Читать книгу Fregatte in grüner Flusslandschaft - Günter Helmig - Страница 7
Die Fassade war grau - wie immer
ОглавлениеVenloer Straße! flötete die Stimme. Kröger wurde aufmerksam, blickte aus dem Fenster. Mc Donalds rechts. Heiße Sache. Mc Bacon. Und gegenüber die Konkurrenz. Bunt. Kentucky-Fried-Chicken. Sultan Grill.
Die Bahn überquerte zügig die Straße, fuhr zielstrebig Richtung Unterführung, kroch in den Tunnel. Er spürte die Hitze von damals wieder. Der Asphalt warf Blasen. Und er musste hier durch zum Supermarkt, jobben für die Ferienreise. Schmutzig der Tunnel, wie früher. Einige missglückte Graffiti. Das Blickfeld erweiterte sich. Endstation.
Er stieg aus. Trug schwer an der Schultasche in der rechten Hand. Ging den Gürtel weiter bis zur Subbelrather Straße. Nasses Kopfsteinpflaster. Sicherte links, rechts. Ließ den VW mit der winzigen Heckscheibe vorbei. Lief an den Vorgärten entlang, bis der Gürtel wieder breiter wurde, Platz für Bäume und einen Fußweg in der Mitte ließ. Die Tasche zog ihn nach unten, er wechselte die Hand.
Die Trasse der Gürtelbahn war inzwischen verlängert worden. Kröger fuhr den Weg entlang, den er als Schuljunge gelaufen war, blickte neugierig in die Seitenstraßen hinein. Fridolinstraße, Försterstraße. Hier hatte sein Friseur gewohnt, war ihm lange treu geblieben, bis er das Geschäft aus Altergründen aufgab. Sie hatten sich immer gut unterhalten, doch wenn er über das Dritte Reich reden wollte, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.
Eichendorffstraße. Schöne Häuser mit restaurierten Fassaden. Die Kirche im Hintergrund mit rötlichem Anstrich, das hatte er anders in Erinnerung.
Röntgenstraße, Nussbaumerstraße. Die Bahn hielt, er stand auf, wollte seine alte Straße wiedersehen, wusste es vor zwei Minuten noch nicht. Sein Freund konnte warten.
Die Straßenbahn lief vor ihm weg, den Parkgürtel weiter.
Nussbäume gab es keine, aber hier hatte er fünfzehn Jahre lang gewohnt. Langsam ging er die Straße entlang.
Ottostraße.
Der Laden an der Ecke. Kästen mit Obst und Gemüse unter einer Markise. Lebensmittel auf einfachen Regalen. Freundlich die beiden Alten. „Hol’ doch bitte ein Pfund Kaffee, Günter, die machen dir bestimmt auf.“ Er ging ganz nah an die Scheiben heran. Suchte ein Krämerpaar aus Stettin. Sah in den Regalen nur Zeitschriften, Süßigkeiten, Getränke. Kiosk stand irgendwo.
Mykonos hieß jetzt die Gastwirtschaft gegenüber. Manchmal hatte er dort gegessen, Billard gespielt. Er schaute durch die Fenster, sah den Tisch nicht mehr.
Er mied die Seite, wo er früher gewohnt hatte, ging die entgegen gesetzte Häuserfront entlang, bis zum Ende der Straße. Traf dort das Schild seines Hausarztes wieder. Er klingelte. Die Sprechstundenhilfe setzte ihn auf einen Stuhl. Rasende Kopfschmerzen. Nebenhöhlenvereiterung. Der Arzt zieht den Eiter ab, schafft ihm Luft im Kopf. Er taumelt nach Hause. Die Schmerzen lassen nach.
Kröger ging wieder zurück, diesmal auf der richtigen Seite. Die Eckkneipe erschien ihm aufgemotzt. Er ging hinein mit einem Siphon in der Hand. Schob sich durch die Menschen zur Theke. Verlangte eineinhalb Liter Kölsch für Fischers. Atmete Bierdunst und Rauch ein. Wurde angepflaumt und gefragt, wie alt er sei. Zahlte schließlich und trug das Gefäß nach oben, zu ihren Nachbarn. Bekam 50 Pfennig Trinkgeld.
Kröger ging links die Ecke herum, eine Seitenstraße entlang, Richtung Kirche. Die Straße wirkte langweilig grau, wie früher. Rechts die Schule, die er von innen kannte, weil dort das Wahllokal war. Hier hatte Adenauer seine Siege errungen.
Der Kirchplatz. Die Plattierung war erneuert, Jungbäume angepflanzt. Möbel- und Kleiderladen, geöffnet dienstags und samstags von 16 bis 19 Uhr.
Die Kirche war verschlossen. Er ging trotzdem hinein und setzte sich vorne in die zweite Reihe, um alles sehen zu können. Der Dominikaner aus Brasilien bat um Unterstützung. Der holländische Franziskaner zelebrierte die Messe mit, hatte ihm am Vortag den Unterschied zwischen objektiv und subjektiv erklärt. Objektiv betrachtet habe er schwer gesündigt, subjektiv gesehen nicht. Kröger war froh, weiter gehen zu dürfen.
Er umrundete die Kirche. Der Kirchturm hatte tatsächlich in der unteren Hälfte einen hellroten Putz bekommen.
