Читать книгу Napoleons hundert Tage - Günter Müchler - Страница 10
Eine Gesellschaft im Stresszustand
ОглавлениеDie Geschichte der Hundert Tage hat viele Gesichter. Ihr hässlichstes ist der Verrat. Ney war bei Weitem nicht der Einzige, der eidbrüchig wurde. Damit das Wunder des Machtwechsels ohne Blutvergießen geschehen konnte, mussten 1000 Eide gebrochen werden. Verraten wurde der König; auch Napoleon wurde verraten. Alle Arten des Verrats begegnen uns in dem winzigen Zeitfenster der Hundert Tage, neben dem Bruch der Gefolgschaftstreue auch der Liebes- und der Ideenverrat. Vielfältig waren die Motive: Verraten wurde aus Berechnung oder aus Schwäche. Am häufigsten kam es zum Verrat durch den Zwang der Verhältnisse.
Zum Verrat gehört zwillingshaft die Verschwörungstheorie. Der Verrat ist wirklich, die Verschwörungstheorie täuscht eine Wirklichkeit vor. Napoleon bediente sich in den Hundert Tagen der Verschwörungstheorie zur Rechtfertigung seines Handelns, die Bourbonen zur Erklärung ihres Versagens. Napoleons Proklamation an die Armee begann mit dem Satz: „Soldaten, wir sind nicht besiegt worden. Zwei Männer aus unserer Mitte haben unsere Lorbeeren, ihr Vaterland, ihren Fürsten, ihren Wohltäter verraten.“ Der Kaiser spielte damit auf die Marschälle Marmont und Augerau an. Sie hatten im Frühjahr 1814 eigenmächtig die Waffen gestreckt. Die von der Königspartei aufgetischte Dolchstoßlegende bestand in der Behauptung, Napoleons Invasion sei ein von langer Hand vorbereitetes, abgekartetes Spiel gewesen, nur deshalb habe sie gelingen können. Für eine Militärverschwörung konnte nie der Beweis gefunden werden. Aber die Urheber von Verschwörungstheorien fühlen sich in der Regel nicht aufgefordert, Beweise zu liefern. Sie vertrauen auf die Gutgläubigkeit der Menge.
Als Kinder der Revolution waren die Franzosen für Verschwörungstheorien besonders zugänglich. Der neue Mensch, den die Revolution hervorbringen wollte, war zur Enttäuschung ihrer Prediger genauso wie der alte, nicht besser und nicht schlechter. Sein Unglück war, dass ihn die Serie schwerer Erdstöße, die Frankreich seit dem Bastillesturm erschütterte, einfach überforderte. Wer in Frankreich 1780 geboren war, hatte als 35-Jähriger zwei Könige und einen Kaiser erlebt, nicht mitgerechnet den als Knaben gestorbenen Ludwig XVII. und Napoleon II., des Kaisers unglücklichen Sohn. Er war unter einer absoluten Monarchie aufgewachsen und hatte dann nacheinander die konstitutionelle Monarchie kennengelernt, die Konventsherrschaft, die Anarchie, das Direktorium, Konsulat und Kaisertum. Als pflichtbewusster citoyen hatte er versucht, den Geist von nicht weniger als sieben Verfassungen zu verstehen. Er hatte erfahren, dass es lebensgefährlich sein konnte, mit Perücke und Seidenstrümpfen gesehen zu werden, hatte sich an einen neuen Kalender gewöhnen müssen, dann wieder an den alten, und war Zeuge geworden, wie der liebe Gott mithilfe des großen philosophischen Exorzismus aus dem Himmel verbannt und sein Platz von einem sogenannten „Höchsten Wesen“, dem être supême, eingenommen wurde.
In der Revolution blühten die Tugenden ebenso wie die Untugenden. Die größten Untugenden waren die der Unduldsamkeit und des Misstrauens. Beiseitestehen machte verdächtig, zu viel Aktivität auch. Als der Abbé Sieyes, der mit seinem Werk über den Dritten Stand dem großen Umbau eine Bresche geschlagen hatte, einmal gefragt wurde, was er unter der Herrschaft des Terrors gemacht habe, antwortete er schlicht: „Ich habe gelebt.“ Verdient das Chamäleon Tadel, weil es in Deckung geht? Es führten doch gerade die Alphatiere der Revolution vor, dass die Gefahr, gefressen zu werden, eine sehr reale war. Sie brachten sich gegenseitig um, einer nach dem anderen. Der „Rechtsgrund“ war immer derselbe: Verschwörung. Marat nannte in seiner Zeitung die Verdächtigen mit Namen und Hausnummer. Das machte ihn, verglichen mit Robespierre, dem „Unbestechlichen“, fast sympathisch. Bei Robespierres Verschwörungstheorien merkten die Adressaten immer erst dann, dass sie gemeint waren, wenn sie verhaftet wurden. Die Opfer waren meist auch Täter gewesen. „Mirabeau hatte das Ancien Régime denunziert, bevor er von Barnave denunziert wurde, den wiederum Brissot denunzierte, den Desmoulins denunzierte, um dann von Robespierre denunziert zu werden, der solange der ‚Unbestechliche‘ hieß, bis er durch die Gnade des Thermidor als freiheitsmörderischer Despot abgeurteilt wurde“, schreibt Jean Tulard. Die Revolution meinte es wahrhaftig ernst. „Ach, zu meiner Hochzeit kamen sechzig Freunde, alle sind tot oder ausgewandert“, klagte Camille Desmoulins, der journalistische Barde Robespierres, bevor er den Richtkarren bestieg.
