Читать книгу Die W-Formel oder das Spiel des Lebens - Günter Laube - Страница 5
I. Was?
Оглавление»Möchtest du sehen, wo die Zeit herkommt?«, fragte Meister Hora Momo.
(Michael Ende, Momo)
Anlässlich des Einstein-Jahres 2005 wurden im April-Heft von Bild der Wissenschaft die »7 Rätsel der Physik« präsentiert. Neben den altbekannten Fragen nach Materie, Masse und Zeit lautete die siebte Frage: Gibt es die Weltformel? Eine einzige, alles erklärende Formel, ein alter Traum der Physiker. Doch wie es in dem Artikel heißt, scheint der Weg zu dieser Formel noch weit zu sein, auch rund sechs Jahre nachdem sich die Physiker-Elite im Jahre 1999 in Potsdam zu einer Konferenz über die Weltformel getroffen hatte. Fast 400 theoretische Physiker haben es damals nicht geschafft, und im Mai 2006 schrieben die Kieler Nachrichten: »Irrte Charles Darwin? Neue Debatte um moderne Evolutionstheorie«.
Das legt die Vermutung nahe, dass hier in der Tat ein interdisziplinärer Ansatz hilfreich sein könnte. So wie es Erwin Schrödinger verfolgte, der sich fragte »Was ist Leben?« und als Physiker die Welt der Biologie betrachtete, oder aus Sicht eines Universalgelehrten wie Alexander von Humboldt. Es sei denn, wir würden ein kleines Mädchen von acht oder zwölf Jahren mit einem wilden, pechschwarzen Lockenkopf, das nichts besitzt als das, was es findet oder geschenkt erhält, und eine Schildkröte treffen, die uns den Weg zu Meister Secundus Minutius Hora, dem Meister der Zeit, und seiner Allsichtbrille zeigen könnten. Denn mit dieser Brille könnten wir alles sehen.
Michael Endes »Momo«, das Kind, das den Menschen die von den Zeit-Dieben, den grauen Herren, gestohlene Zeit zurückbrachte, begegnete mir zum ersten Mal in der Schule, in Form eines Hörspiels. Gewisse Elemente werden uns auch auf unserer Reise begegnen, aber so lange wir Momo und Kassiopeia am südlichen Rand einer großen Stadt, in der Ruine eines alten Amphitheaters, nicht treffen, werden wir auch den Weg zum Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse nicht finden. Und somit auch nicht die kleine goldene Allsichtbrille. Insofern gilt es, ein weiteres Prinzip anzuwenden, das Momo verfolgte: Sie konnte zuhören. Mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Und den Leuten kamen auf einmal Gedanken, die ihnen bei ihren Problemen weiterhalfen. So wollen auch wir zuhören und uns dann weiterführende Gedanken machen. So wie früher, als wir Kinder waren.
Vertrauen wir nun gleich am Anfang unserer Reise auf die Erfahrung von Momos Freund Beppo Straßenkehrer: »Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich«.
Und damit kommen wir zurück zu meiner Klausur. Trotzdem ich jetzt theoretisch gerüstet bin und mir eine Menge Quellenmaterial zur Verfügung steht, finde ich in die erste Frage nicht rein. Mein Nachbar hingegen scheint die richtigen Gedanken gefunden zu haben. Er beschreibt Seite um Seite. Andere im Raum schreiben ebenfalls. Ich kann nicht lesen, was mein Nachbar schreibt, jeder hat seinen eigenen Tisch. Er sitzt einen Meter von mir entfernt. Ich muss mir also meine eigenen Gedanken machen. Irgendwie komisch, immerhin scheinen die Gedanken mit den Lösungen für die Aufgaben ja in diesem Raum zu sein. Aber egal, ob zehn oder einen Meter entfernt, mein Gehirn steht irgendwie nicht auf Empfang. Vielleicht liegt das daran, dass die anderen mehr gelernt haben? Im Idealfall genau das, was heute abgefragt wird? Das ist es, genau! Ich habe einfach nur das Falsche gelernt.
