Читать книгу Spessartblues - Günter Huth - Страница 8
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Nein!« Sein heiserer Schrei gellte durch das dunkle Schlafzimmer und riss ihn aus dem schrecklichen Traum. Schwer atmend richtete er sich im Bett auf. Quälend langsam fand er den Weg aus den bedrückenden Bildern in die Realität. Zögernd wischte er sich über die schweißnasse Stirn. Das Oberteil seines Schlafanzugs klebte feucht und unangenehm kalt an seinem Körper. Es dauerte noch einige Sekunden, bis er in die Gegenwart fand.
Simon Kerner setzte die Füße auf den Boden, dabei fiel sein Blick auf die grünlich schimmernde Leuchtanzeige seines Weckers. Kurz nach vier Uhr. Eigentlich hätte er auch ohne diese Information die Uhrzeit bestimmen können. Seit er vor einer Woche von seinem langen Marsch auf dem Jakobsweg zurückgekehrt war, riss ihn der immer gleiche, schwere Alptraum zu dieser nächtlichen Stunde aus dem Schlaf. Ein Phänomen, das erst aufgetreten war, seitdem er wieder in seinem Haus wohnte. Auf der langen, erschöpfenden Pilgerreise hatte er meist tief und traumlos geschlafen. Es war, als hätten die Geister der Vergangenheit hier auf ihn gelauert, um ihn zu quälen.
Langsam erhob er sich und verließ, ohne das Licht anzumachen, barfuß das Schlafzimmer. Erst im Bad drückte er auf den Lichtschalter. Das grelle Licht der Deckenleuchte zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen. Er zog den feuchten Schlafanzug aus und warf ihn auf einen Haufen Schmutzwäsche, der sich in der Ecke neben der Waschmaschine ansammelte, getragene Kleidung von seiner zurückliegenden Reise. Bisher hatte er noch nicht die Energie gefunden, sie in die Waschmaschine zu stecken. Kerner öffnete die Tür der Duschkabine, stellte das Wasser an und trat unter die heißen Wasserstrahlen. Mit geschlossenen Augen ertrug er die Hitze, die seinen Körper langsam von der klebrigen Kälte befreite. Als er es fast nicht mehr ertragen konnte, drehte er die Mischbatterie abrupt auf Kalt. Innerhalb von Sekunden prasselten die eisigen Strahlen wie Nadelstiche auf ihn herab und ließen ihn erschauern. Erst als seine Haut von der Kälte fast gefühllos war, drehte er das Wasser ab und trat aus der Dusche. Dankbar registrierte er, dass der Wasserdampf den Spiegel über dem Waschbecken total beschlagen hatte, so musste er den Anblick seines Gesichts nicht ertragen.
Seit seiner Rückkehr war es ihm noch nicht gelungen, auch nur annähernd in die Normalität seines früheren Lebens zurückzufinden. Als er sein Haus zum ersten Mal wieder betrat, richtete sich die Leere wie eine Mauer vor ihm auf. Alle Gegenstände, die ihm einst so vertraut gewesen waren, strahlten Fremdheit und Kälte aus und stießen ihn von sich. Steffis Aura, die sonst wie eine warme Umarmung in jedem Raum zu spüren gewesen war, fehlte schmerzhaft. An ihre Stelle war ein beängstigendes Vakuum getreten, das ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Verzweifelt war er durch das Haus geirrt, um einen Platz zu finden, wo diese Empfindung etwas erträglicher wurde. Dabei fiel ihm auf, dass er in Gedanken »das« Haus sagte, nicht »sein« Haus. Kerner war seinem Freund Eberhard Brunner sehr dankbar, dass der sich in unregelmäßigen Abständen um das Haus gekümmert hatte. Objektiv betrachtet war alles in Ordnung. Subjektiv fühlte er sich hier wie ein Fremder.
Kerner verließ, eingewickelt in das Handtuch, das Bad, betrat das Schlafzimmer und öffnete seinen Kleiderschrank. Heute war sein erster Arbeitstag. Ohne zu überlegen, griff er sich frische Unterwäsche, Socken, ein dunkelblaues Hemd, einen anthrazitfarbenen Anzug und eine passende Krawatte. Für einen Moment zögerte er, dann legte er die Kleidungsstücke auf das leere Bett neben seiner zerwühlten Zudecke. Steffis Bett. Eberhard hatte die Federdecke und ihr Kissen weggeräumt. Er hatte dies ohne Rücksprache mit ihm getan, um ihm den Schmerz der Berührung mit diesen intimen Dingen zu ersparen. Kerner schüttelte den Kopf, um die Gedanken aus seinem Kopf zu verjagen. Er musste seinen Vorsatz einhalten und loslassen. Während seiner Pilgerreise hatte er sich bei schmerzlichen inneren Kämpfen zu dieser Erkenntnis durchgerungen. Dort hatte ihm auch die räumliche Entfernung von zuhause geholfen. Hier im Haus, wo jeder Kubikzentimeter Raumluft Steffi mit sich trug, begann dieser harte Prozess unter erschwerten Bedingungen von neuem.
