Читать книгу Spessartblues - Günter Huth - Страница 6
ОглавлениеProlog
Der Spielplatz lag am Rande der Neubausiedlung, in der unmittelbaren Nähe eines Wäldchens. Eigentlich verdienten die wenigen, ziemlich heruntergekommenen Klettergeräte kaum die Bezeichnung Spielplatz. Es gab in der Siedlung nur eine geringe Anzahl Kinder, die diesen Platz gelegentlich in Begleitung ihrer Eltern aufsuchten. Hin und wieder trafen sich hier zu später Stunde Teenager oder Liebespaare und genossen die Ungestörtheit im Schutz der Bäume.
Mit reichlich verbiesterter Miene schob Mathilda den Kinderwagen mit Fritz, ihrem vierzehn Monate alten Bruder, über den Schotterweg, der zum Spielplatz führte. Trotz ihrer massiven Proteste bestand ihre Mutter darauf, mit diesem nervigen Schreihals eine größere Runde um die Häuser zu drehen. Der Kleine bekam gerade Zähne und hielt die ganze Familie mit seinem Geschrei auf Trab. Mal ganz abgesehen davon, dass Mathilda grundsätzlich auf diesen Nachkömmling gut hätte verzichten können, war sie heute richtig sauer, denn ihre Mutter verdarb ihr mit diesem aufgenötigten Babysitting den ganzen Abend. Zunächst hatte Mathilda etwas gezögert, dann aber alle Skrupel beiseitegeschoben und dem kleinen Schreihals kurz vor dem Weggehen eine Dosis des Beruhigungsmittels verabreicht, das der Kinderarzt wegen der Zahnschmerzen für alle Fälle verschrieben hatte. Tatsächlich beruhigte sich der Junge schnell und das Schaukeln des Kinderwagens beim Schieben tat sein Übriges: Fritz schlief tief und fest.
Sie hoffte darauf, dass Lutz, der Junge, mit dem sie verabredet war, Verständnis dafür hatte, dass sie Fritz mitbringen musste. Wenn der Kleine weiterhin so ruhig war und schlief, würde sie ihn etwas abseits parken. So konnte er sie nicht stören.
Lutz war an der Schule ein begehrter Junge. Er ging in die Klasse über ihr und sollte, wie sie von ihren Freundinnen gehört hatte, ziemlich erfahren sein. Sie war vor Stolz fast geplatzt, als er sie vor zwei Tagen auf dem Schulhof gefragt hatte, ob sie sich heute mit ihm treffen würde. Als sie sich dem Spielplatz näherte, war keine Menschenseele zu sehen. Sie warf einen Blick auf das Dispiay ihres Smartphones. Sie war zehn Minuten zu früh. Am Waldrand stand eine grob behauene Bank aus Holzbohlen. Von dieser Stelle aus verlief ein schmaler Trampelpfad durch die Büsche und Hecken und verlor sich im Wald. Ein beliebter Weg für Spaziergänger mit Hund.
Mathilda stellte den Kinderwagen neben der Bank ab und ließ sich darauf nieder. Ihr Smartphone zeigte an, dass keine neue Nachricht eingegangen war. Fritz bewegte sich im Schlaf und gab einige leise Töne von sich. Besorgt hielt sie den Atem an, aber gleich lag er wieder ganz ruhig.
Plötzlich hörte sie auf dem Schotterweg, der zum Spielplatz führte, das Knirschen von Fahrradreifen. Da kam Lutz auch schon auf einem Mountainbike herangerauscht. Kurz vor Mathilda hieb er die Bremsen rein und schlitterte mit ausbrechendem Hinterrad über den Weg. Das Herz des Mädchens schlug bis zum Hals. Mit einem schnellen Seitenblick vergewisserte sie sich, dass ihr Bruder durch den Krach nicht aufgewacht war.
»Hi!«, rief Lutz und sprang vom Rad. Dabei warf er einen kritischen Blick auf den Kinderwagen. »Was ist denn das?«
»Hi, Lutz«, erwiderte sie und ärgerte sich über ihre Stimme, die plötzlich so piepsig klang. »Ich musste leider meinen kleinen Bruder mitnehmen, sonst wäre ich nicht von zuhause weggekommen … aber der schläft tief und fest.«
»Nicht so schlimm. Ich habe auch Geschwister. Können manchmal ganz schön nervig sein. Kannst du ein bisschen bleiben?«
»Ja, klar. Wenn ich in einer Stunde zurück bin, sagt keiner was.«
»Wollen wir ein bisschen herumlaufen?«, fragte Lutz und klappte den Fahrradständer aus.
»Gerne«, erwiderte Mathilda aufgeregt. »Wir können den Kinderwagen hier stehen lassen. Wir sind ja in der Nähe und hören es, falls er aufwacht und schreit.«
Sie entfernten sich schlendernd von der Bank. Nachdem sie einige Schritte wortlos gegangen waren, legte Lutz plötzlich wie selbstverständlich seinen rechten Arm um ihre Schulter. Ein wohliger Schauer lief durch ihren ganzen Körper und sie schmiegte sich näher an ihn. Sie fühlte, wie seine Hand an ihrer Schulter ein Stückchen tiefer rutschte und sein Daumen sanft ihren Oberarm streichelte.