Aber wie ist das allgemein mit den Gedanken? Immerhin sind wir nicht die Einzigen, die diese Klausur schreiben, im Nachbarkurs gibt's die nächste Woche, in anderen Schulen der Stadt ebenfalls in diesen Tagen, und in den anderen Schulen im Land, in Europa, ach was, überall in der Welt sicherlich auch! Ja, im Prinzip kann die Gedanken doch jeder haben, unabhängig davon, wo er ist. Und in zeitlicher Hinsicht gibt es auch keine Beschränkung. Mein jüngerer Bruder wird Ähnliches denken und verarbeiten müssen, wenn er in ein paar Jahren in dieser Klasse ist. Gedanken existieren also jenseits von Raum und Zeit, würde ein Physiker wohl sagen. Haben sie denn auch elektromagnetischen Charakter, breiten sich wie Wellen aus? Ein Physiker wäre wohl auch der geeignetste, um Gedanken zu beschreiben. Denn gleich müssen sie sein, der Mensch übersetzt sie gewissermaßen nur in seine Sprache. Aber Form, Farbe und Klang bleiben immer gleich. Nur dass der Engländer blue, der Franzose bleue und der Deutsche blau sagt. Aber zeigt man allen eine blaue Wand, meint jeder das gleiche.
Andererseits scheint es auch vollkommen individuelle Gedanken zu geben, wie im Falle von Albert Einstein, denn nur er hat die Relativitätstheorie formuliert und die Gedanken dafür entwickelt. Oder wie bei Newton, dem der Gedanke der Schwerkraft fast in den Schoß fiel. In Form eines Apfels.
Die Lehrerin hatte den Gedanken schon, als sie uns die Aufgabe gestellt hat. Aber wozu hat sie die Aufgabe erstellt? Wenn wir mal davon absehen, dass die Aufgabe ein Teil der Klausur ist, die ihrerseits wiederum ein Teil der Gesamtnote im Zeugnis ausmacht, dann doch aus dem Grund, dass wir unseren Geist entwickeln, dass wir lernen, oder vereinfacht ausgedrückt: Damit wir schlauer werden. Oder intelligenter. Dies könnte ein Grundprinzip sein, denn sowohl Newton als auch Einstein hatten Lehrer und sind zur Schule gegangen, aber die Gedanken, die sie nachher ausformulierten, hatten eben sie, und nicht ihre Lehrer. Offenbar gibt es also Gedanken, die von vielen verarbeitet werden können, einige, die von einer kleinen Anzahl an Menschen, und äußerst wenige Gedanken, die nur von einzelnen Menschen verarbeitet werden können. Woher kommen aber diese Gedanken? Was genau sind Gedanken?
Das sind schon knifflige Fragen, doch wir wollten ja einen Schritt, Atemzug, Besenstrich nach dem anderen machen. Widmen wir uns also wieder der W-Formel: Unsere erste Station führt uns in das 19. Jahrhundert, genau ins Jahr 1881: In den USA, in Alabama, in der Stadt Tuscumbia lag das Anwesen Ivy Green. Hier wohnten die Kellers. Vater Arthur war Offizier der konföderierten Armee gewesen, Mutter Kate war Anfang zwanzig, einige Jahre jünger als ihr Mann und hatte vor zwei Jahren ihr erstes gemeinsames Kind bekommen: Helen. Im Frühling stellten die Eltern der zweijährigen Helen Keller fest, dass sie blind und taub war. Infolge einer wenige Monate zuvor erlittenen Krankheit. Mehrere Ärzte bestätigten in den folgenden Tagen die Diagnose und fügten stets hinzu, dass keine Aussicht auf Heilung bestand. In dieser Zeit wurden Taubblinde wie Geisteskranke behandelt, ein so genanntes normales Leben war für solche Menschen ausgeschlossen, ebenso für deren Angehörige - soweit sie sich denn um das kranke Kind kümmerten. Die dritte Fertigkeit, die sie schließlich verlor, war das Sprechen. Der Hausarzt von Arthur und Kate Keller erklärte ihnen, dass dies leider