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Wanderjahre im 19. Jahrhundert

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Die ersten beiden außerfamiliären Menschen, die Rosa in ihren Lebenserinnerungen erwähnt, sind Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke und Otto von Bismarck. Beiden begegnet sie Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin. Und es ist vielleicht für manche ihre künftigen politischen Entscheidungen bezeichnend, dass sie ihr historiografisches Koordinatensystem mit zwei Zentralgestalten der deutschen Reichsgründung von 1871 beginnt. Beide hatten maßgeblichen Anteil an Preußens politischer Vormachtstellung nach den deutschen Einigungskriegen, als Siege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich das Staatsgebiet sowie auch das deutsche Selbstbewusstsein erheblich vergrößerten. „Den großen Moltke“, damals 82 Jahre alt, trifft sie im Alter von acht Jahren, das ist 1882, im Frühling bei einem Spaziergang an der Hand ihrer Mutter im Berliner Tiergarten. Die bleiche, hagere Gestalt in Schwarz, deren Körpergröße ein Zylinderhut, im Volksmund „Angströhre“ genannt, noch nach obenhin verzerrt, muss der Kleinen riesenhaft erschienen sein. Als sie den Blick seiner stahlblauen Augen wohlwollend auf sich fühlt, knickst sie artig, er lobt ihr Aussehen und ihre Manieren, lüftet den Zylinder und fragt nach ihrem Namen, den sie ihm verrät: Rosa Retty. Dafür erntet sie von ihm den mit einer metallisch schnarrenden Stimme gesprochenen Kommentar: „Rosa. Das passt zu dir!“1 Die obligatorisch folgende Frage, ob sie denn auch ein braves Kind sei, wird von der Mutter bejaht, worauf der Feldmarschall beiden Damen noch einmal seine Höflichkeit offeriert und Rosa mit dem Auftrag verlässt, dass es so bleiben möge.

Das zweite und letzte Treffen mit dem als „der große Schweiger“ Apostrophierten findet im Jahr 1890 im Rahmen eines Empfangs im Palais des Grafen Dönhoff statt, bei dessen Buffet Rosa, inzwischen 16 Jahre alt, mit den Töchtern des Hauses gerade eine Tasse Tee trinkt. Der mittlerweile 90-jährige Moltke, ein Freund der Familie, kommt aus dem Salon, wo er in einer Herrenrunde Whist gespielt hat. Er fragt sie nach ihrer Herkunft, ist froh, dass sie behütet aufwächst, und erzählt ihr von seiner entbehrungsreichen Jugendzeit in der Landkadetten-Akademie in Kopenhagen. Als besondere Leistung seinerseits führt er keine politischen Taten an, sondern den Bau von Brücken und Wasserleitungen an den Dardanellen, die er neben den Befestigungsanlagen dort entworfen hat. Die pompösen Trauerbekundungen nach Moltkes Tod im April 1891 sind die ersten, die Rosa im Gedächtnis bleiben, die ostentative Theatralik daran beeindruckt die Schauspielerin: Schwarze Stoffe verhängen die Gaslaternen der Prachtstraße Unter den Linden, sogar der Leierkastenmann am Oranienplatz im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ändert sein Repertoire und besingt den „Heldengreis“, der die Einheit Deutschlands garantierte.

Den zweiten, für diese Epoche wichtigen Mann lernt Rosa ebenfalls im Palais Dönhoff in der Wilhelmstraße 63 kennen: Reichskanzler Otto von Bismarck, den sie im Vergleich zu Moltke als größer und dicker beschreibt, mit milchweißem, fast mädchenhaftem Teint und einer sehr hohen Stimme. Rosa, die später am Theater und beim Film erlebt, wie man dort Geschichte umgestaltet, wird feststellen, dass man den Reichskanzler im Film zwar äußerlich nachahmt, ihm aber ein sonores, männliches Timbre zuerkennt, denn: „Kein Regisseur hätte es damals gewagt, den ‚Eisernen Kanzler‘ im Falsett reden zu lassen.“2 Rosa gegenüber ist Bismarck Kavalier, würdigt ihre darstellerischen Fähigkeiten auf der Bühne, streicht sich dabei Erdbeermarmelade aufs Brot und trinkt genießerisch stark gesüßten Tee. Es macht Rosa ebenso stolz wie verlegen, dass der Kanzler sie zum Abschluss mit seinem Lorgnon wie ein naturkundliches Exponat inspiziert und, nachdem er die Stehbrille wieder abgenommen hat, charmant ihren zweifellos auf Fleiß basierenden Erfolg lobt. In dem Film Mädchen in Uniform wird Rosas Enkelin Romy im Jahr 1958, klein und eingeschüchtert wirkend, vor einem imposant an die Wand hinter ihr gepinseltem Zitat Bismarcks posieren: „Der Mensch ist nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um seine Pflicht zu tun.“

