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Prinz Klaus VI

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„Du darfst mich lieben für drei tolle Tage, du darfst mich küssen …“

Auf der Straße tanzten die Narren. Jürgen stand auf einem Podest, kniehoch über dem Bürgersteig, eingehakt in den Arm einer Zigeunerin und schunkelte. Man brachte ihm ein frisch gezapftes Bier, das er in einem Zug austrank, durstig machte das Singen.

Berittene Polizei in Viererreihen kündigte den Zug an, drängte die Leute an den Rändern zurück.

Jürgen löste sich von der schwarzgelockten Frau mit den goldenen Ohrringen und ergriff das Mikrophon.

„Leev Lückcher, wie ihr seht, kütt bahl de Zoch, joht schön zur Sick un bejrößt de Polizei mit einem herzlichen Kölle …“

Und die Jecken machten mit, stießen ein lautes Alaaf aus und hoben gleichzeitig den rechten Arm. Die Männer in Grün ritten vorbei, schauten flüchtig zu ihm herüber. Es dauerte noch etwas, bis der Zug tatsächlich kam. Er löste die Pausentaste des Kassettenrecorders, die Musik lief weiter.

„Mir loße de Dom in Kölle…“ „Wenn das Wasser im Rhein goldner Wein wär…“ Der Tanz auf der Straße begann wieder, die Frau mit den goldenen Ohrringen hakte sich bei ihm ein und sie schunkelten, bis tatsächlich der erste Traktor um die Ecke fuhr.

„Der Zoch kütt!“

Die ersten Gruppen kamen zügig voran. Er kannte einige der Akteure persönlich, begrüßte alle herzlich mit einem dreifachen „Kölle!“ und die Leute auf der Straße unterstützten ihn begeistert mit ihrem „Alaaf!“. Die Götter oben auf den Wagen bedankten sich, warfen Manna in die Menge, ließen es hageln. Manche beherrschten die Technik perfekt, flache Pralinenschachteln wie Frisbee-Scheiben durch die Luft gleiten zu lassen.

Es kam einiges bei ihnen an, aber die Zuschauer vor ihnen schnappten das meiste weg. Wer groß war oder springfreudig, fing die Schachteln oder Tulpensträußchen in der Luft ab. Wer sich oben nicht durchsetzen konnte, musste rasch nach unten tauchen, Schokolade, Kekse oder Goldtaler mit flinken Pfoten vor dem Zugriff der Nachbarn sichern. Damen in Pelz bückten sich hastig, zerrten an einer Pralinenschachtel. Omas sahen sich suchend um, klaubten mit kalten Fingern Schokoladentaler von der Erde, füllten unermüdlich Tragetaschen. Doch die Karamellen blieben liegen, wuchsen immer höher, Sedimentgestein, setzten sich fest im Profil der Schuhe, rutschten in Kapuzen und Hüte.

Und jede Begrüßung wurde von Trommel und Becken nebenan lautstark unterstützt. Stöcke klatschten wie dichter Regen auf das Fell der Trommel. Wenn die beiden bauchigen Messingteller zusammengeschlagen wurden, schauten die Götter gebannt herüber und ließen es wieder hageln.

Wir bejrößen herzlich die Blauenfunkenunderudefunkenundemüllemerjungenundiealtstädterundejroßealljemeinekarnevalsjesellschaftunterihrempräsidentenjosefweber.


Die Prinzengarde erschien. Um die Ecke bog in Weiß und Gold der Festwagen des Kölner Prinzen, Klaus VI. Er kannte ihn persönlich, waren früher einmal Kollegen in einer Firma gewesen, aber Klaus hatte sich dann selbstständig gemacht, verdiente viel Geld. Gelegentlich trafen sie sich in ihrer alten Kneipe, noch vor zwei Wochen, müde hatte er gewirkt, kein Wunder nach der langen Saison, wollte ihn persönlich ansprechen und ehren.

Und der Regen hatte kein Mitleid mit den Menschen. Schirme, die zum Sammeln gedient hatten, erfüllten nun ihren angestammten Zweck. Nur der Prinz durfte keinen Schirm aufspannen, trotzte mannhaft dem Regen, fing viel Wasser in seinem großen, steifen Halskragen auf, der ihn noch prächtiger erscheinen ließ.

Jürgen schaute fasziniert auf den Hut mit den langen, wippenden Federn. Dann suchte er seine Augen, traf sie aber nicht.

Sieht verändert aus, wahrscheinlich der Regen und der Stress. Auf die persönlich gehaltene Begrüßung hatte er nicht reagiert, kein Lächeln, kein Blick. Schaute beinahe bewusst weg, drehte sich zur anderen Seite, als wenn es ihm nicht recht wäre, hier einen alten Freund wiederzufinden. Das befremdete ihn.

„Beim Zug sehen wir uns wieder, Jürgen“, hatte Klaus zum Abschied gesagt. Komisch, dachte er. Der letzte Wagen fuhr vorbei. Muss ihn nachher sprechen, vielleicht ist alles nur Einbildung, habe zu viel getrunken. Trotzdem entschloss er sich, ihm zu folgen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Rasch teilte er seiner Carmen und den anderen mit, sie sollten schon in die Kneipe vorgehen, er käme später nach, müsse noch den Prinzen abfangen und ihn etwas fragen.

