterie? Es geht um ein bestimmtes Wissen, das Sokrates sucht und er scheint sagen zu wollen, dass die Suche wichtiger ist, als es die Antworten sind. Diese können immer nur vorläufig sein, sind revidierbar und immer wieder aufs Neue zu diskutieren. Es gibt im Leben und der Lebensführung nichts Endgültiges.
Der Adressat des sokratischen Fragens hat die Erkenntnis der Anlage nach schon in sich. Sie ist, eben wie ein zu gebärendes Kind, bereits vollständig in ihm angelegt. Beides aber muss weiter gepflegt werden, weil es sonst missrät. Was ist das aber für ein Wissen, das wir selbst hervorbringen müssen, das uns offenbar niemand beibringen kann?
Einmal ist es das Wissen darum, wie man gerecht lebt. Sokrates scheint behaupten zu wollen, dass wir im Grunde den Unterschied zwischen gerecht und ungerecht sehr gut kennen. Sind wir an einer Sache unbeteiligt, so wissen wir ganz genau zu beurteilen, wie entschieden werden soll, wenn wir die Sache selbst richtig erfassen. Auch bei anderen sind wir streng, für uns selbst machen wir dagegen gerne eine Ausnahme.
Unser Leben müssen wir alle führen, das kann uns auch keiner abnehmen. Dass wir dazu grundsätzlich nicht in der Lage sind, wird man nicht annehmen wollen. Hierzu gehört ein Wissen, das uns niemand vermitteln kann. Sind dafür Erfahrungen unnötig? Nein, das sicher nicht! Aber letztlich helfen die Erfahrungen von anderen wenig, wir müssen das meiste selbst erleben. Das führt uns zum entscheidenden Punkt: Wissen besitzt man nicht wie eine Hose oder ein Haus. Diese Dinge bestehen auch unabhängig von uns. Wissen dagegen können wir mit anderen teilen, ohne dass wir es dadurch verlieren würden.
Das Wissen und unsere Erfahrungen sind unmittelbar von uns selbst abhängig, d. h. wir müssen sie auch selbst hervorbringen. Das hat einen spezifisch pädagogischen Sinn – wie so vieles bei Platon. Es bedeutet, dass niemand einem anderen etwas beibringen oder lehren kann, was dieser nicht selbst in seiner Seele und völlig für sich hervorbringt. Wissen muss begriffen werden, selbst nachvollzogen, von sich aus geboren werden. Ob ich verstehe, was mir jemand erklärt, hängt letztlich von mir ab. Es kann eine schlechte Erklärung sein, und ich verstehe sie trotzdem, weil ich weiß, was er meint; es kann eine gute, eine hervorragende Erklärung sein, ich verstehe sie aber nicht, weil ich nicht in der Lage bin, sie mir selbst begreiflich zu machen. Unter der Seele versteht Platon das Gesamtvermögen aller sinnlichen, vitalen, seelischen (auf sich selbst bezogenen), emotionalen und geistigen Bezüge.
Selbst, wenn Sokrates alles Relevante wüsste, derjenige, dem er etwas erklärt, muss die Erkenntnis selber machen, sonst ist sie kein Wissen, sondern ihr Inhalt wird bestenfalls nachgeplappert. Was einer nachplappert und somit nur vermeintlich versteht, begreift er eben nicht wirklich. Sich darauf etwas einzubilden, weil man bei bestimmten Stichworten anderes assoziiert, hat mit Bildung, Wissen und Kenntnissen nichts zu tun. Nur das, was man organisch und in seinem Vollsinn verstanden hat, ist wahre Erkenntnis – freilich nur, wenn sie richtig ist. Jedes neue Wissen muss in einem Prozess der Aneignung einschließlich seiner inhaltlichen und methodischen Voraussetzungen durchdrungen und mit dem bisherigen Wissen verknüpft werden.
Die Frage stellt sich: Können wir auch Falsches verstehen? Wir können zwar meinen, etwas verstanden zu haben. Doch wenn wir danach bemerken, dass unser Urteil nicht stimmt, sind wir nicht mehr der Ansicht, dass wir vorher etwas begriffen haben. Wir sprechen dann davon, dass wir uns zuvor getäuscht haben.