Er ließ das Handtuch fallen und zog sich an. Als er den Bund der Anzughose schloss, bemerkte er reichlich Spiel. Auch an seinen anderen Kleidungsstücken war ihm aufgefallen, dass er einige Pfunde abgenommen hatte. Seine Muskulatur war durch die täglichen Anstrengungen der Wanderschaft noch kräftiger geworden, seine Fettreserven aber praktisch aufgebraucht. Er schnallte den Gürtel zwei Loch enger. Vor dem Spiegel band er seine Krawatte, dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare, die ein gutes Stück länger waren, als er sie früher getragen hatte. Letztmals hatte in Spanien ein Dorffrisör Hand an ihn gelegt. An den Schläfen drängten sich, gut sichtbar, die ersten grauen Haare in den Vordergrund. Den langen Bart, der ihm auf der Reise gewachsen war, hatte er schon kurz nach seiner Ankunft abgenommen. Die Stellen in seinem hager gewordenen Gesicht, die wegen Bart und Haaren nicht der Sonne ausgesetzt waren, wirkten gegenüber seiner ansonsten tiefen Bräune bleich und leicht maskenhaft.
Beim Läuten des Telefons im Wohnzimmer zuckte er leicht zusammen. Kerner war dieses Geräusch nicht mehr gewöhnt. Unterwegs hatte er auf jede Art von moderner Kommunikation verzichtet. Nur so konnte er den erforderlichen Abstand zu seinem alten Leben schaffen.
»Hallo Simon«, kam die Stimme von Eberhard Brunner aus dem Hörer, »ich möchte dir für deinen ersten Arbeitstag nochmals alles Gute wünschen. Du hast ja heute erst mal einen Termin beim Landgerichtspräsidenten hier in Würzburg. Wenn du fertig bist, ruf mich an. Wir können uns dann auf einen Kaffee treffen. Du solltest es erst einmal langsam angehen lassen. Sonst ist alles in Ordnung bei dir?«
Sein Freund Eberhard Brunner, der als Leiter der Mordkommission in Würzburg arbeitete, hatte ihn nach seiner Ankunft in Würzburg vom Bahnhof abgeholt und ihn hierher nach Partenstein gefahren. Seitdem hatte er ihn jeden zweiten Tag besucht. Auch gestern wollte er kommen, musste sich dann aber wegen eines dringenden Einsatzes entschuldigen.
»Danke. Schön, dass du anrufst. Ich mache mich gerade fertig. Ich bin etwas angespannt. Kann sein, dass mir der Präsident eine unangenehme Eröffnung macht. Immerhin bin ich ja nach …« Er stockte kurz, dann fuhr er fort: »… den Ereignissen ziemlich fluchtartig aufgebrochen. Im Nachhinein betrachtet, habe ich meine Behörde wohl ziemlich im Stich gelassen.« Kerner verstummte.
»Mach dir keine Vorwürfe! Ein anderer wäre bei diesem Schicksalsschlag, den du ertragen musstest, völlig zusammengebrochen.«
Kerner zuckte mit den Schultern, obwohl Brunner das natürlich nicht sehen konnte. »Vielleicht ist es in meiner Situation das Beste, sich einfach in die Arbeit zu stürzen. Das verdrängt so manchen Gedanken.« Er wechselte das Telefon an das andere Ohr und zwang sich dazu, das Thema zu ändern. »Was habt ihr gestern eigentlich für einen Fall reinbekommen? Einen Mord?« Ihm fiel im Augenblick nichts Besseres ein. Echtes Interesse hatte er, wenn er ehrlich war, im Moment nicht.
»Nein, kein Tötungsdelikt im eigentlichen Sinne. Sieht auf den ersten Blick nach einem Suizid aus. Die Begleitumstände sind aber ziemlich mysteriös. Wir können ja, wenn du willst, später drüber reden.« Auch er wechselte zu einem unverfänglichen Themengebiet.