Neumarkt, Nord-Süd-Fahrt, Polizeipräsidium. Scharen von Polizisten marschierten zurück zu ihren Bussen aus Unna und Essen, Zweierreihe. Dort waren sie sicher vor den Nachstellungen der verrückten rheinischen Frauen, für die ein Polizist ein Mann zu sein schien, den man nicht unjebützt herumstehen lassen konnte.

Am Waidmarkt erreichte er wieder den Zugweg. Bauer und Jungfrau fuhren gerade vorbei, sie interessierten ihn nicht. Dann kam der Prinzenwagen. Es regnete etwas schwächer. Der Prinz durchnässt, aber immer noch unermüdlich grüßend, die Menge segnend, Jubel umbrandete ihn.

Die Belastungen der Karnevalssession hatten sein Aussehen deutlich verändert. Das Gesicht war voller geworden, Wasser hatte sich angelagert. Jeden Abend fünfzehn Kölsch hinterlassen Spuren. Die Nase stach mehr heraus als sonst, war rot geworden.

Er folgte dem Wagen die Severinsstraße entlang. Die Straße führte direkt zum Severinstor, dem Ende des Zugwegs, aber der Wagen war nicht mehr zu sehen. Er wandte sich nach links, Richtung Stollwerk, und entdeckte nach kurzer Zeit den Prinzenwagen in einer Seitenstraße.

Jürgen hielt etwas Abstand. In der Nähe eine Kneipe, aus der Musik erklang, Leute tanzten auf der Straße, obwohl es immer noch leicht regnete.

Der Prinz war von seinem Wagen heruntergestiegen, hatte seinen Hut mit den Federn abgenommen und verteilte die letzten Süßigkeiten an eine Gruppe Kinder, die ihn umlagerte.

„Jetzt ist Schluss“, bemerkte er schließlich energisch, „ich hab‘ nichts mehr.“

Seine Stimme klang anders als gewöhnlich, er musste heiser sein. Die Kinder zogen ab. Seine hautengen, weißen Beinkleider waren durch kniehohe Wollstrümpfe in derselben Farbe geschützt. Sein hüftlanges, rotweißes Festgewand mit dem Stadtwappen in der Mitte konnte er sicher erst zu Hause wechseln, auch wenn es durchnässt war. Den Umhang mit der steifen Halskrause ließ er sich jedoch abnehmen. Der Mercedes, neu gespritzt und mit dem Hinweis auf die hohe Würde versehen, parkte direkt nebenan. Leute, die Jürgen nicht kannte, packten alles in den Kofferraum.

Jürgen näherte sich der Gruppe, ging auf Klaus zu und sprach ihn an.

„Du musst ja total fertig sein, Klaus, nur noch einen Tag, dann hast du es geschafft!“

Klaus erkannte ihn nicht, wandte sich ab, wollte zu seinem Auto. Doch Jürgen ließ ihn nicht durch, verstellte ihm den Weg.

„Was ist los mit dir, bist du betrunken?“

Einer der Begleiter fasste Jürgen am Arm, führte ihn zur Seite, sodass Klaus einsteigen konnte. Er fragte ihn, wer er sei und woher er den Prinzen kenne. Jürgen gab Auskunft, erzählte von ihrer alten Freundschaft und von ihrem letzten Treffen vor zwei Wochen. Ungeduldig verlangte er nach einer Erklärung, ahnte schon etwas. Der Mann bat ihn dann um größte Verschwiegenheit, er müsse ihm ein Geheimnis anvertrauen. Jürgen spürte, wie sich die Gefäße um sein Herz zusammenzogen, sein Herz flatterte, Schweißperlen traten auf seine Stirn.

Der richtige Prinz sei in der Nacht von Samstag auf Sonntag an einem Herzinfarkt gestorben, jede Hilfe sei zu spät gekommen. Um Schaden abzuwenden, habe man den Schauspieler Frank Neumann gebeten einzuspringen, er sehe ja dem Toten verblüffend ähnlich. Die Spitzen des Kölner Karnevals stünden hinter der Aktion. Als Karnevalist habe er sicherlich Verständnis für ihr Verhalten.

Jürgen fühlte sich wie jemand, der einen Schlag in den Magen erhalten hatte, konnte nicht sprechen, sah den Mann nur verständnislos an. Der Mann wiederholte unüberhörbar mit leicht erhobener Stimme:

„Klaus ist tot, es tut uns allen sehr leid.“

Schließlich versprach Jürgen mit ausdrucksloser Stimme, das Geheimnis zu wahren. Der Mann stieg zu Neumann ins Auto, grüßte durchs Fenster, und der Schauspieler fuhr seinem wohlverdienten heißen Bad entgegen.


Wie im Traum schritt Jürgen den Zugweg zurück, registrierte zwar die Reinigungsmaschinen und Kehrkolonnen, musste aber ununterbrochen an den Mann mit dem Federhut denken.

Aschermittwoch würde die Straße wieder ganz normal aussehen.


Fregatte in grüner Flusslandschaft

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