Natürlich besteht beim Wissen immer die Möglichkeit, dass wir uns täuschen. Das ist für die Konzeption der wahren Erkenntnis fatal, denn das setzt voraus, dass wir nie von echter Erkenntnis sprechen können, weil immer Zweifel angebracht sind. Aber dieser Umstand gehört zum menschlichen Streben nach Wissen dazu. Deswegen darf man nach Sokrates vom Fragen und Nachfragen nicht ablassen, man muss die Sachen immer genau prüfen und möglichst von allen Seiten, die eine solche Betrachtung zulassen. Darin hat er offenbar eine große Erfahrung, so dass er gleich sieht: Stimmt das Ergebnis in sich und mit den Erfahrungen überein, oder liegt da etwas schief?
2.3 Das sokratische Nichtwissen
Angesichts der skeptischen Grundhaltung drängt sich die Frage auf: Wissen wir wirklich gar nichts, wie Sokrates behauptet? Wir haben doch bestimmte Kenntnisse, Fertigkeiten, ein Faktenwissen usf. Für Sokrates, und damit für die ganze Philosophie, geht es aber nicht um ein solches positives Wissen, das sich im Übrigen auch ständig ändert, selbst in den Naturwissenschaften. Philosophisches Wissen gibt es in diesem Sinn gar nicht, weil das Reflektieren und Nachdenken, selbst bei methodologisch völliger Durchsichtigkeit, immer wieder von Neuem beginnt und nie zum Ende kommt.
Das liegt an unserer begrenzten Auffassungsgabe, an den unendlichen Möglichkeiten des Lebens, am Bewusstsein um unser unausweichliches Ende des irdischen Daseins, an den Dichotomien und den Widersprüchlichkeiten der gesamten menschlichen Existenz, und offenbar auch an den Voraussetzungen, die wir für jedes positive Wissen machen müssen. Diese können wir aber nie vollständig und absolut erfüllen.
Wir sind von unserer Vergangenheit geprägt und müssen uns auf eine Zukunft hin frei entwerfen; wir sehnen uns nach Unendlichkeit – im Wissen darum, dass wir sterben werden; wir sind zusammengesetzt aus physischen und psychischen Momenten, die nicht aufeinander rückführbar sind, weil ein Eindruck oder eine Wahrnehmung bis in alle Ewigkeit etwas anderes als ein neurophysiologisches Muster sein wird; wir streben nach Wahrheit und bekommen immer nur etwas Vorläufiges. Manchmal begnügen wir uns auch mit der Unwahrheit oder wollen sie hören. Wir wollen alles richtig machen und machen doch so vieles falsch. Wir versuchen klar und deutlich zu sprechen und zu schreiben und dennoch gibt es Missverständnisse. Wir glauben an Gott, den Menschen oder das Universum und wissen über das eine so wenig wie über das andere.
Dass heute, also nach zweieinhalbtausend Jahren, immer noch philosophiert wird, heißt offenbar, dass uns die Fragen der Philosophie nicht loslassen. Die Philosophie ist die erste aller Wissenschaften, d. h., sie ist der Ursprung des methodisch reflektierten Nachdenkens. Ihre Anfänge liegen zwar im Dunkeln, diese haben aber wohl mit der Entstehung des Menschen selbst zu tun. Die Krone des historischen Ursprungs des methodischen Untersuchens kann ihr allenfalls die Medizin streitig machen. Doch die antike Medizin ist eine andere als die heutige. Das gilt zwar auch für die Philosophie, aber ihre Fragen sind in vielerlei Hinsicht immer noch dieselben. Manche Ärzte behaupten sogar heute noch, die Medizin sei noch gar keine Wissenschaft – aber das ist eine ganz eigene Frage.
Die Rechtswissenschaft haben die Römer erfunden. Es gab zwar vorher auch schon Regeln des sozialen Zusammenlebens und der staatlichen Ordnung und Praxis, aber diese entstanden eher aus Traditionen purer Überlebens-Notwendigkeit, und wurden erst durch die philosophische Frage nach der Gerechtigkeit methodisch systematisiert; für die Römer war wichtig, wie ein Gesetz zustande kommt und wie und von wem es beschlossen und bekannt gemacht wurde; die Rechtsfindung und Rechtsanwendung wurde ebenso Regeln und – ganz entscheidend – einem Prozess unterworfen; dazu bildete sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert eine Gruppe von Fachleuten für Rechtsfragen heraus; und schließlich kam es zur Kodifizierung. Die Theologie ist als Wissenschaft freilich etwas Vieldeutiges, in alter Zeit ist sie von Dichtung oder Philosophie nicht zu unterscheiden – das Fragen über die menschlichen Grundfragen nach Erkenntnis und dem rechten Tun geht auch aus der Dichtung hervor.