»Wie bist du eigentlich mit dem Jeep Wrangler zufrieden, den ich für dich angemietet habe? Ich dachte, als Übergangslösung, bis du dir einen neuen fahrbaren Untersatz gekauft hast, ist er doch in Ordnung.«
»Ja, ja, dafür bin ich dir wirklich sehr dankbar. Ich denke aber, ich werde heute erst mal mit dem Motorrad nach Würzburg fahren. Das Wetter passt ja.«
Die beiden Freunde verabschiedeten sich voneinander.
Nach dem Gespräch betrachtete Erster Kriminalhauptkommissar Brunner nachdenklich den Telefonhörer. Er ahnte, warum Simon Kerner heute nicht mit dem Wagen fuhr. Der gemietete Jeep war zwar kein Defender, in dem Kerners Lebensgefährtin Steffi zu Tode gekommen war, aber auch ein Geländewagen und daher für den Freund wahrscheinlich ebenfalls irgendwie belastend.
Simon Kerner faltete sein Anzugjackett sorgfältig zusammen, dann packte er es in eine der beiden Motorradpacktaschen, die im Flur standen. In die andere Tasche verstaute er seine Straßenschuhe. Er schlüpfte in seine Motorradkombi, dann zog er die Stiefel an, der Helm lag neben der Garderobe auf dem Boden. Nachdem er fertig war, warf er sich die Packtaschen über den Arm und ging in die Garage. Einen Augenblick musterte er den dunkelgrünen Jeep, der an der Stelle parkte, wo vor Monaten noch sein schwarzer Defender stand. Nach dem schrecklichen Mordanschlag auf Steffi und ihn war das Fahrzeug nur noch ein Wrack gewesen und Eberhard Brunner hatte es mit seinem Einverständnis, nach Freigabe durch die Spurensicherung, verschrotten lassen. Da war er aber bereits auf dem langen Marsch. Er selbst hätte das sicher nicht fertiggebracht.
Blitzartig und für ihn nicht kontrollierbar, tauchte vor seinem geistigen Auge die schreckliche Szene auf, in der Steffi hinter dem Steuer des Defenders sitzend in seinen Armen gestorben war.
Kerner schlug keuchend mit der Faust gegen die Garagenwand. Der Schmerz vertrieb das Bild und zwang ihn in die Gegenwart zurück. Er schüttelte den Kopf, dann betätigte er die Fernbedienung und das Garagentor öffnete sich. Kerner schnallte die Packtaschen auf dem Motorrad fest, dann hob er es vom Ständer und rollte es auf die Straße hinaus. Das Tor schloss sich hinter ihm. Simon Kerner schwang sich in den Sattel und betätigte den Starter. Ohne Zögern sprang der Motor an. Ein dankbarer Gedanke galt seinem Freund Eberhard, der sich während seiner Abwesenheit auch um das Motorrad gekümmert hatte. Kerner klappte den Windschutz des Helms herunter, legte den Gang ein und gab Gas. Mit etwas gemischten Gefühlen fuhr er in Richtung Würzburg. Er wusste nicht, was ihn erwartete, und er war sich sicher, dass das, was er dem Präsidenten vortragen wollte, bei seinem Vorgesetzten sicher keine Begeisterungsstürme auslösen würde.
In der Tiefgarage des Justizzentrums parkte er sein Motorrad, entledigte sich an Ort und Stelle seiner Motorradkleidung und zog sich das Anzugjackett über. In der Toilette im Parterre des Justizgebäudes warf er einen kurzen Blick auf seine äußere Erscheinung. Nachdem er sich mit dem Kamm noch einmal kurz durch die Haare gefahren war, betrat er den Aufzug und fuhr in das oberste Stockwerk. Er war froh, unterwegs nicht auf irgendwelche Kollegen zu stoßen. Ihm stand im Augenblick der Sinn absolut nicht nach wohlmeinendem Smalltalk. Er war sich absolut sicher, dass jeder Justizmitarbeiter im Hause von seinem Schicksal wusste.
Kerner klopfte kurz an, dann betrat er das Vorzimmer des Präsidenten. Die Sekretärin begrüßte ihn freundlich, wobei ihm nicht entging, dass sie ihn verstohlen, aber gründlich von Kopf bis Fuß musterte.