Dass die Revolution in Schüben wie Saturn ihre eigenen Kinder verschlang, erhöhte den Stresszustand einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Anfangs hatten nur der Adel und der Klerus, die früheren Stände eins und zwei, Grund gehabt, sich zu fürchten. Vordem privilegiert, waren sie nun mit dem Kainsmal der falschen Klassenzugehörigkeit gekennzeichnet. Sie waren die cidevants, die Ehemaligen, die, wenn sie nicht ins Ausland flohen, viel Mühe darauf verwendeten, entweder unsichtbar zu sein oder umgekehrt als besonders radikal aufzufallen. Durch die Beschleunigung der Revolution wurden immer neue Gruppen zu cidevants gestempelt: die Girondisten, die Dantonisten, die Hébertisten, schließlich die Robespierristen. Wer der Guillotine entkommen war, blieb als gefährdete Ablagerung einer faktisch und moralisch ausgemusterten Gattung zurück.
Der Krieg der Republik gegen die königstreue, aufständige Vendée trieb das Quecksilber des Fieberthermometers weiter in die Höhe. Er kostete einer Viertelmillion Menschen das Leben, er spaltete das Land und zerstörte, wie jeder Bürgerkrieg, ungezählte Loyalitäten. In Victor Hugos Erzählung „1793“ ist der Marquis de Lantenac, Feldherr der „weißen“ Royalisten, der Großonkel des Vicomte de Gauvain, der die „blauen“ Kämpfer der Republik anführt. Die Charakterrolle des gnadenlosen Tugendwächters hat in „1793“ Cimourdan inne, den der Wohlfahrtsausschuss als politischen Kommissar ins Kriegsgebiet schickt. Gerade weil Cimourdan als ehemaliger Priester prinzipiell verdächtig ist, hält ihn Danton für besonders geeignet: „Wenn die Priester gut sind, sind sie besser als die anderen.“ Die guten Priester waren die, die entweder die Soutane abgelegt oder den Eid auf die Verfassung geleistet hatten. Den „Konstitutionellen“, wie man sie nannte, standen die „Refractaire“ gegenüber. Sie verweigerten standhaft den Eid und riskierten dafür den Tod oder die Strafinseln. Allein im Winter 1792/93 flohen zwischen 25000 und 30.000 Priester ins Ausland. Das Schisma des Klerus stürzte jeden, der der Kirche anhing, in einen Konflikt, der unauflösbar war, weil er nur ein Entweder-Oder zuließ. Die „Refractaire“ verrieten in den Augen der Republikaner den Staat, die „Konstitutionellen“ in den Augen der Frommen die Kirche. Verräter waren sie allesamt, dazu gemacht durch die Verhältnisse.
Der für die Revolutionsjahre typische Verrat verdient indessen kaum dieselbe unerbittliche Verurteilung wie jene Art des Treuebruchs, für die Dante in seiner kosmischen Raumverteilung den untersten Kreis der Hölle vorsah. In vielen Fällen war er tragisch, weil unvermeidlich, in anderen lässlich. Vor die Wahl gestellt, sich den Verhältnissen zu widersetzen oder mit ihnen Schritt zu halten, entschieden sich die meisten für die opportunistische Variante. Die Angst, bloßgestellt zu werden, war ja keineswegs eingebildet. Mit dem loi des suspects, dem terroristischen Verdachtsgesetz, waren die Verdächtigten gezwungen zu beweisen, dass sie zu Unrecht verdächtigt wurden. Das vereinfachte die Absicht enorm, einen politisch Andersdenkenden zu massakrieren oder einen unliebsamen Nachbarn oder eine langweilige Ehefrau loszuwerden. In einer jakobinischen Theaterkomödie mit dem Titel „Der republikanische Ehemann“ zeigte ein Gatte seine Frau, mit der er unzufrieden war, beim Revolutionskomitee an. Die Frau wurde guillotiniert. In dem Moment, wo sich der Theatervorhang senkte, trat der Autor vors Publikum und erklärte: „Ich bin sicher, es ist kein einziger Mann unter uns, der nicht genauso handeln würde wie mein republikanischer Ehemann.“ Auf dem Höhepunkt des Machtkampfs im Konvent ermahnte Robespierre, nachdem er einen seiner Lieblingssätze angebracht hatte – „die Verschwörer sind unter uns“ – seine Abgeordnetenkollegen: „Verleumden Sie das Misstrauen nicht …!“ Wo die Denunziation zur Tugend erhoben wird, ist es schwer, anständig zu bleiben.