Berlin erlebt Ende des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Am 18. Januar 1871 wird es zur Reichshauptstadt proklamiert, die in den Kriegen eroberten Gebiete sowie die hohen Reparationszahlungen durch Frankreich ermöglichten eine Potenzierung der industriellen Kapazität und damit ökonomische Prosperität, weshalb sich die neue Metropole ständig vergrößert. Hatte die Stadt 1850 nur 300.000 Einwohner, sind es 1877 rund eine Million, die sich bis 1905 sogar noch verdoppelt. Die neue Hauptstadt wird zunehmend modernisiert, erhält eine effiziente Kanalisationsanlage, elektrische Straßenbeleuchtung und ein Telefonsystem.

Rosa Retty geht mit offenen Augen und gespitzten Ohren durch diese Zeit, sieht die Entwicklung des Kurfürstendamms von einem unwegsamen Karrenweg, bei dem man bei einem Spaziergang noch im Schlamm stecken bleiben konnte, zu einer Promenaden-Allee, hört, dass man im Juni 1884 die Fundamente für das Reichstagsgebäude aushebt. Sie erlebt den Verkehr einer modernen Stadt, wie sie ihn bislang nie kannte, hört bis in die Nacht hinein die Geräusche der Trillerpfeife des Kondukteurs in der von Pferden gezogenen Straßenbahn. Autos sieht man noch keine auf den Straßen, hier fahren Kutschen. Ein- und Zweispänner, die „Kremser“ mit einem von vier Eisenstangen getragenen Planen-Dach. Rosa sieht aber auch weniger luxuriöse Modelle, darunter die „Auswandererwagen“, die vom Schlesischen zum Anhalter Bahnhof fahren, oder Leichenwägen vierter Klasse, die nur bei Dunkelheit unterwegs sind, um ihre mit einer Decke kuvertierte Fracht in billigem Holz zu transportieren. In einem noblen Zweispänner begegnet ihr eines Mittags der 1871 inthronisierte Kaiser Wilhelm I. Da ihn andere Passanten ebenfalls erkennen, fährt der Monarch bald grüßend durch ein ihm zujubelndes Spalier. Rosa erweist ihm ihre Reverenz, wie sie es auch künftig mit Autoritäten halten wird.