»Herr Kerner, nehmen Sie doch bitte kurz Platz, der Herr Präsident führt gerade noch ein Telefonat.«
Kerner ließ sich auf einem der Besucherstühle nieder. Es dauerte keine fünf Minuten, dann öffnete sich die Verbindungstür und Präsident Kräuter kam herein. Mit ausgestreckter Hand kam er auf Kerner zu.
»Mein lieber Kerner, es freut mich sehr, Sie gesund und munter wiederzusehen. Seien Sie gegrüßt!« Er schüttelte Simon Kerner, der sich erhoben hatte, kräftig die Hand. »Sie entschuldigen bitte, dass Sie etwas warten mussten.«
»Grüß Gott, Herr Kräuter! Kein Problem.«
Präsident Kräuter ließ Kerner vorgehen und bot ihm einen Platz am Besprechungstisch an. Das Büro hatte eine wahrlich präsidiale Größe und die durchlaufende Fensterfront bot einen bemerkenswerten Ausblick auf die Dächer von Würzburg. Auf dem Tisch standen eine Thermoskanne und ein Tablett mit Kaffeegeschirr. Kerner registrierte sofort drei Gedecke. Offenbar wurde noch eine dritte Person erwartet.
Kräuter griff nach der Thermoskanne und warf Kerner einen fragenden Blick zu. »Sie trinken doch einen Kaffee mit?«
»Gerne«, gab er zurück.
Nachdem ihm der Präsident eingeschenkt hatte, wies er auf das dritte Gedeck. »Ihr Einverständnis vorausgesetzt, werde ich etwas später den Kollegen Rothemund hinzubitten. Aber zunächst einmal möchte ich mich mit Ihnen alleine unterhalten.« Er gab sich etwas Zucker in seine Tasse und rührte gründlich um.
Simon Kerner nickte wortlos. Er nahm einen kleinen Schluck von dem heißen Gebräu, dann wartete er schweigend darauf, dass sein Gegenüber das Gespräch begann. Nachdem er nun wusste, es würde Armin Rothemund, der Leitende Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Würzburg, hinzugezogen werden, erhöhte sich seine innere Anspannung. Rothemund war all die Jahre sein Mentor und Förderer gewesen. Seit den Ereignissen rund um die Ermordung Steffis durch den Wilderer Wolfgang Hasenstamm hatte er mit Rothemund nicht mehr gesprochen.
Der Präsident lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Kerner prüfend in die Augen.
»Herr Kerner, wie geht es Ihnen? … und ich möchte jetzt nicht irgendwelche Allgemeinplätze hören, sondern die Wahrheit.«
Kerner gab den Blick offen zurück. »Es geht mir ausgezeichnet. Die Auszeit und die Pilgerreise haben mir sehr gutgetan. Ich bin bereit, mein Richteramt wiederaufzunehmen.« Er verstummte.
Kräuter atmete tief durch. »Mein Lieber, Sie haben einen dramatischen Verlust erlitten und waren auch selbst in großer Gefahr. Das bleibt nicht so einfach in den Kleidern hängen. Sie haben die Antwort auf meine Frage auf Ihre körperliche Fitness bezogen. Was mich aber mehr interessiert: Wie steht es mit Ihrer seelischen Verfassung?«
Kerner zögerte einen Moment, dann entschloss er sich, mit offenen Karten zu spielen.
»Ich muss das differenziert beantworten. Was meine eigene Bedrohung betraf, habe ich die Erlebnisse ganz gut weggesteckt. In meiner Militärzeit, als Mitglied einer Sondereinheit, war ich häufiger in Lebensgefahr. Da hat man gelernt, damit umzugehen.« Er atmete einmal tief durch. »Was den Verlust meiner Lebensgefährtin betrifft, hatte ich während meiner Reise reichlich Zeit für Trauerarbeit. Auf dieser Wunde hat sich zwar Schorf gebildet, aber sie ist noch lange nicht geschlossen. Aber ich denke, ich sollte mich jetzt wieder in meine Arbeit stürzen. Das wäre für mich wohl die beste Therapie.«
Der Präsident nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich würde es natürlich sehr begrüßen, wenn die Behördenleitung in Gemünden wieder ordnungsgemäß besetzt wäre. Sie wurden zwar vom Kollegen Becker vertreten, aber Sie wissen ja wie das ist. Ein Vertreter trifft kaum wegweisende Entscheidungen. Und das tut einer Behörde und ihrem Personal nicht gut.«
Er erhob sich, trat an seinen Schreibtisch und nahm den Telefonhörer in die Hand.
»Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich jetzt gerne Kollegen Rothemund zu unserem Gespräch hinzuziehen. Er und ich haben uns einige Gedanken zu Ihrer Person und Ihrem weiteren Werdegang gemacht.«
Ohne eine Antwort von Simon Kerner abzuwarten, wählte er eine Nummer. Das Gespräch beinhaltete nur einen knappen Satz, dann legte er wieder auf.
»Einen kleinen Moment, er ist schon auf dem Weg.«
Einen Augenblick später klopfte es an der Tür.
»Der Herr Leitende Oberstaatsanwalt ist da«, erklärte Kräuters Sekretärin und trat zur Seite.
»Er soll bitte hereinkommen!«, bat der Präsident und ging auf die Tür zu, um dem Leitenden Oberstaatsanwalt entgegenzugehen. Kerner erhob sich.
Nachdem Rothemund dem Präsidenten kurz zugenickt hatte, ging er mit ausgestreckten Armen und freudiger Miene auf Kerner zu und nahm ihn kurzerhand in die Arme.
»Lieber Simon, ich freue mich wirklich sehr, dass du wieder zurück bist!« Dies war eine unter Kollegen schon bemerkenswerte Geste der Herzlichkeit. Hier spürte man, dass Rothemund und Kerner über das Berufliche hinaus freundschaftlich verbunden waren. Es tat Kerner gut, zu sehen, dass sich durch die belastenden Geschehnisse der vergangenen Monate an ihrem Verhältnis offenbar nichts geändert hatte. Rothemund war kein Mensch, der ihm etwas vorspielte.
»Wir haben uns ziemlich große Sorgen um dich gemacht!« Rothemund hielt Kerner an beiden Armen ein Stück von sich weg und sah ihm prüfend ins Gesicht. »Ich hoffe, deine Rückkehr ist nicht zu früh. Kollege Kräuter und ich hätten vollstes Verständnis dafür, wenn du noch Zeit benötigst, um in dein altes Leben zurückzukehren.«
Präsident Kräuter nickte zustimmend, dabei lud er die beiden mit einer entsprechenden Geste ein, wieder Platz zu nehmen. Kerner wunderte sich noch immer, dass auch Rothemund bei diesem Gespräch dabei war. Er war zwar mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt befreundet, aber als Direktor des Amtsgerichts Gemünden war der Landgerichtspräsident sein Vorgesetzter und für seinen beruflichen Einsatz zuständig. Eigentlich hatte er Rothemund nach seinem Termin beim Landgerichtspräsidenten aufsuchen wollen. Plötzlich verspürte er eine gewisse innere Anspannung. Er hatte das unbestimmte Gefühl, die beiden wollten ihm »etwas beibringen«.
»Mein lieber Kerner«, ergriff da auch schon wieder der Präsident das Wort, während er Rothemund Kaffee einschenkte, »wir alle wissen, dass Sie in den vergangenen Monaten eine schwere Zeit durchgemacht haben. Der Verlust, den Sie erlitten haben, und die Umstände, die dieses schreckliche Ereignis begleiteten, sind für jeden Menschen nur schwer zu verkraften. Auch für einen Mann wie Sie, der, wie wir wissen, über eine stabile und belastbare Psyche verfügt.«
Rothemund nickte zustimmend. Kerner verhielt sich weiterhin abwartend. Kräuter ließ einige Sekunden verstreichen, dann fuhr er fort: »Es war gut und richtig, sich einige Zeit für die notwendige Trauerarbeit und die innere Auseinandersetzung mit den Geschehnissen zurückzuziehen. Sicher steht Ihrer Rückkehr zu Ihrer ursprünglichen Tätigkeit in Gemünden prinzipiell nichts entgegen.«
Er atmete einmal tief durch. Man konnte erkennen, dass er jetzt zu dem großen ABER ansetzte.