Die Medizin sowie die Lehre von den Rechten und die Theologie sind an den heutigen Universitäten seit dem Mittelalter erhalten geblieben; aus der Philosophie sind alle anderen Fächer herausgebrochen: die Naturwissenschaften – Galilei oder Newton verstanden sich noch als Naturphilosophen –, die Ökonomie – nämlich aus der Moralphilosophie – und zuletzt die Psychologie – als empirische Frage nach dem Wahrnehmen, Denken und Fühlen. Alles, was sich als empirische Fragestellung formulieren lässt, hat sich von der Philosophie emanzipiert.
Es herrscht also ein Spannungsverhältnis zwischen den empirischen Fragen und den Fragen und Antworten in der Philosophie. Dieser wirft man vor, sie arbeite nicht einmal empirisch. Dabei sei doch inzwischen erwiesen, dass die Welt anders aussehen kann, als man auf den ersten Blick vermutet. Dazu muss man aber die empirische Wirklichkeit erst einmal zur Kenntnis nehmen und hinsehen, während die Philosophie glaubt, ihre Erkenntnisse durch bloßes Nachdenken sichern zu können.
Dieser Einwand vergisst, dass empirisches Arbeiten nicht einfach so beginnen kann. Manche meinen, empirische Fragestellungen lägen auf der Straße, man brauche sie nur aufzuheben, experimentell zu überprüfen und die gewonnenen Daten lieferten einem für sich schon die Antwort. Dass man ein Erkenntnisinteresse hat, also ein Ziel formuliert, das einen gerade interessiert, für sich selbst als Grundlage oder für eine bestimmte Anwendung, dass man darauf hin eine Fragestellung entwirft, diese methodisch – zumeist mathematisch – absichert, ein Experiment ersinnt, Messverfahren durchführt und die gewonnenen Daten dann interpretieren muss, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Jeder dieser Schritte enthält zudem Spielräume. Eine Veränderung der Voraussetzungen, z. B. in der Forschungsfrage, führt immer auch zu einem anderen Ergebnis. Vor allem die Messverfahren und die Datendeutung werden vielfach methodisch nicht auf das Ergebnis hin reflektiert.
Die Philosophie ist die Reflexionsinstanz, Methoden der Erkenntnisgewinnung zu hinterfragen und zu kritisieren. Das kann gar nicht empirisch erfolgen, weil die Reflexion sonst Teil der kritisierten Methode wäre. Wo aber, so kann man fragen, liegt dieses kritische Potential? Was ist das für eine kritische Instanz?
Ähnliches gilt auch für die anderen philosophischen Disziplinen, z. B. die Ethik. Auch diese will zuletzt nicht für sich beanspruchen, letztgültige Antworten auf die Fragen der Lebensführung zu finden, um damit den Anspruch zu erheben, dass der einzelne damit alles gut und richtig macht. Auch sie versteht sich in erster Linie als Reflexionsinstanz, die Methoden eruiert, wie man unter geregelten und vermittelbaren Bedingungen über solche Fragen nachdenkt, um dann mögliche Ergebnisse gegeneinander abzuwägen. Dass die Philosophie nur Fragen stellt und keine Antworten gibt, stimmt freilich nicht. Die philosophische Tradition bietet eine Fülle von unterschiedlichen Antworten. Diese werden aber immer wieder hinterfragt. Man kann sogar sagen, dass die Philosophie die Einrichtung ist, welche die Grundfragen des Menschen und des Lebens für jede Zeit immer wieder neu stellt.
Die Philosophie ist damit eine Wissenschaft, die seit zweieinhalbtausend Jahren immer dieselben Fragen stellt und sich bei den Antworten nicht einig wird. Ihr kommt es aber auch gar nicht darauf an, sich zu einigen. Außerdem weisen ihre methodischen Reflexionen mit den Inhalten zuweilen nur noch eine lose Verbindung auf.
