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Eberhard Brunners Anruf erreichte Kerner am späteren Nachmittag zuhause. Er erklärte, sehr zur Freude Kerners, dass er in etwa einer Stunde vorbeikommen würde. Simon Kerner war vor knapp zwanzig Minuten nach Hause gekommen und überlegte gerade, ob er sich etwas zum Abendessen zubereiten sollte. Der Blick in den Kühlschrank zeigte ihm allerdings seine engen »kulinarischen Grenzen« auf. Hätte Eberhard Brunner vor seiner Rückkehr nicht einige Grundnahrungsmittel besorgt, wäre die Abendmahlzeit vollständig ausgefallen. Während des Tages hatte er nur Zeit für einige Tassen Kaffee gefunden. Jetzt rebellierte sein Magen allerdings nachhaltig und brachte sich knurrend in Erinnerung. Kerner schnitt sich eine Scheibe Brot ab und beschmierte sie mit Leberwurst. Dazu öffnete er sich eine Flasche Bier.

Während er am Küchentisch saß und das Brot mit Appetit verzehrte, ließ er den Tag nochmals Revue passieren. Wenn er das Angebot seines Vorgesetzten annahm, musste er für sich die Frage beantworten, ob er den Wohnsitz in Partenstein beibehalten wollte. Für einen Neuanfang war es sicher besser, die belastenden Erinnerungen hinter sich zu lassen. Was sollte aus seinem Jagdrevier werden? Eine Frage, die er jetzt sowieso zeitnah beantworten musste. Während seiner Pilgerfahrt hatte ein Jagdfreund das Jagdrevier betreut und tat dies auch noch heute. Kerner hatte bis jetzt noch nicht die Kraft gefunden, das Revier zu betreten. Da draußen wartete die Ruine seiner abgebrannten Jagdhütte auf ihn, die von dem Wilderer Hasenstamm aus Rache abgefackelt worden war. Diese Hütte war ein zentraler Mittelpunkt seines und auch Steffis Leben gewesen. Viele Stunden hatten sie dort gemeinsam verbracht und ihre Zweisamkeit in der Einsamkeit des Waldes genossen. Alles unwiederbringlich vorüber. Simon Kerner schüttelte den Kopf. Er hatte mittlerweile etwas Übung darin, derartige Gedanken nach hinten zu schieben. Er trank sein Bierglas leer und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Da klingelte es an der Tür. Mit einem schnellen Blick auf die Uhr überzeugte er sich davon, dass durch seine Grübeleien die Zeit wie im Fluge vergangen war. Das musste sein Freund Eberhard sein.

Kerner ging an die Tür und öffnete.

»Grüß dich, Simon, ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich hier so einfach hereinschneie. Aber ich dachte mir, es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn ich ein paar feste Nahrungsbestandteile mitbringe. So wie ich dich kenne, hast du heute noch nichts Richtiges gegessen, und ich, wenn ich ehrlich bin, auch noch nicht.« Eberhard Brunner wedelte mit zwei Tüten dicht vor Kerners Nase herum. Sofort verbreitete sich ein angenehmer Geruch nach Gebratenem, der Kerners Magennerven reizte, obwohl er doch schon etwas zu sich genommen hatte.

»Komm rein«, erwiderte Kerner und trat einen Schritt zur Seite. »Schön, dass du da bist!«

Während Brunner mit seinen Tüten in Richtung Küche marschierte, folgte ihm Kerner vernehmlich schnüffelnd. »Wen hast du denn überfallen, Thailänder oder Türke?«

»Lass dich überraschen«, gab Brunner zurück, stellte die Tüten auf den Küchentisch und räumte sie geschäftig aus. Dem Aufdruck der Behältnisse war zu entnehmen, dass Brunner beim Türken in Gemünden vorbeigefahren war.

»Wie ich sehe, hast du unsere Ökobilanz wieder deutlich verbessert«, stichelte Kerner.

»Motze hier nicht rum!«, ging Brunner auf den frotzelnden Tonfall seines Freundes ein. »Ich habe mich eine Ewigkeit in die Warteschlange gestellt und uns ein frugales Mahl zubereiten lassen. Du weißt, nur Döner macht schöner. Hast du ein paar Teller?«

Kerner ging an einen der Küchenschränke und brachte das erforderliche Geschirr und Besteck herbei. Dann holte er zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank.

»Du trinkst doch eines mit? Oder lieber Wein?«

»Bier ist in Ordnung«, erwiderte Brunner und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder.

Brunner öffnete seine Bierflasche und goss sich in sein Glas ein, dann ergriff er seine Gabel, wünschte »Guten Appetit« und machte sich über das Dönerfleisch her. Es war nicht zu übersehen, dass er richtig Hunger hatte.

»Ebenfalls guten Appetit und herzlichen Dank dem Spender«, gab Kerner zurück und widmete sich ebenfalls dem Inhalt seines Tellers.