Mit dem Staatsstreich des 18. und 19. Brumaire2 und der Machtübernahme durch Napoleon kehrte Ruhe in Frankreich ein. Der Bürgerkrieg wurde beendet, der Druck auf die Gewissen ließ nach. Der Verrat war kein Massenphänomen mehr, sondern „großen Tätern“ wie Talleyrand oder Fouché vorbehalten. Erst 1815 kam der Verrat wieder in Schwung. Es war kein Zufall, dass im Juli, die Hundert Tage waren gerade vorüber, in Paris der Dictionnaire des Girouettes, das „Lexikon der Wetterfahnen“ erschien. Es versammelte in alphabetischer Reihenfolge die Namen mehr oder minder bekannter Zeitgenossen, die sich nach Ansicht des Autors in der Revolutionsära als „Wetterfahnen“ (girouettes) hervorgetan hatten. Dem Text vorangestellt war eine kolorierte Zeichnung mit einem Dienstmann in Fantasieuniform. Dieser Dienstmann, halb Soldat, halb Clown, heftete an die Flügel einer Windmühle Flugblätter, jedes für eine Regierungsform, die Frankreich in den letzten 25 Jahren ausprobiert hatte. Die Allegorie war mit dem Ausspruch eines persischen Dichters unterschrieben: „Wenn die Pest Pensionen verleihen könnte, fände selbst sie Schmeichler und Diener.“3
Die Ursache des besonders hohen Drehmoments der Wetterfahnen 1815 lag in einer unerhörten Verdichtung grundstürzender Ereignisse. Im Frühjahr 1814, nach der ersten Abdankung Napoleons, standen die langjährigen Gefolgsleute des Kaisers vor der Frage, wie sie sich zu Ludwig XVIII. verhalten sollten. Noch nicht einmal ein Jahr später stellte sich die Loyalitätsfrage erneut. Die unvermutete Rückkehr Napoleons setzte mit einem Schlag die komplette Funktionselite – Marschälle und Präfekten, Abgeordnete und Bürgermeister – unter Bekenntniszwang, Entkommen unmöglich. In Bedrängnis gerieten vor allem die Generäle. Auf sie baute der König. Sie sollten den Eindringling aufhalten, ihrem Eid gemäß. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die Generäle diesem Eindringling alles verdankten, nicht zuletzt ihre soziale Stellung und ihren Reichtum. Die wenigsten gingen mit wehenden Fahnen zu ihrem alten Führer über. Einige lösten den Konflikt in der Weise, dass sie einfach dem Plebiszit ihrer Soldaten folgten. Die meisten hielten den feuchten Finger in den Wind, hoffend, am Ende auf der siegreichen Seite zu sein.
Die Hundert Tage waren eben nicht nur ein Heldenepos. Sie lieferten auch reichlich Stoff für die ewig trübselige Geschichte von Menschen, die schuldig werden, weil die Verhältnisse stärker sind als sie. In diesem Buch ist beispielhaft dem Marschall Ney, der den König verriet, ein eigener Abschnitt gewidmet, der Kaiserin Marie-Louise ein weiterer. Auch für sie bedeutete Napoleons Rückkehr eine Zerreißprobe: Marie-Louise verriet ihren Gatten. Benjamin Constant vertritt die Stelle des Ideenverräters. „Fünfundzwanzig Jahre Revolution haben mich gelehrt, mich über keinen Betrug und keine Absurdität aufzuregen“, hatte der lebenserfahrene liberale Denker geäußert. Die Erkenntnis hinderte ihn nicht daran, selbst zum Wendehals zu werden. Noch während Napoleon unterwegs nach Paris war, überhäufte Constant ihn öffentlich mit Abscheu und Empörung. Kaum war Napoleon in die Tuilerien eingezogen, erlag der Intellektuelle der Verführung der Macht.