Obwohl Mathilda sich wie im siebten Himmel fühlte, bohrte sich immer wieder ein störender Gedanke in ihre Gefühlswelt. Sie wollte Lutz sicher nicht verprellen, aber da war etwas, was geklärt werden musste, bevor sie sich ohne Vorbehalte auf ihn einlassen konnte.
»Du, kann ich dich mal was fragen?«, begann sie vorsichtig.
»Klar«, erwiderte er.
»Ich habe dich in der letzten Zeit häufiger mit Svenja aus der Parallelklasse gesehen …«
Lutz blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Stimmt, wir haben uns ein paarmal getroffen. Aber das ist vorbei. Sie ist eine ziemliche Zicke. Ganz anders als du«, fügte er hinzu.
Mathilda fiel ein Stein vom Herzen. »Wie bin ich denn?«, wollte sie wissen.
»Ziemlich cool, denke ich. Wie du kürzlich den Lars auf dem Schulhof fertiggemacht hast, weil er dich blöd angemacht hat, wirklich cool.«
»Der Blödmann hat über WhatsApp verbreitet, ich hätte ein Tattoo am Hintern. Womit er alle glauben machen wollte, er hätte schon mal meinen nackten Po gesehen. Dieser Typ ist doch zum Kotzen!« Sie musste sich zusammenreißen, dass sie nicht wütend wurde.
Sie liefen ein Stück weiter und erreichten schließlich die gegenüberliegende Seite des Spielplatzes. Durch die fortschreitende Dämmerung war der Kinderwagen, der von ein paar verstreut stehenden Büschen leicht verdeckt war, nur noch schemenhaft zu erkennen. Plötzlich blieb Lutz stehen und drehte sich zu ihr. Er legte seine Hände hinter ihrem Hals zusammen und zog sie näher zu sich. Ohne weitere Worte beugte er sich vor und gab ihr einen leichten Kuss auf den Mund.
»Ich finde es echt geil hier mit dir«, flüsterte er anschließend leise.
Durch Mathildas Körper lief ein Schauer und in ihrem Bauch führten Schmetterlinge einen wilden Reigen auf. Ein Gefühl, das ihr fast die Sinne raubte. Sie vergaß die Zeit und alles um sich herum, spürte nur noch die Wärme des Jungen, der erneut ihren Mund suchte. Irgendwann lösten sie sich voneinander und schlenderten langsam den Weg zurück.
»Sind wir jetzt fest zusammen?«, wollte Mathilda schließlich leise wissen.
»Klaro«, gab Lutz zurück und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie näherten sich wieder dem Kinderwagen. Fritz schien noch immer tief und fest zu schlafen. Während Lutz sein Fahrrad ergriff, warf Mathilda einen flüchtigen Blick in den Kinderwagen. Sie erstarrte! Hastig trat sie einen Schritt näher.
»Lutz! Mein Gott! Fritz ist weg!« Ihr Aufschrei war so entsetzt, dass der Junge sein Rad fallen ließ und schnell neben sie trat. Tatsächlich, der Kinderwagen war leer! Darin befand sich nur noch die überzogene Matratze.
Mit irrem Blick suchte Mathilda die nächste Umgebung des Kinderwagens ab. Vielleicht war Fritz irgendwie herausgefallen. Weit und breit war von dem kleinen Jungen aber nichts zu sehen. In völliger Verzweiflung rannte das Mädchen um den Wagen herum und suchte die nächste Umgebung ab.
»Das gibt es doch nicht!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Gerade war er doch noch da!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Wo kann er denn sein?« Sie versuchte, die mittlerweile eingetretene Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen.
»Wir müssen deine Eltern verständigen!« Lutz wusste ihr im Augenblick auch nicht anders zu helfen, er hatte das dumpfe Gefühl, dass hier etwas sehr Schlimmes geschehen war. Mathilda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann griff sie zum Handy. Plötzlich kam ihr eine Idee und schlagartig erschien ein zorniger Gesichtsausdruck auf ihrer Miene. Lutz sah sie verwundert an. Sie machte ihm ein abwartendes Zeichen mit der Hand und wählte. Einen Moment später ging offenbar ihre Mutter ans Telefon.
»Hallo Mama, das finde ich überhaupt nicht lustig!« Offenbar kam eine erstaunte Gegenreaktion, denn sie fuhr fort: »Ich war nur ein paar Meter von Fritz entfernt und er hat tief und fest geschlafen. Du kannst ihn doch nicht so einfach mitnehmen, nur um mich zu erschrecken!«
Die jetzige Gegenrede dauerte etwas länger und war so laut, dass Lutz einige Worte verstehen konnte. Mathildas Mutter sprach sehr erregt und machte deutlich klar, dass sie gar nicht wusste, wovon ihre Tochter sprach.