Platon betont dieses dynamische Verhältnis zur Philosophie (vgl. Erler 2006, 63) immer wieder. Offenbar nimmt er aber auch an, dass der mühsame Weg ein Ende finden kann: Nach unserer Stelle im Theaitetos besteht dem Sinn nach immerhin die Möglichkeit, dass Sokrates etwas bestehen lässt, etwas, das dem Blick der sokratischen Seelenhebamme standhält. In der Politeia wird der vollkommene Philosoph und „wahrhaft Lernbegierige“ ebenso als jemand geschildert, der
„so geartet ist, sich um das Seiende zu beeifern, und also nicht bleiben kann bei dem vielen als seiend vorgestellten Einzelnen, sondern weitergehen wird, ohne sich verblenden zu lassen, und nicht eher Befriedigung finden für seine Liebe, bis er die Natur von jedem selbst, was ist, aufgefaßt hat, mit demjenigen in der Seele, womit es geziemt dergleichen zu fassen – es ziemt aber mit dem Verwandten; womit also dem wahrhaft Seienden sich nähernd und sich damit vermischend, und so Vernunft und Wahrheit erzeugend, er erkennen wird und wahrhaft leben und sich nähren und so seiner Schmerzen Ende finden, eher aber nicht“ (Politeia VI 490ab).14
Es ist schwierig bei Platon zu beurteilen, ob er damit eine Hoffnung verbindet oder ob er überzeugt ist, dass sich das Ziel erreichen lässt. Dieser Doppelgestalt der Philosophie gibt Platon immer wieder Ausdruck. Vor allem hat er ihren Begriff ganz neu verortet (vgl. Erler 2006, 68 f.). Die philologische Bedeutung der Wortverbindung von phileo und sophos bedeutet ursprünglich, dass man mit einem Wissensinhalt vertraut ist, weil man häufig mit diesem Umgang hatte, so wie jemand sich mit Pferden auskennt, wenn er viel mit den Tieren zusammenkommt, und dann ein phil-hippos genannt werden kann. Der häufige Umgang mit Wissen der höchsten und geistigen Art, das der Lebensführung dient, und das von den „Weisen“ gelehrt wird, macht nach Platon seinen Träger allerdings gerade nicht zum Philosophen, sondern zum sophos und Sophisten. Denn in den Gegenständen, um welche es Sokrates und Platon geht, gibt es eben kein positives Wissen, das als solches vorhanden ist und weiter gegeben werden kann.
Von „vertraut sein mit“ ändert sich das phileo bei Platon in ein „Streben nach“, in ein „Freund sein von“. Das bedeutet, dass der Philosoph das Wissen nicht hat, sondern danach strebt. Die Doppelnatur der Philosophie beschreibt Platon auch im Symposium. Dort wird die Philosophie mit der Liebe identifiziert, näherhin mit dem eros, was für den Liebesgott und für sein Prinzip steht, dem Streben nach dem Schönen, dessen Best-form die Weisheit ist. Der Eros nämlich sei ein Sohn von Poros, dem Weg, und Penia, der Armut. So bleibt die Philosophie arm, „rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer herumliegend und unverdeckt schläft [sie] vor den Türen und auf den Straßen im Freien“ (Symposion 203cd). Da aber auch das väterliche Erbe durchschlägt, ist Eros gleichzeitig „tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgendwelche Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist“ (ebd. 203d).15 Was die Philosophie sich damit verschafft, zerrinnt ihr aber gleich wieder. Und dieses Wesen überträgt sich auch auf den philosophischen Umgang mit den Menschen. Die Leute mögen es nicht, wenn ihre Vorstellungen als Missgeburt weggeworfen werden.
Das ständige Hinterfragen, zumal wenn es öffentlich geschieht, stört eine mühsam errungene und mit großem Aufwand aufrecht zu erhaltende, öffentliche Ordnung, die sozialen Grundlagen und den Legitimitätsanspruch der regierenden Parteien. Die Selbstverständlichkeit eines einmal eingeschlagenen Weges, der dann nach und nach Verbindlichkeitsansprüche in allen Bereichen fordert, bringt die Philosophie nicht auf. Vielmehr stellt sie sich von vorne herein schon dagegen. Nach Platon sprangen die Sophisten in die Lücken, welche zwischen den unterschiedlichen Verbindlichkeitsansprüchen gähnten, allerdings nicht, um neue Verbindlichkeiten zu begründen, sondern um die Situation für sich auszunutzen. Sie lehrten die Beliebigkeit der Anschauungen, und dass es nur darauf ankomme, darin die Möglichkeiten für das eigene Fortkommen zu erkennen und zu sichern.
Sokrates und Platon genügte das nicht. Sie wollten eine tatsächliche Neugründung der geistigen und sozialen Fundamente errichten, wussten aber, dass das so einfach nicht ist, weil die traditionellen Überzeugungen zerstört waren und keine gemeinsame Basis von Anschauungen mehr bestand; die Individualisierung ist geradezu das Kennzeichen der sophistischen Aufklärung.
