Читать книгу Spessartblues - Günter Huth - Страница 7

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Es war fast fünf Uhr morgens. Jetzt im Frühling würde es noch gut zwei Stunden dauern, bis die Sonne aufging. Der Mann parkte den dunkelgrauen Mercedes auf der Stellfläche vor seiner Garage, da er um diese Uhrzeit keinen unnötigen Lärm veranstalten wollte. Die Tür drückte er mit einer energischen Bewegung des Knies zu. Fast lautlos rastete das Schloss des Oberklassenfahrzeugs ein. Die Begrenzungsleuchten des Wagens blinkten mehrmals hektisch auf, als er mit der Fernbedienung abschloss.

Den dunkelfarbenen Renault Kangoo auf einem Stellplatz zwischen zwei frisch gepflanzten Kastanienbäumen am Rande der neu gebauten Straße, ein Stück von seinem Haus entfernt, bemerkte er nicht. Diese Straße durchlief das Würzburger Neubaugebiet Am Hubland, ehemals Gelände der US-Armee, und sollte nach den Vorstellungen der Städteplaner zukünftig beiderseits von Einfamilien- und Reihenhäusern gesäumt werden. Im Augenblick gab es noch zahlreiche verwilderte Baulücken, die, aber schon mit farbigen Vermessungspflöcken versehen, die geplanten Parzellierungen erkennen ließen.

Der Mann, eine Sporttasche schlenkernd, näherte sich lockeren Schrittes dem Einfamilienhaus, das zu beiden Seiten durch jeweils drei leerstehende Bauplätze von den nächstliegenden fertiggestellten und bewohnten Häusern getrennt war. Er verzog verärgert das Gesicht, als eine der Steinplatten des Weges unter seinen Füßen leicht wackelte. Gleich morgen früh würde er die Firma anrufen und den Mangel reklamieren.

Das Haus lag in völliger Dunkelheit, da eine tiefhängende Wolkendecke das Mondlicht verfinsterte und eine flächendeckende Straßenbeleuchtung hier erst im Entstehen war. Seine Frau Eleonore und seine beiden Kinder, Silva, ein Mädchen von zehn Jahren, und der zwölfjährige Max, schliefen sicher tief und fest im oberen Stockwerk, wo sich die Schlafräume befanden. Sie wähnten den Ehemann und Vater im Klinikum bei der Arbeit als Oberarzt. Um seine Familie nicht zu stören, würde er sich jetzt in seinem Arbeitszimmer im unteren Stockwerk auf einer Couch zur Ruhe legen. Dies war wegen seiner unregelmäßigen Dienste eine durchaus gängige Praxis, mit der sich seine Frau schon lange abgefunden hatte.

Gerade als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, überkam ihn unvermutet das bedrohliche Gefühl körperlicher Nähe. Ehe er reagieren konnte, fühlte er an seinem Hals eine kalte Berührung, dann fuhr ein heftiger Stromschlag durch seinen Körper, der alle seine Muskeln verkrampfen ließ und ihm die Sinne raubte. Wie ein gefällter Baum kippte er um. Ehe er den Boden berührte, wurde er von zwei starken Armen aufgefangen. Der hochgewachsene Mann, der sich ihm völlig unbemerkt genähert hatte, ließ sein Opfer langsam auf die Betonplatten sinken. Er holte eine aufgezogene Spritze aus der Brusttasche seines schwarzen Jogginganzugs, dann schob er den Hemdärmel seines Opfers in die Höhe und stach die Nadel routiniert in die Muskulatur. Zügig injizierte er das schnell wirkende Betäubungsmittel. Anschließend schob er die Nadel wieder in ihre schützende Hülle und steckte die Spritze ein. Noch immer über den liegenden Mann gebeugt, prüften seine Augen zum wiederholten Male die Umgebung. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig hob er den erschlafften Körper des Mannes in die Höhe. Obwohl er ausgesprochen kräftig war und sein Opfer kaum Übergewicht hatte, kündete ein leises Ächzen von der körperlichen Anstrengung, als er sich den Mann mit Schwung über die Schulter wuchtete. Mit der freien Hand schnappte er sich seine Sporttasche und eilte mit kurzen, schnellen Schritten zum Kastenwagen. Dort verfrachtete er sein betäubtes Opfer auf die Ladefläche, die mit einer Plastikplane ausgekleidet war. Mit wenigen Handgriffen warf er einige Decken über den Körper, dann schloss er leise die Türe. Nach seiner Berechnung genügte die verabreichte Dosis für eine ausreichend lange Betäubung. Während er sich hinter das Steuer schob, bewegte er seine Schultern und den Kopf in kleinen kreisenden Bewegungen, um die vom Tragen angestrengte Muskulatur zu lockern. Einen Moment später lenkte er den Renault aus der Parklücke. Erst gute hundert Meter von dem Haus entfernt schaltete er das Fahrlicht ein.