zu solch einer Erkrankung dazu gehöre, da sie nicht hören kann, was sie spricht. Wiederum einige Zeit später setzten sich die beiden mit Erziehungsgedanken auseinander. Ob es einen Erzieher gäbe, der trotz »dreifacher Ohnmacht« den Geist von Helen erreichen könnte. Ausschlaggebend war die Feststellung, dass Helens Tast- und Geruchssinn nicht nur funktionierten, sondern sogar - soweit möglich - die Disfunktion der übrigen Sinne kompensierten. Die Jahre zogen ins Land, und im September 1886 stießen die Kellers auf Charles Dickens' »Reisenotizen über Amerika«, in denen er von der Erziehung eines taubstummen und blinden Mädchens berichtet. Ihr Name war Laura Bridgman, ihr Erzieher Doktor Samuel Gridley Howe, Leiter der Perkinsschen Blindenanstalt in Boston. Nach entsprechenden Erkundigungen veranlassten einige weitere Punkte Arthur und seine Frau schließlich, dass er mit Helen eine Reise unternahm. Von den Südstaaten in den Norden, zunächst nach Baltimore, was im 19. Jahrhundert eine nicht unerheblich längere Reise als heutzutage war. Es ging mit der Eisenbahn, und so bekamen auch andere Menschen die kleine Helen zu Gesicht, die bisher kaum das elterliche Grundstück verlassen hatte. Nachdem Helen und ihr Vater diverse Ratschläge von fremden Mitreisenden überstanden hatten, trafen sie Doktor Chisholm, eine Kapazität auf dem Gebiet der Augenheilkunde. Eine Mitreisende gab Keller den Rat, das Kind einschläfern zu lassen, da es falsches Mitleid wäre, das Kind am Leben zu erhalten. Arthur Keller wechselte daraufhin mit seiner Tochter das Abteil und hoffte nun, dass Chisholm ihnen weiterhelfen könne. Zunächst konnte er das nicht, sondern bestätigte die Diagnose der lebenslangen Taubblindheit. Aber auf die Bemerkung Kellers, dass Helen immer weiter wie ein Tier leben müsse, empfahl er ihm, eine geeignete Lehrerin zu suchen. Und er konnte ihm einen Kontakt vermitteln: Doktor Alexander Graham Bell, den Erfinder des Telefons. Er war ursächlich Taubstummenlehrer und wohnte in Washington. Arthur und Helen fuhren also weiter. Nach Washington. Und Bell konnte weiterhelfen, er konnte von einem weiteren Beispiel berichten, einer Französin, die ebenfalls taubstumm und blind war und trotzdem erzogen worden war. Nur wusste er nicht, von wem.
Noch am Tage der Rückkehr nahm Arthur Keller Kontakt zu Michael Anagnos auf, dem Leiter der Blindenanstalt in Boston. Anagnos war Howes Schwiegersohn und antwortete per Brief, dass er sich nach einer geeigneten Lehrkraft umsehen werde. Was er auch tat. Er beriet sich mit der ersten Pflegerin des Instituts, Miss Hopkins, die dort seit 20 Jahren arbeitete. Doch diese hielt die Erzieherinnen, die in den letzten Jahren ihr Examen abgelegt hatten, für zu jung, um eine solch schwere Aufgabe zu bewältigen. Auch die in den Augen von Anagnos begabteste Pflegerin, die im Alter von 14 Jahren 1880 selbst als Patient blind und halb verhungert nach Boston gekommen war und ihr Augenlicht durch Operation wiedergewann, war nach Ansicht von Miss Hopkins der Aufgabe nicht gewachsen. Denn sie hatte noch nie mit taubstummen Kindern gearbeitet und erst im Jahr zuvor ihr Examen gemacht.
Schließlich galt es abzuwägen: Einerseits würden die Kinder und Kollegen die Zwanzigjährige hier in Boston vermissen, andererseits dürfte es so gut wie ausgeschlossen sein, irgendwo in Amerika eine geeignetere Person zu finden. Der Kompromiss lautete: Sie soll selbst entscheiden.