»Mann, das war jetzt wirklich nötig!« Brunner nahm mehrere kräftige Schlucke Bier, dann setzte er das Glas ab und sah sein Gegenüber prüfend an. »So, Simon, jetzt erzähl mal, wie es bei dir heute gelaufen ist. Speziell natürlich bei deinem Besuch beim Landgerichtspräsidenten.«

Kerner zuckte mit den Schultern.

»Unterm Strich muss ich wohl sagen, recht positiv. Wobei ich das Gespräch, bei dem auch der Leitende Oberstaatsanwalt dabei war, noch nicht in allen Facetten analysiert habe. Ich hatte bis jetzt ganz einfach noch nicht die nötige Zeit, mich damit ausreichend auseinanderzusetzen, da ich anschließend ja sofort zum Amtsgericht gefahren bin.«

»Dann erzähl mal, vielleicht können wir beide die Angelegenheit etwas reflektieren.«

Simon Kerner schob seinen Teller zur Seite und lehnte sich im Stuhl zurück. Stück für Stück schilderte er seinem Freund das Gespräch mit Kräuter und Rothemund. Brunner hörte, ohne ihn zu unterbrechen, aufmerksam zu. Als Kerner schließlich verstummte, trat für einen Moment Schweigen ein. Man sah, wie Brunner den Bericht seines Freundes verarbeitete.

»Mein erster Eindruck ist, die beiden haben dir eine goldene Brücke gebaut. Ich weiß ja auch, wie vorgesetzte Dienststellen reagieren, wenn irgendwo Probleme auftreten, die eine negative Presse nach sich ziehen könnten. Das ist bei der Polizei nicht anders als bei der Justiz, denke ich. Die beiden wollen verhindern, dass du durch eine eventuell negative Presse beschädigt wirst und dann für höhere Aufgaben verbrannt bist. Wenn du mich fragst, die beiden haben die Geschichte so geschickt eingefädelt, dass du eigentlich gar nicht anders kannst, als auf ihr Angebot einzugehen.«

Kerner packte wortlos die beiden Teller und stellte sie hinüber auf die Spüle. Schließlich setzte er sich wieder und sah seinem Freund ernst in die Augen.

»Es wird mir immer klarer, dass ich mein Leben und meine Karriere nicht so fortsetzen kann wie ursprünglich geplant. Privat ist bei mir alles aus den Fugen geraten, was sich natürlich massiv auf meinen Beruf auswirkt. In meinem Denken gibt es im Augenblick keinen Raum, mir über mein berufliches Fortkommen Gedanken zu machen. Es kostet mich, das habe ich heute gemerkt, ziemlich viel Kraft, wieder in nüchternen juristischen Bahnen zu denken, geschweige denn eine Behörde zu leiten. Als Richter kann ich mich momentan den Bürgern nicht zumuten und als Behördenleiter nicht meinen Mitarbeitern.«

»Dann nimm das Angebot an und versuche dich in dem Freiraum, den man dir angeboten hat, neu zu finden. Wirf privat nicht gleich alles über Bord. Sonst verlierst du deine Wurzeln. Lass dir Zeit und setze dich nicht unnötig unter Druck.«

Kerner nickte schwach. »Das werde ich auch machen. Allerdings gibt es noch zwei Schöffengerichtsverfahren, die ich selbst aburteilen muss. Fälle, bei denen ich sehr viel Insiderwissen habe und die ich meinem Vertreter nicht zumuten möchte. Danach werde ich mich soweit möglich zurückziehen.«

Er nahm einen kräftigen Schluck, dann meinte er: »Themawechsel! Du hast mir erzählt, dass du einen neuen Fall hereinbekommen hast. Erzähl mir ein wenig davon.« Er erhob sich. »Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer. Ich mache einen Bocksbeutel auf. Ich würde mich freuen, wenn du hier übernachten würdest.«

Eberhard Brunner zögerte einen Moment, dann erklärte er sein Einverständnis. Irgendwie hatte er das Gefühl, bei dem Angebot seines Freundes schwang unausgesprochen die Bitte mit, ihn nicht alleine zu lassen. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten und der Wein eingeschenkt war, begann Brunner zu berichten.

»Wir haben da vor ein paar Tagen einen sehr merkwürdigen Fall hereinbekommen. Das Missionsärztliche Klinikum in Würzburg hat uns mitgeteilt, in der Nacht von Montag auf Dienstag der vergangenen Woche habe die Nachtschicht einen schwer verletzten, nackten Mann vor der Notaufnahme aufgefunden. Wie es aussah, war der Mann völlig hilflos dort ausgesetzt worden. Aus den Gesamtumständen und der Art der Verletzungen schlossen die Mediziner, dass der Mann Opfer eines Verbrechens war. Der Patient wurde sofort in ein künstliches Koma versetzt, da die Schmerzen unerträglich sein mussten. Er war selbstverständlich für uns nicht ansprechbar. Bis jetzt konnten wir nur mit den Ärzten sprechen.«

»Welche Art von Verletzungen hatte er denn?«

»Die behandelnden Mediziner haben wegen der außergewöhnlichen Art der Verletzungen Fotoaufnahmen gemacht und sie uns zur Verfügung gestellt.« Brunner griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck Wein, dann fuhr er fort: »Ich habe in meinem Job schon viele Grausamkeiten gesehen, aber das war wirklich schwer verdauliche Kost. Wie es scheint, hat man ihn mit einer Art Brenneisen oder Lötkolben einen Schriftzug auf den Unterbauch eingebrannt.«

Simon Kerner zog betroffen die Augenbrauen in die Höhe.