»Mama«, erwiderte das Mädchen wieder völlig betroffen, »Fritz ist nicht mehr da. Der Kinderwagen ist leer.« Schluchzend fuhr sie fort: »Ich kann doch nichts dafür. Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
Die Antwort war kurz und knapp, dann war das Gespräch unterbrochen. Lutz nahm das weinende Mädchen in den Arm. Er war mit dieser Situation völlig überfordert.
»Was wird jetzt?«, fragte er schließlich leise.
»Mama und Papa sind schon auf dem Weg hierher«, gab sie mit zitternder Stimme zurück. »Bleibst du bitte bei mir?«
Lutz war klar, dass es gleich gewaltigen Ärger geben würde. Aber er war kein Feigling. Selbstverständlich würde er Mathilda zur Seite stehen.
Das Auto von Agnes und Willi Hallhuber raste mit Hochgeschwindigkeit die Straße entlang, die zum Kinderspielplatz führte. Als die beiden Scheinwerfer Mathilda aus dem Dunkel schälten, bremste der Wagen ab. Mit laufendem Motor blieb das Auto stehen und die beiden Eheleute stürtzten heraus. Mit einer Mischung aus Zorn und Sorge eilten sie auf Mathilda und Lutz zu.
»Mama, Papa, ich kann wirklich nichts dazu!«, rief ihnen ihre Tochter beschwörend entgegen. »Lutz, mein Freund hier, kann das bestätigen.«
Der Junge nickte zustimmend.
Die Eheleute starrten in den leeren Kinderwagen.
»Mathilda, wie konntest du so unzuverlässig sein und den Kleinen alleine lassen!«, schrie ihre Mutter völlig entnervt. »… und du hast auch nichts Besseres zu tun, als sie von ihren Pflichten abzulenken!«, fauchte sie in Lutz’ Richtung.
Lutz schnappte nach Luft und wollte eine Erklärung abgeben, aber da trat Herr Hallhuber nach vorne, nahm seine Frau in den Arm und bat, sichtlich um Beherrschung bemüht: »Junge, bitte in Kurzform, was ist passiert?«
Sich gegenseitig ergänzend, schilderten Mathilda und Lutz den Ablauf des Abends, wobei sie allerdings in stillem Einverständnis einige intime Details ausließen. Als die beiden verstummten, machte Mathildas Vater eine resignierende Handbewegung. Ohne den Bericht in irgendeiner Form zu kommentieren, erklärte er mit rauer Stimme: »Dann werden wir wohl die Polizei verständigen müssen. Wie es aussieht, wurde unser Fritzchen entführt.« Er griff zum Mobiltelefon.
Während er wählte, kam ein lautes schmerzhaftes Aufheulen von Frau Hallhuber. Zunächst sah es so aus, als würde sie zusammenbrechen, doch dann stürzte sich die Frau schreiend und mit erhobenen Fäusten auf ihre Tochter und trommelte verzweifelt auf sie ein. Mathilda hob schützend ihre Arme über den Kopf, dann flüchtete sie sich in Lutz’ Arme. Der Junge hatte alle Mühe, das Mädchen vor der Attacke ihrer Mutter zu schützen.
Eine Viertelstunde später näherte sich ein Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene. Die beiden Streifenbeamten kamen mit Taschenlampen in den Händen auf die Wartenden zu. Kurz darauf ging ein Funkspruch an die Einsatzzentrale, mit dem die Streifenbeamten die Spezialisten von der Kriminalpolizei anforderten.
Die Entführung von Baby Fritz ging wie ein Lauffeuer durch alle Medien der Bundesrepublik. Die verzweifelten Eltern starteten Aufrufe im Fernsehen und appellierten an die Entführer, sie mögen ihnen doch ihre Forderungen nennen, sie wären bereit alles zu tun, um ihr Kind gesund zurückzubekommen.
Tagelang wurde das Waldstück, wo die Entführung stattgefunden hatte, mit Hunden und Suchketten der Bereitschaftspolizei durchkämmt. Die Telefonleitung der Hallhubers überwachte man mit einer Fangschaltung, falls sich die Entführer meldeten. Parallel wurden das Umfeld von Lutz und auch das Familienleben der Hallhubers durchleuchtet, da man ja nie ausschließen konnte, dass die Eltern in die Sache verstrickt waren. Die eingerichtete Sonderkommission »Baby Fritz« sondierte alle eingehenden Hinweise aus der Bevölkerung, die aber zu keinem Ergebnis führten.
Nach zwei Wochen ließ die Hoffnung, das Kind gesund wiederzufinden, merklich nach. Von den Entführern meldete sich niemand. Mit jedem Tag, der erfolglos verging, wurde den Polizisten immer klarer, dass die Aussicht, das Kind lebend wiederzufinden, immer mehr gegen null tendierte. Alle anderen Ermittlungsansätze verliefen ebenfalls im Sand. Die Sonderkommission wurde zwar noch aufrechterhalten, personell aber stark heruntergefahren. Das Verschwinden von Fritz wurde in die Reihe der Entführungsfälle eingeordnet, die ein Rätsel blieben. Auch die Presse wandte sich aktuelleren Themen zu.