Rosa Retty wird zwar eine begeisterte Berlinerin, doch ihre Geschichte beginnt in einer anderen, vierhundert Kilometer weit entfernten deutschen Stadt. Geboren wird sie als Rosa Clara Franziska Helene Retty am 26. Dezember 1874 im hessischen Hanau, wo ihre Eltern zu jener Zeit am Theater engagiert waren. „Im selben Jahr wie Hofmannsthal, zwei Jahre nach Grillparzers Tod“, stellt Hilde Spiel in ihrem Porträt Rosas 105 Jahre später fest.3 Ihr Vater Rudolf Wilhelm Albert Retty kommt 28 Jahre vor ihr am 20. Februar 1846 in Lübeck zur Welt, weil auch seine Eltern Schauspieler und dort im Engagement sind. Er ist 1874 ein vielbeschäftigter Bühnendarsteller, dessen Bariton im Sprech- wie im Musiktheater bis hin zu Opernrollen eingesetzt wird. An den Wochenenden schreibt er Feuilletons für Zeitungen und bearbeitet Stücke, um sie für Inszenierungen vorzubereiten, denn auch als Regisseur, eine erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende und „Spielleiter“ genannte Profession, bewährt er sich. Seine Tochter wird sein Können später mit einem Begriff umschreiben, der zu jener Zeit noch gar nicht erfunden ist: „Allroundtalent“. Als Basislektüre schwört Rudolf Retty auf Ernst von Possarts 1901 erschienenen Lehrgang des Schauspielers, das auch für seine Tochter zu einer wichtigen Anleitung für ihren Beruf wird. In Rosas Erinnerung ist der Vater ein Romantiker, bevorzugt bei der Wohnungssuche Innenstadtatmosphäre, logiert wenn möglich in alten Barockhäusern in Kirchennähe. Vielleicht leitet ihn als Wanderschauspieler dabei die Sehnsucht nach bürgerlicher Atmosphäre im Stadtzentrum, als sei er ein alteingesessener Citoyen. Die Tochter genießt die gemeinsamen Ausflüge an Nachmittagen, seine Erklärungen zu Flora und Fauna. Was sie von ihm lernt, ist vor allem, mit wenig zufrieden zu sein, seine Maxime lautet: „Je weniger du vom Leben verlangst, desto mehr gibt es dir!“4

Rosas Mutter, Maria Catharina Retty, geborene Schaefer, ist 1874 ebenfalls als Schauspielerin in Hanau engagiert. Sie ist ausgebildete Opernsängerin, singt jedoch nach der Geburt ihrer Tochter mit ihrem Koloratursopran nur mehr für diese. Rosas Lieblingsspeise ist Danziger Kaffeebrot und ihr Essverhalten irritiert die Familie. Schon als Kind isst sie lieber die dick mit Butter bestrichene Brotrinde und lässt das Innere übrig, sehr zum Ärger ihrer Mutter. Diese ist fleißig, führt detaillierte, in Wachstuch gehüllte, blau karierte Haushaltsbücher, um das Familienbudget sparsam zu verwalten. Ihre Kochkunst schließt neben der gutbürgerlichen deutschen auch die niederländische Küche ein, denn ihre Mutter Catharina van Meerten stammt aus Lommel im Brabant, weshalb Fleisch und Wurst im Hause Retty meist mit scharfem Senf gewürzt werden.

In Rosas Erinnerung hat sich die Mutter ihre Schönheit ihr ganzes kurzes Leben lang bewahrt: große, dunkle Augen in einem anmutigen Gesicht mit schmaler Nase und vollen Lippen, ausgestattet mit einer guten Figur. Ihren das Gegenüber fixierenden Blick verdankt sie einem Trachom, einer bakteriellen Augenentzündung, an der sie in ihrer Jugend leidet, erst nach ein paar kostspieligen Operationen und längerer Nachbehandlung kann die Gefahr einer Erblindung abgewehrt werden. Jahrelang muss die Tochter danach der Mutter Wimpern mit einer Pinzette auszupfen, weil die ruhige Hand des Kindes ihr einen teuren Arztbesuch erspart.

Von ihrem Vater erhält „Roselchen“ mit sechs Jahren eines der schönsten Geschenke ihres Lebens: einen Kanarienvogel namens Hansi, dessen freizügige Haltung bei zumeist offenem Käfig sich eine Katze zunutze macht und sein Leben auf rüde Art beendet. Rosa lernt dadurch früh unwiederbringlichen Verlust kennen. Die Mutter versteht ihren Schmerz, schafft es unter Wahrung ihrer sparsamen Prinzipien jedoch, der Tochter einen kompletten Satz an Trauerkleidung auszureden – sie kauft ihr nur eine Schürze und eine Halskrause in Schwarz. Als Rosa 1889, nachdem bekannt wird, dass sich der österreichische Thronfolger, Kronprinz Rudolf, in Mayerling erschossen hat, als Vierzehnjährige erneut einen Trauerflor verlangt, weil sie und ihren Freundinnen Fotografien des Adeligen sammeln, wie es spätere Generationen mit denen von Filmstars tun werden, geht dies der Mutter dann doch zu weit. Als Ersatz für Hansi bekommt Rosa einen schwarzen Dackel geschenkt. Und von diesem Zeitpunkt an werden vierbeinige Begleiter aus der Geschichte der Rettys und ihrer Nachfahren nicht mehr wegzudenken sein.