»Diese Problematik, lieber Kerner, hat aber auch eine faktische Seite, die durchaus von großem Gewicht ist und die ich als Präsident dieser Behörde nicht außer Betracht lassen darf. Der Fall Hasenstamm und die Zerschlagung der islamistischen Terrorzelle, in die Sie intensiv involviert waren, hat in der regionalen und selbstverständlich in der überregionalen Presse hohe Wellen geschlagen. Wogen, die wir zwar glätten konnten, nichtsdestoweniger gab es Pressevertreter, die bohrende Fragen stellten. Auch im Kollegenkreis gab es kritische Stimmen, um dies einmal zurückhaltend zu formulieren. Wie Sie wissen, hat die in diesem Fall zuständige Staatsanwaltschaft Schweinfurt gegen sie ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, in dem überprüft wurde, ob sie tatsächlich in Notwehr gehandelt haben.«
»Wie du weißt«, meldete sich Rothemund zu Wort, »ein in solchen Fällen übliches Routinevorgehen, da ich als Leiter der Würzburger Staatsanwaltschaft die Zuständigkeit nach Schweinfurt abgegeben habe, da man den Eindruck der Befangenheit vermeiden musste.«
Der Präsident nickte. »Nach Auswertung der gesamten Fakten wurde dieses Verfahren eingestellt. Sie haben nicht rechtswidrig gehandelt. Ein Disziplinarverfahren durch mich erübrigt sich damit auch. Sie haben also nach wie vor eine weiße Weste und könnten beruflich dort anknüpfen, wo Sie vor den schlimmen Ereignissen standen.«
Er lehnte sich zurück, griff die Kaffeetasse und nahm einen kräftigen Schluck. Kerner warf Rothemund einen Blick zu. Der Leitende Oberstaatsanwalt betrachtete angelegentlich seine Fingernägel.
»Lieber Kerner«, nahm der Präsident seinen Gesprächsfaden wieder auf, »Sie sind ein alter Hase und wissen, dass ein juristischer Freispruch nicht gleichbedeutend ist mit der Rehabilitation in der Öffentlichkeit. Meine berufliche Erfahrung sagt mir, dass ein dem Anschein nach angeschlagener Richter bei der Ausübung seines Amtes in der Bevölkerung Akzeptanzprobleme haben könnte. Es gibt hierfür Präzedenzfälle.« Der Präsident beugte sich nach vorne und legte beide Handflächen auf den Tisch. »Kollege Rothemund und ich haben uns daher darauf geeinigt, Sie noch einige Zeit aus der Schusslinie zu nehmen. Sie sind für uns menschlich und fachlich viel zu wertvoll, um Sie dort draußen möglicherweise beschädigen zu lassen.«
Der Leitende Oberstaatsanwalt hob den Blick und ergriff das Wort. Kerner war mittlerweile klar, dass er hier Mitwirkender einer abgesprochenen Inszenierung war. Wie er diese einordnen sollte, war ihm noch nicht ganz klar.
»Lieber Simon, bevor du als Behördenleiter nach Gemünden gegangen bist, haben wir ja über deine Karrieremöglichkeiten gesprochen. Damals wollte ich dich aus dem Fokus der Öffentlichkeit haben, weil deine erfolgreichen Ermittlungen gegen die Mafia hohe Wellen schlugen. Ich wollte dich als meinen Nachfolger aufbauen, wenn ich mich einmal auf eine andere Position bewerben würde. Leider ist die Umsetzung dieser Planungen durch die gegebenen Umstände nicht gerade leichter geworden. Du kennst das System. In der augenblicklichen Situation ist es für dich aus taktischen Gründen sicher besser, erneut eine Weile aus dem Blick der Öffentlichkeit zu verschwinden, bis die Medien Ruhe geben.«
Rothemund trank einen Schluck, dann fuhr er fort: »Simon, der Präsident und ich sind der Auffassung, dass es wohl klug wäre, wenn du für einige Zeit in die zweite Reihe zurücktreten würdest, bis ausreichend Gras über die Geschichte gewachsen ist. Wir möchten dir daher folgenden Vorschlag machen: Du ziehst dich so bald wie möglich aus Gemünden zurück. In meiner Behörde wird demnächst die Position eines Oberstaatsanwalts frei. Bewirb dich darauf. Herr Kräuter und ich werden alles dransetzen, dass du diese Stelle auch bekommst. Bei deinen Qualifikationen dürfte es nur wenige geben, die dir im Ranking vorausgehen. Du wärst damit zwar wieder in der gleichen Position wie vor deiner Versetzung nach Gemünden, aber meine Karrierepläne haben sich auch verschoben. Ich werde somit noch einige Zeit als Leitender Oberstaatsanwalt in Würzburg bleiben. Irgendwann steht dann wieder die Frage meiner Nachfolge an, dann kann man neu darüber nachdenken. Du verstehst, was ich meine?«
»Ich glaube schon.« Simon Kerner war natürlich klar, was ihm Rothemund mehr oder weniger deutlich klarmachen wollte. Bedeutungsvoll war dabei, dass dieses Gespräch von Kräuter und Rothemund gemeinsam geführt wurde. Kerner war sich absolut sicher, dass die Brücke, welche die beiden Herren ihm da bauten, mit Sicherheit mit den obersten Dienstbehörden abgesprochen war.