Das Erwachen war wie das Auftauchen aus einem tiefen, schweren Traum. Beim Versuch, die Augen zu öffnen, stach ihm gleißendes Licht wie Dolchspitzen in die Augen. Blitzschnell schloss er sie wieder, bis er es einen Moment später erneut versuchte. Die Helligkeit kam von mehreren Leuchtstoffröhren, die über ihm an der Decke befestigt waren. Er lag flach auf einem glatten, kalten Untergrund. Als Nächstes registrierte er seine vollständige Nacktheit. Beim Versuch, sich aufzurichten, bemerkte er mehrere breite Kunststoffriemen, die über seinem Oberkörper verliefen und ihn an Ort und Stelle fixierten. Die ebenfalls festgeschnallten Arme lagen seitlich ausgestreckt auf einer Liege. Er hob seinen Kopf, soweit es ging. Sein Blick huschte irritiert durch einen völlig weiß gefliesten Raum. Mit Entsetzen registrierte er seine gespreizten Beine, die an die Beinhalterungen eines gynäkologischen Stuhls geschnallt waren. Jetzt erst nahm er auch die Kühle seiner Umgebung war. Ein eiskalter Schauer fuhr durch seinen Körper und vertrieb den letzten Rest des Betäubungsmittels aus seinem Kopf. Stattdessen wurde er von Furcht ergriffen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich derart ausgeliefert gefühlt. In seiner Welt war er es, der über das Schicksal anderer Menschen entschied. Seine Augen erfassten jedes Detail dieses Raumes, der ihn in seiner sterilen Ausstrahlung in frappierender Weise an einen der Operationssäle erinnerte, in denen er tagtäglich arbeitete. Erstaunlicherweise beruhigte ihn dies aber nicht, eher im Gegenteil. Bevor er sich so weit gefasst hatte, dass er seine gegenwärtige Lage halbwegs rational analysieren konnte, öffnete sich zu seinen Füßen an der Schmalseite des Raumes eine Tür. Ein hochgewachsener Mann trat ein, der vollständig mit einem weißen Schutzoverall bekleidet war, der die Konturen seines Körpers verwischte. Sein Kopf verschwand unter einer gleichfarbigen Haube, die nur zwei Öffnungen für die Augen besaß. Seine Hände steckten in Gummihandschuhen, seine Schuhe in Überziehern, die er ebenfalls aus dem OP-Saal kannte. Langsam kam der Mann näher und musterte wortlos seinen Gefangenen mit dem abschätzenden Blick eines Henkers, der den Delinquenten daraufhin begutachtete, was er ihm zumuten konnte.

Der Mann auf dem Stuhl hielt es nicht länger aus. Mit einer rauen Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte, stieß er hervor: »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Was soll das alles?« Er zerrte heftig an den Bändern.

Wortlos umkreiste der Vermummte den Stuhl. Verkrampft folgte ihm der Gefangene mit den Augen.

»Sie sind Privatdozent Dr. Philipp Lohneis?«, kam die kräftige Stimme des Mannes etwas gedämpft unter der Maske hervor.

Der Gefangene war von dieser sachlichen, emotionslosen Frage so überrascht, dass er nur zustimmend nicken konnte.

»Wenn Sie meine Fragen bitte laut beantworten. Unser Gespräch wird aufgezeichnet und ich möchte nicht, dass es irgendwann zu Irritationen kommt. – Also, noch einmal: Sie sind Privatdozent Dr. Philipp Lohneis? Oberarzt der kinderchirurgischen Abteilung der Uni-Klinik Würzburg?«

»Das ist richtig«, gab Lohneis nunmehr vernehmlich zurück. »Aber warum wollen Sie das wissen? Und weswegen liege ich hier nackt festgeschnallt auf diesem Stuhl?« Zur Unterstreichung seiner Worte riss er wieder heftig an den Fesseln. Zorn begann seine Furcht zu überdecken.