Die Ottostraße entlang, zurück zu seiner Straße. Er konnte gut sein früheres Haus sehen. Damals wohnte er auf der dritten Etage. Balkon mit etwas Morgensonne, Geranien gediehen nicht, Nordseite.
Er schwang sich hinauf, schaute hinunter auf die belgischen Panzer, die frühmorgens hier durchkamen, um zum Manöver zu fahren, sah dem Bus nach, der Richtung Innenstadt fuhr, fror in seinem braunen Anorak, trotz des Schals, abends um zehn, hinter dem Fernrohr stehend, begeistert Planeten und Mondkrater suchend, die Hände steif vor Kälte. Sein Himmelsausschnitt war begrenzt von den Dächern der gegenüberliegenden Häuser.
Die Fassade war grau wie immer.
Zwei Häuser neben ihm hatte sein Freund gewohnt, ein Junge, der mit fünfzehn darunter litt, nicht zu wachsen, aber zwei große Brüder hatte, mit denen zusammen er ein Geheimnis teilte, einen besonderen Erkennungspfiff. Kröger war damals nicht eingeweiht worden, hatte ihn wegen dieses Pfiffs beneidet.
Schließlich stand er vor seinem alten Haus. Verwittert die Tür. Drei Stufen bis zu den Namen neben den Klingelknöpfen. Er stieg hoch, las die Namen von unten nach oben. Im Parterre wohnten Leute, an die er sich erinnerte. Gotthards hatten Abstand zu den anderen Mietern gehalten. Die Frau war die Schülerin der Hausbesitzerin, einer pensionierten Lehrerin, der Kopfnickerin, gewesen. Diese hatte ihm so manches Buch geschenkt. Die anderen Namen kannte er nicht.
Die Klingelknöpfe waren unverändert schwarz. Die Namen eingeritzt in Messing, als hätten sie schon immer dort gestanden.
Schneider stand dort, wo er gewohnt hatte. So hatten ihre Nachfolger nicht geheißen.
Und Beske dort, wo Fischer hingehörte. Zweimal klingelte er bei der rundlichen Frau, die morgens um vier aufstand, mit dem Gemüsehändler von der Ecke zur Markthalle fuhr, dann bis mittags auf dem Wochenmarkt stand und anschließend in die Eckkneipe ging, um ihr Bier zu trinken und zu reden. Sie machte nicht auf.
Ihr Mann, der Elektriker, malte abends oder entwickelte Bilder in seiner Badezimmerdunkelkammer. ‚Was ich erlebt hab, das konnt‘ nur ich erleben, ich bin ein Vagabund.‘ Er wollte kein Bier von ihm geholt haben.
Und Parteke stand dort, wo Brinkmann hingehörte. Der Mann, ein Jude, nach Holland mit seiner Frau emigriert, war während des Krieges von Bekannten versteckt worden. Und die Frau hielt zu ihm. Sie hatten Glück gehabt. 1950 kehrten sie nach Deutschland zurück und er wurde Kassierer in einer Sparkasse.
„Klingel nur einmal, wenn du kommst“, sagte sie beim ersten Mal. Er holte täglich die Briketts aus dem Keller und stapelte sie nach der Anlieferung, erhielt drei Mark die Woche, sein Taschengeld.
Der schlimme Vorfall zwischen Brinkmann und Meyer, dem früheren SS-Mann, der eingezogen war. Sie hatten sich gestritten, es gab Schmierereien an Brinkmanns Wohnungstür und schließlich bekam Brinkmann einen Herzinfarkt, den er aber überlebte. Meyer zog aus.
Und der Name der fünfundvierzigjährigen Frau über ihnen, die er einmal abends im Hauseingang mit ihrem Freund überraschte und deren Bett über seinem stand, fiel ihm nicht mehr ein.
Kröger drückte auf keine Klingel, wollte die Kälte des Materials nicht spüren, nicht den Hausflur wiedersehen, den er zweimal im Jahr reinigen musste, wenn die Briketts angeliefert wurden. Mürrisch öffnete er trotzdem dem Kohlenhändler die Tür und schaute zu, wie der Mann, auf dem Wagen stehend, seinem Gehilfen die Hucke voll schaufelte, dieser dann über die Steinplatten in den Keller schritt, den Kopf gesenkt, und mit Schwung den Inhalt der Hucke auskippte.
Er wollte den Eimer mit Seifenlauge nicht holen, nicht Aufnehmer und Schrubber tragen, um den Flur zu säubern. Auch nicht den Keller kehren, wobei der Kohlenstaub in Nase und Augen hochstieg, wollte keine Taschentücher voll schnäuzen.
Er hatte nicht das Bedürfnis, den Garten zu sehen mit der Teppichstange und den Wäscheleinen, wollte nicht mehr den alten Teppich klopfen, den sie vor den Bomben gerettet hatten, bei dem die Einfassung zerschlissen war und durch den stellenweise das Licht fiel. Wollte seiner Mutter nicht die Wäsche abhängen und hochtragen. Jetzt wollte er wieder gehen und die Vergangenheit ruhen lassen.
Zügig ging Kröger zurück zur Haltestelle. Nach einigen Minuten kam die Bahn und flog mit ihm über die Nordstadt und den Rhein nach Mülheim.