»Ohne Probleme war das Wort ›PERVERS‹ zu erkennen. Aber das war noch nicht genug. Man hatte den Mann außerdem kastriert!«

Kerner sog scharf die Luft ein. »Du meinst …?«

Brunner nickte. »Man hat ihm beide Hoden entfernt. Mehr oder weniger fachmännisch, wie mir die Ärzte sagten.«

Für einen Moment herrschte Sprachlosigkeit.

»Wie es aussieht«, fuhr Brunner dann fort, »legten es die oder der Täter nicht direkt darauf an, den Mann zu töten. Er wurde kurz nach der Misshandlung an der Klinik ausgesetzt. Die Schäden, die man ihm zugefügt hat sind allerdings dauerhaft und irreparabel.«

»… und damit nur schwer vor seiner Umwelt zu verbergen. Vermutlich war das auch beabsichtigt.« Kerner lehnte sich nachdenklich zurück. »PERVERS ist jetzt allerdings keine so klare Aussage, dass man auf Anhieb erkennen könnte, welche Art von Abartigkeit gemeint ist. Die Kastration deutet aber meines Erachtens eindeutig auf einen Racheakt hin. Gab es in der letzten Zeit bei uns Straftaten in diese Richtung?«

»Ich habe mich schon mit den Kollegen ausgetauscht. Es gibt immer wieder einmal Hinweise auf das Vorhandensein einer pädophilen Szene im Raum Frankfurt, deren Ausläufer sich auch nach Bayern hineinziehen, aber die Ermittlungen sind ausgesprochen schwierig. Diese Verbrecher wissen sich zu schützen und bewegen sich in erster Linie im Darknet. In diese Kreise einen verdeckten Ermittler einzuschleusen ist extrem schwer, zeitaufwändig und höchst gefährlich.«

»Gibt es denn keinerlei Hinweise, um wen es sich bei dem Verletzten handeln könnte?«

»Wie gesagt, als er aufgefunden wurde, war er völlig nackt und hatte keinerlei Erkennungsmerkmale bei sich. Auch in der Vermisstenabteilung ist niemand gemeldet, auf den die Beschreibung des Verletzten passen würde. Wahrscheinlich wird das Rätsel erst gelöst, wenn wir ihn das erste Mal vernehmen können. Die Klinik wird uns verständigen, wenn er so weit ist.«

Die beiden verließen das Thema und unterhielten sich nun über Kerners Pilgerfahrt. Simon Kerner hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit gehabt, sich in Ruhe mit seinem Freund darüber auszutauschen. Als Kerner gerade den dritten Bocksbeutel öffnen wollte, läutete Brunners Mobiltelefon. Der Kriminalkommissar verdrehte wegen der späten Störung die Augen, nahm das Gespräch aber an. Nachdem er einige Zeit wortlos gelauscht hatte, erklärte er: »Ich bin gerade bei einem Freund und habe einige Gläser Wein getrunken. Bin also nicht mehr fahrtüchtig. Veranlassen Sie bitte, dass die Polizeiinspektion Karlstadt mir eine Streife vorbeischickt, die mich hier abholt und nach Würzburg fährt.« Er gab noch Kerners Adresse durch, dann legte er auf.

»Ärger?«, fragte Kerner und stellte die noch nicht geöffnete Flasche auf den Tisch zurück.

»Simon, es tut mir sehr leid, aber ich muss sofort nach Würzburg zurückfahren.«

Simon Kerner sah Brunner fragend an.

»Der Verletzte, von dem ich dir vorhin erzählt habe, hat sich anscheinend vom Balkon seines Krankenzimmers hinabgestürzt. Wie es aussieht, Selbstmord. Aber nach den Gesamtumständen des Falles muss man das genauer ermitteln. Es wäre ja auch denkbar, dass der Täter sein Werk vollenden wollte.«

Zwanzig Minuten später hörten sie das schnell näherkommende Signal einer Polizeisirene. Kerner begleitete seinen Freund bis vor das Haus, wo Brunner sich auf die Rückbank eines Streifenwagens gleiten ließ, der sofort lospreschte, auf dem Wendehammer vor Kerners Haus mit quietschenden Reifen wendete und sich mit hoher Geschwindigkeit auf den Weg nach Würzburg machte.

Kerner ging zurück ins Haus. Sofort verspürte er wieder dieses bedrückende Gefühl der Einsamkeit. Er schaltete den Fernseher ein, setzte sich auf die Couch und öffnete die dritte Weinflasche. Vielleicht trug der betäubende Alkohol dazu bei, dass er in dieser Nacht von bedrückenden Albträumen verschont blieb.

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