»Sie sind hier wegen Anni Neugebauer. Neun Jahre alt, blond, mit blauen Augen. Sie kennen Anni Neugebauer!«

»Eine Patientin mit diesem Namen ist mir unbekannt!«, kam es unerwartet heftig von Lohneis.

»Anni Neugebauer war nie Ihre Patientin.« Er äußerte dies mit der gleichen Ruhe und Gelassenheit wie seine Sätze davor. »Sagen Sie mir, wo Sie mit ihr zusammengekommen sind.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen! Binden Sie mich endlich los!« Wieder riss er an seinen Fesseln.

Der Maskierte reagierte nicht darauf, vielmehr drehte er sich herum und verließ den Raum. Der Gefangene erstarrte und blickte ihm wie paralysiert hinterher. Eine schreckliche Furcht lähmte plötzlich seinen Verstand. Nach einer Weile kam der Mann zurück. Er trug einen länglichen Gegenstand in seiner Hand, den der Mediziner nicht gleich identifizieren konnte. Plötzlich drang ein schwer beschreibbarer Geruch an seine Nase, der ihm aber irgendwie bekannt vorkam. Schlagartig kam ihm die Erkenntnis! Es war der Geruch, der im OP entstand, wenn ein Kauter, ein elektrisch erhitzbares Operationsinstrument zum Einsatz kam, mit dem man beispielsweise Blutungen stillen konnte.

Mit schreckensweit geöffneten Augen fühlte er auf seiner Haut die starke Hitze, die von dem Gegenstand ausging, als sein Peiniger sich zwischen seine gespreizten Beine stellte.

»Sagen Sie mir, wo Sie das Kind getroffen haben, dann werde ich Sie vorher betäuben.«

Als Lohneis das Brandeisen erkannte, begann er unartikuliert zu schreien. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, würgte er hervor. »Sie sind ja völlig wahnsinnig!«

»Wie Sie wollen«, erwiderte der Mann mit großer Ruhe, dann zielte er mit dem glühenden Eisen, das er mit beiden Händen an einem Holzgriff hielt, auf den Bauch dicht unterhalb des Bauchnabels. Lohneis kämpfte wie ein Rasender gegen seine Fesseln, die ihn unbarmherzig fixierten. Mit einer entschlossenen Bewegung drückte der Mann das heiße Metall fest auf den Unterbauch des Gefangenen. Es zischte und beißender, stinkender Qualm stieg auf. Nach drei Sekunden nahm er das Eisen wieder weg. Das nicht mehr enden wollende, unmenschliche Gebrüll des gemarterten Mannes schallte schaurig von den gefliesten Wänden wider. Nach einem letzten Aufbäumen sackte Lohneis in sich zusammen. Eine gnädige Ohnmacht nahm ihm für den Augenblick den Schmerz.

Der Vermummte legte das Brandeisen in ein Handwaschbecken mit Wasser. Zischend und dampfend kühlte es ab. Dann trat er an sein Opfer heran und musterte ohne Gefühlsregung das Ergebnis seiner Tat. Die Brandwunden hoben sich wulstartig von der Haut ab. Deutlich war das aufgeplatzte, blanke Fleisch sichtbar. Sie würden später gut sichtbare Narben abgeben, wodurch die Botschaft für immer gut lesbar sein würde. Er trat neben den Gefesselten und schlug ihm auf die Wangen. Es war noch nicht zu Ende. Auch den zweiten Akt sollte der Mann bei vollem Bewusstsein mitbekommen. Wenig später flatterten Lohneis’ Augenlider und er kam zu sich. Sofort schoss der überwältigende Schmerz durch seinen Körper und ein gequältes Stöhnen kam aus seinem Mund.

Sein Peiniger wartete noch einen kurzen Moment, bis er sicher sein konnte, dass sein Gefangener seine weiteren Handlungen voll zur Kenntnis nahm, dann ging er zu dem Tisch mit den aufgereihten Instrumenten. Gezielt wählte er ein bestimmtes aus, dann trat er erneut zwischen die Beine seines Opfers und machte sich ans Werk. Wieder wurden die kalten Wände Zeugen der Grausamkeit des Täters.