Als Anagnos der Zwanzigjährigen die schwierige Aufgabe wenige Tage später erläuterte, brachte er auch die Erkenntnisse von Doktor Bell zur Sprache, der dem Kind Lebendigkeit und Intelligenz in auffälligem Maße zuerkannte. Abschließend gab er ihr drei Tage Bedenkzeit, denn eine solche Entscheidung sollte nicht überstürzt gefällt werden. Von Boston nach Tuscumbia am Tennessee umzuziehen, das vom Sezessionskriege noch verwüstet war, war keine Kleinigkeit, ihr Leben würde sich sehr verändern, auch den äußeren Umständen nach. Von der Großstadt in die Provinz. Der Direktor erklärte ihr auch, dass von ihr keine Wunder erwartet würden. Sollte das Experiment scheitern und sie es gegebenenfalls abbrechen, würde ihr kein Vorwurf gemacht werden.
Die junge Pflegerin brauchte jedoch keine drei Tage, sie war eine Frau, und Frauen entscheiden Dinge gerne mal aus dem Bauch heraus. Während ihr Bauch noch im Zimmer des Direktors die Reise nach Süden antrat, beschäftigte sich ihr Kopf in den folgenden Tagen und Wochen mit den Aufzeichnungen von Doktor Howe über die Erziehung von Laura Bridgman.
Ende Februar 1887 trat sie dann ihre Reise in den Süden an, der Kopf folgte dem Bauch. Miss Hopkins, die sie wie eine Tochter behandelt hatte, erklärte ihr zum Abschied, dass sie wahrscheinlich die größte Aufgabe ihres Lebens vor sich habe, und dass sie ihr in schwerer Stunde schreiben solle. Die junge Pflegerin versprach es, stieg in den Zug und trat die Reise in ein neues Leben an. Im Gepäck hatte sie eine Puppe und einen langen Brief in Blindenschrift, mit Grüßen von den Kindern der Perkinsschen Blindenanstalt, von denen sie sich auf emotionale Weise verabschiedet hatte. Auch wenn sie sie sehr vermissen würden, fanden die Kinder es doch richtig und wichtig, dass sie das kleine Mädchen in Alabama aus ihrer stillen, dunklen, schwarzen Welt herausholen wollte.
Nach sieben Jahren in Boston kam die junge Frau am 3. März 1887 in Tuscumbia an. Sie wurde von Kate Keller erwartet, herzlich empfangen und mit einem kleinen Pferdewagen nach Ivy Green gebracht. Dort lernte sie alsbald ihren Schützling, Helen Keller, kennen. Die Erziehung der Taubblinden, die bis dahin in gewisser Weise wie ein wildes Tier gelebt hatte, konnte beginnen, und in späteren Zeiten sollte es auf der ganzen Welt keine Biografie Helen Kellers geben, die nicht auch von Anne Sullivan gehandelt hätte, der jungen Erzieherin aus Boston, die wenige Monate später in einem Brief an Miss Hopkins schrieb: »Ich weiß, daß die Erziehung dieses Kindes der Hauptinhalt meines Lebens sein wird.«
Walter Pause fasste die Biografie Helen Kellers in »Das Leben triumphiert« zusammen, einem weiteren Exemplar aus dem Bücherschrank meiner Eltern. Auch diesem Werk werden wir auf unserer Reise wiederholt begegnen, denn es bietet für die Prinzipien, die wir suchen, wertvolle Hinweise aus dem Leben.
Doch jetzt lassen Sie uns einen noch größeren Sprung in die Vergangenheit machen: Abraham, der Urvater von drei Weltreligionen, stammte aus Ur in Chaldäa, dem heutigen Irak. Vor rund 4.000 Jahren soll er dort gelebt haben. Und damit sind wir bei einem Grundthema: der Religion. Oder genauer gesagt: den Religionen. Denn es gibt derer eine ganze Menge.