Woran Rosa sich früh gewöhnen muss, sind Ortswechsel. Noch während seiner zweiten Spielzeit in Hanau meldet sich Rudolf Retty am 2. April 1875 mit Ehefrau und Tochter nach Gießen ab. Der Vater nimmt Sommer- und Wintergastspiele an, weshalb Rosa immer wieder die Schule wechseln muss und später die Sesshaftigkeit umso mehr schätzen lernt. Immer wieder weint das Kind, weil es Abschied nehmen muss von Freunden, einer Umgebung, in die es sich eingelebt hat, während das Familiengeschirr, die Bücher und die Kleidung wieder in Reisekoffern verstaut werden. Weil Rosa als Kind an Blutarmut leidet, gastiert ihr Vater im Sommer mit Vorliebe in der Nähe von Kurorten an der Ostsee, darunter in seiner Heimatstadt Lübeck, in Heringsdorf oder Stettin, denn die Ärzte hatten dem Kind zur Kur Meeresluft empfohlen.


Rosa als bereits populäre Schauspielerin. 1890er Jahre. Das Porträt stammt von dem Hof-Fotografen Wilhelm Höffert aus Berlin. Ein Rollenfach springt gleichsam aus dem Bild.

Im Jahr von Rosas Geburt wohnten die Rettys in Hanau am Paradeplatz 17 (heute: Am Freiheitsplatz). Rosas Taufe wird im Taufbuch der evangelisch-lutherischen Johanneskirche am 24. Januar 1875 verzeichnet. Als Paten wurden eingetragen: Clara Maria Johanna Berger verwitwete Retty, die Großmutter des Kindes, sowie die Schauspielerin Helene Katharine Maria Schüle. Seinen Rufnamen erhält der Täufling nach der Schwester seiner Mutter, Rosa Köth. Rosas Großmutter Clara wird als Schauspielerin aus Königsberg mit zwei Kindern bezeichnet. Auch mütterlicherseits gibt es Verbindungen zum Schauspielerberuf. Rosas Großvater Carl Ludwig Schaefer war als Student Mitglied einer fahrenden Schauspieltruppe und lernte bei einem Gastspiel im belgischen Lommel die Tochter des Stadthauptmanns kennen, die um 1813 geborene Catharina Margareta Huberta van Meerten, ein Kind aus einer von dessen fünf Ehen. Da dieser sich weigert, seine Tochter mit einem Schauspieler zu vermählen, fliehen die beiden aus der Stadt – und heiraten ohne seine Einwilligung. Ein frühes Dokument dafür, dass zahlreiche Damen der hier erzählten Familiengeschichte dazu neigen werden, in entscheidenden Phasen ihres Lebens eigene Entscheidungen zu treffen. Wir wissen wenig über Catharina van Meerten, aber wir dürfen bei ähnlich verwegenen Entscheidungen ihrer Nachfahrinnen ihr verständnisvolles Lächeln voraussetzen.

In Homburg kommt schließlich am 24. September 1851 Rosas Mutter zur Welt, die mit 17 Jahren in einer Opernaufführung erstmals Bühnenluft schnuppert und am 30. Oktober 1874 mit 23 Jahren in Frankfurt/Main Rudolf Retty heiratet. Geboren wurde der zwar in Lübeck, seine Vorfahren lebten ebenfalls an der Ostsee, jedoch im Südosten der Halbinsel Samland, in Königsberg. Die Stadt wurde 1946 zusammen mit dem Großteil Ostpreußens der Russischen Sowjetrepublik eingegliedert und in Kaliningrad umbenannt. Große und identitätsstiftende Teile der für unsere Geschichte relevanten historischen Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder aufgebaut. Nur auf kolorierten Lithografien und alten Fotografien hat sich der unprätentiöse Charme der ehemals Königlichen Barockstadt mit ihren im Stil der Backsteingotik erbauten Kirchtürmen erhalten.

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