Kurz vor Ende der Nachtschicht wurde die diensthabende Krankenschwester durch heftiges Klingeln am Eingang der Notfallambulanz des Missionsärztlichen Klinikums in Würzburg aufgeschreckt. Sie eilte zur Gegensprechanlage und meldete sich, erhielt aber keine Antwort. Etwas verärgert, weil sie wieder einmal auf die geistlose Aktion eines Betrunkenen tippte, eilte sie zum Eingang und öffnete per Knopfdruck die Doppeltür. Kaum waren die Türflügel aufgeschwungen, erkannte sie draußen einen am Boden liegenden nackten Mann. Sie eilte zu ihm und war sich nach einem kurzen Blick sofort darüber im Klaren, dass sich der Ärmste in einem lebensgefährlichen Zustand befand. Hektisch alarmierte sie eine Kollegin und den diensthabenden Arzt.

Das Überwinden der Schwerkraft seiner Augenlider kostete ihn enorme Kraft. Er hatte das Gefühl, dass Tonnengewichte an ihnen hängen würden. Obwohl im Raum nur ein schwaches Dämmerlicht herrschte, erschien es ihm, als würde durch die dünnen Schlitze seiner fast geschlossenen Lider gleißendes Scheinwerferlicht dringen. Nur träge setzte sein Verstand wieder ein und ließ ihn einige Gegenstände in seiner Umgebung schemenhaft erfassen.

Nachdem sich seine Augen halbwegs an das Licht gewöhnt hatten, öffnete er sie ganz. Seinen Empfindungen und seinem Wahrnehmungsvermögen nach befand er sich in einem Zustand wie nach dem Erwachen aus einem tiefen Schlaf. Im Zeitlupentempo bewegte er seinen Kopf und versuchte den gesamten Raum zu erfassen. Er erkannte, dass er von medizinischen Geräten umgeben war. Sein Blickfeld ermöglichte ihm die Wahrnehmung einer Glaswand, hinter der ebenfalls Licht, helleres Licht, brannte. Jetzt hörte er auch Geräusche. Es war das fast schon melodisch zu nennende Zusammenspiel verschiedener Tonquellen. Von einem Augenblick auf den anderen wusste er, dass es sich um Maschinengeräusche von Computern handelte, die seine vitalen Funktionen überwachten.

Nur mühsam lichtete sich der Nebel um seinen Verstand, ohne jedoch vollständig zu weichen. Einen Augenblick später überraschte ihn die Erkenntnis. Plötzlich erkannte er, diese Umgebung war fester Bestandteil seines Lebens. Sein Beruf war es, zu wissen, wie diese Geräte funktionierten und einzusetzen waren. Aber irgendetwas schien an der gegenwärtigen Situation total falsch! Es war für ihn nicht normal, diese Dinge passiv zu erleben, gewissermaßen als Konsument, denn er war Arzt!

Als er seine Hand heben wollte, um sich über das Gesicht zu fahren, stellte er fest, dass dies nicht möglich war. Der dadurch ausgelöste Impuls riss die letzten Nebelfetzen zur Seite. Wie eine riesige Tsunamiwoge fegte die grausame Erkenntnis über ihn hinweg und hinterließ blankes Entsetzen. Der Schock war so stark, dass er sekundenlang glaubte, sein Herz würde explodieren. Er zerrte heftig an den Fixierungen, wodurch einige der Apparate Alarm auslösten. Gleichzeitig schickte sein malträtierter Körper Schmerzen in sein Gehirn, was ihn zu einem verzweifelten Schrei veranlasste.

Ein fremdes Gesicht trat in sein Blickfeld, dessen Mund Worte formte, die ihn jedoch nicht erreichten. Sekunden später bemächtigte sich wieder der Nebel seines Verstandes und mit ihm kam gnädige Ohnmacht, die jede Art von Selbsterkenntnis auslöschte.

