Читать книгу Napoleons hundert Tage - Günter Müchler - Страница 11
Die Versuchung
ОглавлениеDie Macht zu erhalten, erfordert andere Voraussetzungen, als sie zu erobern. Mit Glück, Geschick und einer treffsicheren Propaganda hatte Napoleon sein waghalsiges Kommandounternehmen zum Erfolg geführt. Gegen ihn, den modernen, charismatischen Führer hatte Ludwig XVIII. keine Chance. Napoleon war wieder der stupor mundi, der Mann, der alle Welt in Erstaunen versetzt, weil ihm auch das für unmöglich Gehaltene gelingt. Aber wozu wollte er die Macht gebrauchen? Und wie wollte er sie festhalten?
Als Erster Konsul hatte er den Franzosen den inneren Frieden versprochen, und sie waren ihm willig gefolgt. Er hielt das Versprechen und sicherte dadurch die Macht, die er mit dem Brumaire-Putsch 1799 an sich gerissen hatte, für lange Zeit. Dem Staatsstreich vom 20. März 1815 fehlte ein vergleichbares Programm. Die Erwartungen an den Rückkehrer waren diffus. Gewiss, Napoleon bot sich an als Garant gegen die Arroganz des Adels und gegen den Rückfall in vorrevolutionäre Zustände. Damit entsprach er den Wünschen der Mehrheit. Aber die Franzosen wollten auch keinen Krieg mehr. Sie wollten nicht zurück zu den unaufhörlichen Aushebungen, die die letzte Strecke des Empire zu einer Drangsal gemacht hatten, und stattdessen die Vorzüge der lange entbehrten Normalität genießen. Trotzdem bejubelten sie einen Mann, der doch nichts als den Ausnahmezustand verhieß.
Napoleon spürte, dass er sich nicht einfach restaurieren konnte. „Ich kam als ein anderer zurück“, erklärte er später auf Sankt-Helena. Auch das Land war in den 300 Tagen seines ersten Exils ein anderes geworden. Auf dem Weg durch die Dauphiné und besonders in Lyon wurde Napoleon von den Hassausbrüchen gegen Adel und Klerus überrascht. Er bediente den wieder aufflammenden Jakobinismus mit Worten, und bis zum Ende der Hundert Tage blieb das linke Bündnis für den Kaiser eine Möglichkeit. Doch er konnte sich nicht entschließen, die „Stiefel von 1793“4 anzuziehen, und bevorzugte einen Pakt mit den Besitzenden. Er ließ eine Verfassung zu, den Acte additionnel, der eine entschieden liberale Handschrift trug. Indessen, der Versuch, sich neu zu erfinden, verwirrte mehr, als dass er ihm Zustimmung eingetragen hätte. Denn die Jakobinerpartei war enttäuscht, die Liberalen trauten Napoleon nicht, und die Presse, die sich nun nahezu ungehindert entfalten konnte, dankte dem Kaiser die neue Freiheit schlecht. Letztlich erwies sich die liberale Wende als kapitaler Fehler im Sinne einer falschen Schrittfolge. Den drohenden Krieg vor Augen hätte Frankreich jetzt noch einmal den „alten Napoleon“ gebraucht, den Alleinherrscher, der ohne konstitutionelle Fesseln das Land abwehrbereit machte.
Der Krieg war unausweichlich. Mag sein, dass sich Napoleon anfangs etwas vorgemacht hatte. Er war über die Krise, in die der Kongress von Wien durch den sächsisch-polnischen Konflikt geraten war, im Bilde. Bei der Abfahrt von Elba nahm er an, der Kongress habe sich aufgelöst und die Spitzen der ehemaligen Koalition seien auf dem Weg nach Hause. Er irrte sich. Wenn es irgendetwas gab, die europäischen Souveräne ihre Zwietracht vergessen zu machen, dann war es Napoleons Wiedererscheinen auf der Bühne. Keinen Moment zögerten Russland, Österreich, England und Preußen, Napoleon als „Feind und Störer der Ruhe der Welt“ zu ächten. Es half ihm nichts, dass er seine friedlichen Absichten beteuerte. Vier Armeen warfen die europäischen Großmächte ihm entgegen, jede 200.000 Mann stark. Rechtlich betrachtet, mischten sie sich in die inneren Angelegenheiten Frankreichs ein. Aber hatte Napoleon glauben können, man werde der Vertreibung Ludwigs XVIII. tatenlos zusehen? Man werde dulden, dass der revolutionäre Vulkan wieder Lava spuckte, dass Frankreich sich erneut zur Supermacht und er selbst sich wieder zum Oberkönig Europas erhob? Die Wiener Mächte waren entschlossen, eine Friedensordnung zu errichten, die auf dem Prinzip des Gleichgewichts beruhte und ein Wiederaufflammen der Revolution verhinderte. Der große Mann an der Spitze des ewig unruhigen Frankreich war mit dieser Zielsetzung unvereinbar.
Man hat die Hundert Tage „die Versuchung des Unmöglichen“ genannt.5 Sicher gab es eine Reihe von Faktoren, die auch anderen als Napoleon das Verbleiben auf der Insel unleidlich gemacht hätten. Vertragliche Zusagen wurden nicht eingehalten, Mordkomplotte geschmiedet. Allein, der tiefere Grund für das halsbrecherische Rückkehrunternehmen war letztlich nur in ihm selbst zu finden. Wie sollte er, der alle Grenzen gesprengt hatte, der von den Göttern auf den Olymp gehoben worden war, sich mit der Lächerlichkeit seiner momentanen Existenz zufriedengeben? Wie sollte er der Versuchung widerstehen, mit einem einzigen Befreiungsschlag, der an Kühnheit alles Gesehene in den Schatten stellte, seine Ausnahmestellung zu untermauern? Er musste herausbekommen, ob sein Stern ihn noch führte.
In der Kampagne von Belgien riskierte Napoleon noch einmal alles – und verspielte alles. Das Ungeschick einiger Armeeführer, unglückliche Zufälle und Fehler, die er selbst beging, führten die feindliche Koalition auf die Siegesstraße. Vielleicht hätte Napoleon die Schlacht in der morne plaine,6 der traurigen Ebene von Waterloo, für sich entscheiden können. Der Krieg jedoch war angesichts der überwältigenden Ressourcen der Gegner nicht zu gewinnen.