Präsident Kräuter interpretierte Kerners nachdenkliche Miene offenbar als mögliche Ablehnung, denn er ergänzte sehr eindringlich: »Herr Kerner, was wir Ihnen soeben vorgetragen haben, ist eine wohlmeinende Empfehlung. Sie sollten sie ernsthaft in Erwägung ziehen. Es liegt uns sehr daran, dass Sie nicht irreparabel beschädigt werden. Wir erwarten von Ihnen natürlich keine sofortige Entscheidung. Fahren Sie jetzt erst mal an das Amtsgericht Gemünden zurück und lassen Sie sich die Angelegenheit in Ruhe und ernsthaft durch den Kopf gehen. In vierzehn Tagen hätte ich aber gerne von Ihnen eine Antwort.« Er atmete tief durch, dann fuhr er, ehe Kerner etwas sagen konnte, fort: »Da gibt es noch etwas, was Sie wissen müssen. Wie Sie sich denken können, hat es in Gemünden durch Ihre Abwesenheit einen gewissen Erledigungsstau bei den Strafverfahren gegeben. Ich habe deshalb die Abordnung eines weiteren Richters nach Gemünden durchgesetzt. Es handelt sich um einen Kollegen namens Christian Hansen, der aus persönlichen Gründen von Niedersachsen nach Bayern wechselt. Er wird in drei Tagen seinen Dienst in Gemünden antreten. Es ist zwar seine erste Richterstelle in Bayern, aber nach seinen ganz ausgezeichneten Beurteilungen in seiner Personalakte hat er bereits Erfahrungen als Schöffenrichter. Ich schlage daher vor, dass er Schritt für Schritt Ihr Richterreferat übernimmt. Selbstverständlich bleiben Sie der Chef dieser Behörde.«
Er verstummte. Die beiden Herren sahen Kerner mit ernsten Mienen an. Er wusste, dass er jetzt etwas sagen musste. Der ausgeklügelte Vorschlag hatte ihn natürlich völlig überrascht. Er war jedoch Realist genug, um zu wissen, dass die Argumente der beiden Männer durchaus fundiert waren. Auch die Mitteilung, dass ein weiterer Richter nach Gemünden abgeordnet worden war, um ihn zu entlasten, war schon ein weitreichender Schritt, der ihm eine Ablehnung des Vorschlags der beiden Männer fast unmöglich machte. Kerner atmete einmal tief durch.
»Herr Präsident, lieber Armin, von der Fürsorge, die Ihren Worten zu entnehmen ist, bin ich tief beeindruckt. Ich kann Ihre Sorge um das Ansehen der Justiz sehr gut verstehen und auch mir liegt viel daran, die Rechtsprechung beim Amtsgericht Gemünden aus der Sicht der Bürger nicht negativ zu belasten. Sie können mir glauben, auch ich habe mir in den letzten Wochen viele Gedanken darüber gemacht, wie mein privates und auch berufliches Leben weitergehen soll. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich mit dem Tod meiner Lebensgefährtin einigermaßen umgehen kann. Ich denke aber, Arbeit als Therapie ist nicht die schlechteste Lösung. Ich danke Ihnen wirklich sehr für Ihr Verständnis. Es ist mir klar, dass ich mich zeitnah privat und dienstlich neu sortieren muss. Dabei werde ich Ihr Angebot ernsthaft in Erwägung ziehen.«
Der Präsident und der Leitende Oberstaatsanwalt nickten verständnisvoll.
»Herr Kerner, lassen Sie sich unseren Vorschlag in Ruhe durch den Kopf gehen. Wenn Sie uns in zwei Wochen Bescheid geben, ist das in Ordnung. Aber bitte nicht länger, da im Falle Ihrer Zusage die Justizverwaltung Ihre Nachfolge in Gemünden regeln muss. Das werden sie sicher verstehen.«
Der Präsident erhob sich, womit er klarstellte, dass dieses Gespräch für ihn damit beendet war. Auch Rothemund stand auf. Er und Kerner verabschiedeten sich von Kräuter. Draußen auf dem Flur standen die beiden noch einen Augenblick zusammen.