Der Leiter der Intensivstation nahm die Hand von dem Knopf, mit dem er gerade am Tropf die Dosis des Medikaments, mit dem er den schwer traumatisierten Patienten sedierte, deutlich heraufgesetzt hatte. Mit Sorge blickte er auf den Mann herab, dem man Verletzungen von einer Grausamkeit zugefügt hatte, wie er sie in seiner gesamten beruflichen Laufbahn als Chefarzt noch nie gesehen hatte. Sicher würde der Patient bei entsprechender Behandlung gute Chancen haben, körperlich zu genesen. Eine ganz andere Frage war die Psyche. Deshalb und wegen der massiven Schmerzen, die bei diesen Verletzungen auftraten, hatte die Ärztekonferenz des Klinikums beschlossen, den Patienten einige Zeit in ein künstliches Koma zu versetzen. Eigentlich hätte er, wie gerade geschehen, noch gar nicht erwachen dürfen. Wahrscheinlich war die Dosis des Betäubungsmittels zu schwach gewählt worden. Der Arzt wartete einen Moment, bis er sicher sein konnte, dass der Patient diesmal tief und fest schlief, dann verließ er das Zimmer. Auf ihn wartete ein Gespräch mit einem Beamten der Mordkommission. Die Verwaltung des Klinikums hatte wegen der Art der Verletzungen und der Umstände, die das Eintreffen des Patienten in der Notaufnahme begleiteten, sofort die Polizei verständigt. Er würde den Beamten enttäuschen müssen, denn an eine Vernehmung des Verletzten war in der nächsten Zeit nicht zu denken. Die Polizei musste versuchen, die Identität des unbekannten Mannes ohne dessen Mithilfe zu ermitteln.

Nach weiteren zehn Tagen veranlassten die Ärzte ein erneutes kontrolliertes Aufwachen. Mühsam, als müsse er eine Tonne bewegen, hob er seinen Kopf ein wenig an und musterte seine nächste Umgebung. Schnell erkannte er, dass er sich in einem Bett auf einer Intensivstation befand. Erneut kam die schreckliche Erinnerung. Diesmal war seine Reaktion weniger heftig. Der Arzt erklärte ihm, dass sich sein Zustand stabilisiert und seine Wunden zu heilen begonnen hätten. Fragen zu seiner Identität beantwortete er nicht. Auf sein Drängen hin klärte ihn der Chefarzt schließlich über seinen Gesamtzustand auf. Der Schock war so schlimm, dass man ihn nochmals für einige Tage sedieren musste.

Als man ihn wieder aufwachen ließ, eröffnete ihm der Arzt, dass er die Polizei darüber informieren musste, dass er nun vernehmungsfähig war. Obwohl alle Mitarbeiter darüber rätselten, welche schrecklichen Hintergründe seine Verletzungen hatten, sprach ihn keiner darauf an. Eine Woche später wurde er in ein Einzelzimmer auf die Normalstation verlegt.

Die Nachtschwester versorgte den Mann ohne Namen mit einer gewissen Scheu. Was nicht zuletzt daran lag, dass er kaum sprach. Auch gegenüber dem Kriminalbeamten, der ihn schließlich aufsuchte, äußerte er sich nicht. Schweigend lag er Tag für Tag in seinem Bett und starrte zum Fenster hinaus. Er verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme und trank nur wenig. Schließlich versorgte man ihn über einen Zugang mit einer Nährlösung.

Um ein Uhr machte die Nachtschwester eine ihrer Runden. Sie sah auch nach dem unbekannten Patienten, fragte ihn, ob er Wünsche habe, ob er ein zusätzliches Schmerzmittel wolle oder eine medikamentöse Einschlafhilfe benötige. Auf alle ihre Fragen erntete sie nur Schweigen. Schließlich resignierte sie, machte ihn, wie jede Nacht, darauf aufmerksam, dass sie jederzeit in Rufbereitschaft sei und verließ das Krankenzimmer. Bis zur nächsten Runde würde nun einige Zeit vergehen. Sie eilte in das Schwesternzimmer und tätigte verschiedene Eintragungen in die Patientenakten. Dieser spezielle Patient mit seinen eine eindeutige Sprache sprechenden Verletzungen nötigte dem gesamten Pflegepersonal viel ab, was sie und ihre Kollegen nur dank großer Professionalität meistern konnten.

Der Patient ließ einige Zeit verstreichen, dann warf er die Bettdecke zur Seite und schob langsam seine Beine über den Bettrand, bis er zum Sitzen kam. Mit zwei Handgriffen schaltete er das Gerät ab, das ihn noch immer überwachte. Der Monitor verdunkelte sich. Mit kundigen Bewegungen befreite er seinen linken Handrücken von der Infusionsnadel. Sofort verstärkten sich die Schmerzen, die im Liegen durch die Medikamente nur gedämpft zu spüren waren. Besonders die Brandwunde am Bauch ließ ihn aufstöhnen.