Es ist das Verdienst Platons, diesen dynamischen Wissensbegriff entwickelt zu haben. Dabei legt er darauf Wert, dass echtes Wissen sich seiner Voraussetzungen immer wieder neu versichert, um so die Bestände an Wissen im dynamischen Fluss zu halten.16 Während die Sophisten sich pragmatisch darauf ausrichteten, die Ambivalenz der meisten Voraussetzungen dafür zu nutzen, das Wissen so zu gebrauchen, wie es einem selbst gerade am meisten einbringt, verschob Sokrates die Grundlage der Philosophie in den Einzelnen und sein Nachdenken. Die Zielgröße liegt dabei nicht im äußeren Erfolg, sondern in der inneren Zufriedenheit, in der Übereinstimmung mit sich selbst und mit denen, welche die Dinge genauso sehen, also im Weg zu Weisheit und Wahrheit, nicht im Anspruch, alles besser zu wissen.
Das eigenartige Bild von Sokrates, das Hervorbringen von Wissen mit der Hebammenkunst zu vergleichen, verdeutlicht die Grundhaltung der Philosophie: Was hervorgebracht wird, muss erst geprüft werden und notfalls verworfen werden. Was besteht, ist aber nichts Endgültiges, sondern bedarf der weiteren Pflege und Fortbildung.
Bei der Lektüre von Platons Texten gewinnen wir manchmal den Eindruck, er sei überzeugt davon, dass es sicheres, positives Wissen geben könnte. Seinen Sokrates lässt er nach einem Weg suchen, die Methode zur Eruierung dieses Wissens auf das, ihn tatsächlich sehr viel mehr interessierende, Wissen über die Lebensführung zu übertragen. Dabei stellt er fest, dass auch dort kein Wissen generiert werden kann, das keine Zweifel zulässt. Im vollen Bewusstsein, dass uns Menschen gar keine andere Wahl bleibt, als in unserer Lebensführung von bestimmten Überzeugungen auszugehen, erhebt er den Verfahrensweg der genauen Prüfung allen Wissens zur eigentlichen Kernaufgabe der Philosophie. Platon hat damit diese spezifische Ambivalenz der menschlichen Existenz nicht nur gefunden und aufgedeckt, sondern sich dieser auch ohne Scheu und Furcht ausgesetzt und die damit einhergehende Spannung ausgehalten.
Weiterführende Literatur
Ekkehard Martens, Platons Fußnoten zu Sokrates“, in: Schiemann u. a. 2006, 59–69.
Burkhard Mojsisch, „‚Dialektik‘ und ‚Dialog‘: Politeia, Theaitetos, Sophistes“, in: Kobusch u. a. 1996, 167–180.
Rudolf Rehn, „Der entzauberte Eros: Symposion“, in: Kobusch u. a. 1996, 81–95.
Frisbee Sheffield, „Symposium 201d1.204c6“, in: Horn 2012, 125–140; dt. übers. „Das Wechselspiel von Erzählung und Argumentation im Mythos von Penia und Poros in Platons Symposion“ in: Janka u. a. 2014, 283–301.
Orrin F. Summerell, „Der Wollfaden der Liebe. Anmerkungen zu einem Motiv in Platons Symposion“, in: van Ackeren 2004, 69–91.
14Der sogenannte „wahrhaft Lernbegierige“ ist nach Martens gewissermaßen der Sonderfall, denn im Grunde sei Platon davon überzeugt, dass „alle Menschen philosophieren, … alle vom Eros nach dem wirklich Guten beseelt sind“ (Martens 2006, 62). Die angegeben Stelle, Symposion 203b–204c, die Geschichte Diotimas von Eros, gibt diese Lesart aber leider nicht her.
15Über die Ambivalenz des Eros vgl. Rehn 1996, 85–90, 91 f. Zum Symposion insgesamt sehr empfehlenswert Horn 2012, zur Geschichte von Poros und Penia vgl. Sheffield 2012, 125–140 (dt. Übers. in Janka u. a. 2014, 283–301). Für die Herausarbeitung des Zentralmotivs der Liebe vgl. Summerell 2004.
16Diese dynamischen Momente in Platons Spätphilosophie betont vor allem Mojsisch 1996, 168, 171, 176, 179.