»Simon, bitte tu dir den Gefallen und folge unserem Vorschlag. Präsident Kräuter hat es nicht so deutlich ausgeführt, aber die Ereignisse um den Tod Hasenstamms haben ziemlich hohe Wellen geschlagen. Unser Angebot wäre für dich die Chance für einen wirklichen beruflichen und vielleicht auch privaten Neubeginn. Du weißt, in meiner Person findest du immer einen verständnisvollen Ansprechpartner.«
Kerner bedankte sich bei Rothemund und die beiden verabschiedeten sich voneinander. Simon Kerner verließ das Justizzentrum und schlenderte in Richtung Innenstadt. Sein Motorrad ließ er zunächst in der Tiefgarage zurück. Er musste das Gehörte jetzt erst einmal etwas verdauen.
Am Residenzplatz er blieb stehen und warf einen kurzen Blick auf sein Smartphone. Vor dem Gespräch hatte er es lautlos gestellt. Wie er feststellte, war von Eberhard Brunner eine WhatsApp-Nachricht eingegangen. Der Freund teilte ihm darin mit, dass er wegen eines dringenden dienstlichen Falles nicht zu einem Treffen in der Lage war. »Ich werde dich heute Abend mal anrufen«, schloss die Mitteilung.
Simon Kerner überlegte einen Augenblick, dann marschierte er in die Innenstadt und setzte sich ins Café Michel am Oberen Markt. Nachdenklich blickte er aus der oberen Etage auf die Menschen hinunter, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Zu viel ging ihm im Kopf herum. Mittlerweile war ihm klar, dass das Vorgehen des Präsidenten in Abstimmung mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt ein wohl überlegter Schachzug war, der einerseits die Interessen der Justiz berücksichtigte, andererseits aber auch seine Zukunftsmöglichkeiten nicht verbaute. Da die Abordnung eines weiteren Richters nach Gemünden bereits beschlossene Sache war, konnte er dem Vorschlag der beiden Männer eigentlich gar nicht mehr widersprechen. Wenig später zahlte er und brach auf. Er holte sein Motorrad aus der Tiefgarage des Justizzentrums und machte sich auf den Weg. Kurz nach 13:00 Uhr traf er beim Amtsgericht in Gemünden ein. Es war ein eigentümliches Gefühl, nach längerer Zeit wieder die Schwelle des Gerichts zu überschreiten.
Als er wenig später sein Dienstzimmer durch einen separaten Eingang betrat, huschte ein berührtes Lächeln über sein Gesicht. Auf seinem Besprechungstisch stand ein frischer Blumenstrauß und auf dem Schreibtisch wartete wie gewohnt eine Thermoskanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee auf ihn. Einige Sekunden später klopfte es an seine Tür. Auf sein »Herein« kam Frau Huber, seine Sekretärin, mit einem strahlenden Lächeln herein und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
»Lieber Herr Kerner, herzlich willkommen! Ich bin sehr froh … wir sind sehr froh, dass Sie wieder hier sind.« Ihr versagte die Stimme. Kerner konnte ihren in Augenwinkeln eine verräterische Feuchtigkeit erkennen, die ihn berührte. Frau Huber war sonst sehr zurückhaltend und zeigte ihre Emotionen nur in Ausnahmefällen.
»Vielen lieben Dank für den herzlichen Empfang und die Blumen. Ich freue mich auch, wieder hier zu sein. Wir können uns ja später noch unterhalten. Jetzt stürzen wir uns erst mal ins Gewühle. Rufen Sie bitte meinen Stellvertreter an und bitten Sie ihn zu einem Übergabegespräch zu mir.«
»Wird umgehend erledigt«, erklärte Frau Huber und verließ geschäftig das Dienstzimmer. Kerner trat an die Fensterfront, von der aus er einen freien Blick auf die Hänge der Spessarthöhen jenseits des Mains hatte. Für einige Sekunden hatte er einen Flashback und wähnte sich versetzt ins dämmerige Licht der hohen Bäume. Tiefe Schatten verbargen Gefahren. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Mit einer heftigen Bewegung schüttelte er den bedrückenden Moment von sich ab. Hastig wandte er sich um und ließ sich hinter seinem Schreibtisch in den Bürosessel fallen. Er sehnte richtig herbei, dass der Alltag ihn mit all seinen Trivialitäten wieder in Beschlag nahm und seine Gefühle betäubte. Es klopfte. Sein Wunsch ging umgehend in Erfüllung. Der Alltag in Form von Andreas Becker, seinem Stellvertreter, trat ein und drückte ihm zur Begrüßung herzlich die Hand.