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Despot der Erinnerung

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Im Rechnungsbuch der Geschichte blieben die Hundert Tage also eine Episode, spektakulär, aber verzichtbar. Frankreich hatte nur Schaden davon: viele Tote, schmerzhafte Gebietsverluste, ein Besatzungsregime. Für den Hauptakteur hatten sie allerdings eine unvorhergesehene Folge. So paradox es klingt: Die Niederlage legte den Grundstein für den Napoleon-Kult, dessen sichtbarste Zeugen heute die vielen Straßen und Metro-Stationen in Paris sind, die die Namen der Großtaten des Empereur tragen. Ohne die „Invasion eines Landes durch einen Mann“, ohne Waterloo und ohne Sankt-Helena hätte der letzte Eintrag in Napoleons Curriculum vitae gelautet: Rentner auf Elba. Erst der kolossale Absturz gab dem Drama seiner Biografie die Vollendung. Aus einem Finale mit Pauken und Trompeten konnte die Legende erwachsen. An ihr webte Napoleon tatkräftig mit. Auf seinem Felsen-Eiland im Südatlantik führte er seinen allerletzten Kampf, den um den Nachruhm. Er diktierte den Gefährten des Exils sein Leben. Die Berichte, die daraus entstanden, waren natürlich geschönt; Schminke, auf die tiefen Scharten eines großen Lebens gelegt. Trotzdem wurden sie vom Publikum verschlungen. Die stärkste Wirkung erzielte das Mémorial de Sainte-Hélène des Grafen Las Cases, das zu einem Jahrhundert-Bestseller wurde.

Unabhängig davon entfaltete sich eine Volkslegende, in der, seltsam genug, Napoleon zum Rächer der Enterbten mutierte, zum Messias, dessen Wiederkommen in der Halluzination des „März-Fiebers“ beschworen wurde. Der Kaiser fuhr fort, Frankreich zu beschäftigen, nicht mehr mit seinen Taten, sondern durch die Bildnisse seiner Taten. Wie bezwingend das neue Leben war, das Napoleon nach seinem Tod 1821 begann, bezeugte der Seufzer Chateaubriands: „Nachdem wir unter der Despotie seiner Person gelitten haben, leiden wir jetzt unter der Despotie seiner Erinnerung. Lebend stieß ihn die Welt zurück, tot besitzt er sie.“

An der Verbreitung der Napoleon-Legende wirkten Frankreichs größte Schriftsteller mit. Balzac, Hugo, Dumas und Stendhal griffen dankbar den Stoff der Hundert Tage auf. Wie hätte es anders sein können? Es sind ja nicht die glatten Lebenswege, die in den Bann ziehen, und die Bahnen des ungeteilten Glücks nachzuverfolgen, ist ein Reiz, der rasch verfliegt. Nur dort, wo sich der Mensch prometheisch gegen das Höhere auflehnt, entsteht das große Epos. Anfang 1814 ist Napoleon politisch erledigt, ein Fall für das Vergessen. Aber dann greift er zum zweiten Mal nach den Sternen und versucht, das Urteil der Geschichte zu annullieren – um wieder zu scheitern. Letztlich ist es die Herausforderung der Sterblichkeit, die Napoleons Abenteuer der Hundert Tage so frivol erscheinen lässt und es zugleich so faszinierend macht.

1 Genau genommen waren es 94 Tage. Hier und da wird die Zeitspanne der Hundert Tage bis zum 8. Juli erweitert, dem Datum der Rückkehr Ludwigs XVIII. nach Paris. Das wären dann 110 Tage. Die Bezeichnung ist also in jedem Fall ungenau. Sie stammt übrigens von Chabrol de Volvic, dem Präfekten des Seine-Departements, einem Royalisten. Chabrol empfing den zurückkehrenden König mit den Worten: „Sire, hundert Tage sind seit dem fatalen Augenblick vergangen, in dem Eure Majestät genötigt war, sich auf die Anhänglichkeit der Wertvollsten zu stützen und die Hauptstadt inmitten von Tränen und öffentlichen Klagen zu verlassen.“

2 9./10. November 1799; mit dem Putsch wurde das Direktorium gestürzt. Die vollziehende Gewalt übernahmen drei Konsuln, neben Roger-Ducos und Sieyès Bonaparte, wie sich Napoleon damals noch nannte. Bereits am 24. Dezember wurde Napoleon zum Ersten Konsul ernannt.

3 In dem von Alexis Emery herausgegebenen Buch werden die handelnden Personen, deren Taten man kennt, mit Äußerungen konfrontiert, die man vielleicht schon vergessen hat, und auf diese Weise als Wetterhähne entlarvt.

4 Synonym für den revolutionären Volkskrieg.

5 Emmanuel de Waresquiel in seinem Buch „Cent Jours, la tentation de l’impossible“.

6 Nach dem Gedicht von Victor Hugo.

Napoleons hundert Tage

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