Der Schmerz erinnerte ihn an die Tortur, der ihn der Unbekannte unterzogen hatte. Zu Recht, wie er sich in den vielen Stunden des Leidens letztlich eingestanden hatte. Ihm war klar, der Mann hatte mit seinen Handlungen seine gesamte bürgerliche Existenz zerstört. Seine Familie würde ihn hassen, wenn die Wahrheit ans Licht kam. Er musste verhindern, was noch zu verhindern war. Mit zusammengebissenen Zähnen rutschte er mit dem Gesäß so weit vor, bis er mit seinen nackten Sohlen den Boden berührte. Sich an der Matratze abstützend, richtete er sich langsam auf. Da seine Bauchgegend verbunden war, trug er kein Krankenhaushemd. Man hatte ihm eine jener Netzeinwegunterhosen angezogen, die es ermöglichten, darunter einen Verband zu tragen.

Er blieb eine Minute stehen, bis sich sein Kreislauf an die aufrechte Haltung angepasst hatte. Schon seit drei Tagen hatte er Nacht für Nacht das Aufstehen trainiert und war mit zusammengebissenen Zähnen einige Schritte im Zimmer herumgelaufen. Länger durfte er nicht mehr warten. Heute Nacht fühlte er sich stark genug, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Mit kleinen Schritten näherte er sich der Tür, die neben dem großen Fenster auf einen das Gebäude umlaufenden Balkon hinausführte. Entschlossen öffnete er den Riegel und zog die Tür auf. Der Rahmen gab ihm Halt. Kühle Nachtluft schlug ihm entgegen. Zaghaft berührten seine nackten Sohlen die Fliesen des Balkons. Er wusste, dass er sich im obersten Stockwerk dieses Gebäudes befand. Unter ihm in der Dunkelheit verbarg sich eine kleine Grünanlage, an die sich ein Parkplatz anschloss. Ursprünglich hatte er daran gedacht, sein Vorhaben durch eine massive Überdosierung des Betäubungsmittels durchzuführen, das man ihm gegen die Schmerzen verabreichte. Dieser Plan wurde jedoch durch die Apparate durchkreuzt, da sie sofort Alarm geschlagen hätten, wenn er von der einprogrammierten Dosis abgewichen wäre.

Mit drei zögernden Schritten war er am Geländer. Krampfhaft hielt er sich fest, um den aufkommenden Schwindel zu beherrschen, der ihm kurzfristig den Blick vernebelte. Als er den Anfall überwunden hatte, blickte er nach links und rechts. Der Balkon war menschenleer. Aus wenigen entfernteren Zimmern drang schwacher Lichtschein. Vermutlich Patienten, die keinen Schlaf fanden.

Er starrte in den Abgrund. Einige Lampen erleuchteten den Parkplatz, der Grüngürtel unter ihm lag in Dunkelheit. Er zögerte kurz, sein Entschluss geriet für eine Gedankenlänge ins Wanken. Tränen liefen ihm über die unrasierten Wangen. Er fühlte sie nicht. Der Teufel in ihm hatte ihn zu diesen schlimmen Taten verführt. Es waren nur wenige Kinder, die er seiner Neigung geopfert hatte. Vor seinem geistigen Auge erschienen die furchtsam aufgerissenen Augen der kleinen Mädchen, denen er nicht hatte widerstehen können. Für jedes einzelne hatte er diese Strafe verdient. Er stand jetzt im wahrsten Sinne des Wortes direkt am Abgrund. Ihm war klar, dass das Leben ihm keine Gelegenheit mehr bot, Wiedergutmachung zu leisten. Nun galt es, für seine Handlungen geradezustehen. Sein letzter Gedanke galt seiner Familie, die er durch seine nun offenkundig werdenden Verfehlungen dazu verurteilt hatte, mit dieser erdrückenden Schmach weiterleben zu müssen. Er gab sich einen Ruck und zog sich über das Balkongeländer. Ohne einen Laut stürzte er mit dem Kopf voraus in die Finsternis. Von dem Aufprall bekam er nichts mehr mit.

Spessartblues

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